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Zum Politischen der Dramatik von Thomas Bernhard und Peter Handke

Neue Aufteilungen des Sinnlichen

von Christine Hegenbart (Autor:in)
©2017 Dissertation 376 Seiten

Zusammenfassung

Diese Studie untersucht systematisch die politische Dimension der Dramen von Thomas Bernhard und Peter Handke. Obgleich beide Autoren als Provokateure und Skandal-Inszenatoren gelten, deren öffentliche Auftritte wie Werke heftige Debatten auslösten, fehlt bisher eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der politischen Dimension. Die Autorin schließt diese Forschungslücke mit Hilfe der Theorie des französischen Philosophen Jacques Rancières. Davon ausgehend untersucht sie die politischen Strukturen in ausgewählten dramatischen Werken sowie die Positionierung der Texte in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Die politische Dimension österreichischer Dramatik nach 1965
  • 1.1 Thomas Bernhard und Peter Handke – Politische Dramatiker?
  • 1.2 Der Streit um politische Literatur und Theater
  • 1.3 Jacques Rancières Politikbegriff und die Aufteilung des Sinnlichen
  • 1.3.1 ‚Die Aufteilung des Sinnlichen‘ – Rancières Politikverständnis
  • 1.3.2 ‚Die Identifikationsregime der Kunst‘ – Rancières Kunstverständnis
  • 1.3.3 Politische Kunst bei Rancière
  • 1.3.4 Rancières Theorie als Methode der Text- und Kontextanalyse
  • 1.4 Vorgehensweise, Thesen und Ziele
  • 2. Neue Aufteilungen des Sinnlichen – Zum Politischen der Dramatik von Thomas Bernhard und Peter Handke
  • 2.1 Thomas Bernhard: Ein Fest für Boris
  • 2.1.1 Textanalyse (I): FigurenkonstellationÜberwältigung durch Sprache: die Macht der Guten
  • 2.1.2 Textanalyse (II): Sprechweise Ungleichheit wird in Sprache manifest
  • 2.1.3 Textanalyse (III): Räume Herrschaft der Guten über die räumliche Verteilung
  • 2.1.4 Zusammenfassung: Sprachlosigkeit verhindert Politik
  • 2.1.5 Kontextanalyse: Gegen die empfindsamen Nerven des Theaterpublikums
  • 2.2 Peter Handke: Kaspar
  • 2.2.1 Textanalyse (I): Figurenkonstellation: Kapitulation der sprechenden Einsager vor dem Lärm der Kaspars
  • 2.2.2 Textanalyse (II): Sprechweise Sieg der poetischen Sprache Kaspars
  • 2.2.3 Textanalyse (III): Räume und Tätigkeiten Die sprachlosen Kaspars erobern die Bühne
  • 2.2.4 Zusammenfassung: Lärm schafft Politik
  • 2.2.5 Kontextanalyse: Gegen das Theater als bürgerliche Institution
  • 2.3 Thomas Bernhard: Der Präsident
  • 2.3.1 Textanalyse (I): Figurenkonstellation Bedrohung der sprechenden Herrscher durch stumme Gewalt
  • 2.3.2 Textanalyse (II): Sprechweise Auflösen der Sprache durch die anarchistische Bedrohung
  • 2.3.3 Textanalyse (III): Tätigkeiten Gleichheit durch Gewaltaktionen
  • 2.3.4 Textanalyse (IV): Räume Machtverlust als Raumverlust des Präsidenten
  • 2.3.5 Zusammenfassung: Politik durch Gegengewalt
  • 2.3.6 Kontextanalyse: Das ‚neue‘ Theater wird bürgerlich
  • 2.4 Peter Handke: Über die Dörfer
  • 2.4.1 Textanalyse (I): Figurenkonstellation Keine Gleichheit trotz gleicher sprachlicher Anteilhaftigkeit
  • 2.4.2 Textanalyse (II): Sprechweise Sprache schafft Gleichheit und ermöglicht eine Gegenwelt
  • 2.4.3 Textanalyse (III): Räumliche Verteilung Bedrohung und Erstarrung der Heimat durch das Fremde
  • 2.4.4 Textanalyse (IV): Tätigkeiten Fremdbestimmte Arbeit verhindert Gleichheit
  • 2.4.5 Zusammenfassung: Politik durch Herbeisprechen der Veränderung
  • 2.4.6 Kontextanalyse: Das ‚alte Neue‘ mischt das konservative Theater auf
  • 2.5 Thomas Bernhard: Heldenplatz
  • 2.5.1 Textanalyse (I): FigurenkonstellationSprachmacht ohne Ordnungsmacht
  • 2.5.2 Textanalyse (II): Sprechweise Wortmächtige Sprache ohne Wirkungsmacht
  • 2.5.3 Textanalyse (III): Räume und Tätigkeiten Tat- und Ortlosigkeit durch Gegenwart der Vergangenheit
  • 2.5.4 Zusammenfassung: Sprachmächtige Handlungsohnmacht verhindert Politik
  • 2.5.5 Kontextanalyse: Vom Skandalstück zum populären Erfolgsstück
  • 2.6 Peter Handke: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg
  • 2.6.1 Textanalyse (I): Figurenkonstellation Fremde und Einheimische ringen um Deutungsmacht über den Krieg
  • 2.6.2 Textanalyse (II): Sprechweise Anteilhaftigkeit der Einheimischen durch poetische Sprache
  • 2.6.3 Textanalyse (III): Räume und Tätigkeiten Die Einheimischen eröffnen neue Räume für den Frieden
  • 2.6.4 Zusammenfassung: Politik durch die einheitsstiftende Fahrt im Einbaum
  • 2.6.5 Kontextanalyse: Die Polyphonie der Repräsentation wird Normalität
  • 3. Thomas Bernhard und Peter Handke – Politische Dramatiker mit Rancière!
  • 4. Epilog: Theater um Elfriede Jelineks Burgtheater
  • 5. Anhang
  • 5.1 Verzeichnis der Siglen
  • 5.2 Primärliteratur
  • 5.3 Sekundärliteratur
  • 5.4 Videos und Hörbeiträge
  • 5.5 Abbildungsverzeichnis
  • Danksagung

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1.  Die politische Dimension österreichischer Dramatik nach 1965

1.1  Thomas Bernhard und Peter Handke – Politische Dramatiker?

Für Elfriede Jelinek ist Thomas Bernhard (1931–1989) ein toter Gigant1, Peter Handke (*1942) ein lebender Klassiker2. Unbestritten gehören die beiden Österreicher zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Nicht nur ihre Romane und Erzählungen waren und sind überaus erfolgreich, sondern auch ihre Bühnenwerke. Beide begannen fast zeitgleich die Bühnenwerke zu verfassen, die den Grundstein ihrer Karrieren als Dramatiker legten.3 Seit Mitte der 60er-Jahre stand „die dramatische Literatur aus Österreich […] im Bann zweier Autoren, die […] den Literaturbetrieb dominierten“4. Ihre prägende Kraft hielt auch in den nachfolgenden Jahrzenten an, so dass sie zu den herausragendsten Dramatikern nicht nur in Österreich, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum gehören.5 Darüber hinaus genießen sie international breite Anerkennung.6 Die ← 9 | 10 → dramatischen Œuvres von Bernhard und Handke umfassen jeweils etwa 20 abendfüllende Theaterstücke.7

Gemeinsam ist den Schriftstellern nicht nur ihr Erfolg. Beide sind zudem seit ihren ersten Auftritten in der literarischen Szene ein öffentliches Ärgernis8. Im Laufe ihrer Karrieren verstärkten sie ihren Ruf als Provokateure und Skandal-Inszenatoren9: Sie polarisierten nicht nur durch ihre öffentlichen Auftritte, sondern auch durch ihre literarischen Werke. Diese lösten teilweise heftige Debatten über ihre politische Dimension und Intention aus. Insbesondere ihre Bühnenwerke konnten, im Vorfeld oder im Nachgang der Theaterinszenierung, Kontroversen über ihr politisches Potenzial entfalten.

Durch zwei Beispiele – Handkes Erstlingsdrama Publikumsbeschimpfung (1966) und Bernhards letztes Bühnenwerk Heldenplatz (1988), das später noch detailliert analysiert wird – lässt sich die Stoßrichtung dieser Diskussionen veranschaulichen: Handkes Schauspiel bezog seinen „politischen Impetus nicht aus konkreten Themen oder Inhalten, sondern aus dem Bruch mit vertrauten gesellschaftlichen Wahrnehmungsmustern und Erwartungshaltungen“10. Es ← 10 | 11 → wendet sich gegen die bürgerlichen Theaterkonventionen und die „Rezeptionsgewohnheiten der Theaterbesucher“11. Es wurde als Provokation und „derber Affront“12 gesehen, dessen politische Verortung kontrovers diskutiert wurde. Noch heftigere Diskussionen rief Bernhards Heldenplatz hervor. Das Stück hatte eine „in der Literaturgeschichte der 2. Republik wohl einmalige, provozierende Wirkung“13. Bernhards kritischer Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit, eingebettet in seine „Kunst der Übertreibung und Provokation“14, wurde zum (medien-)politischen Skandal. Derartige Theaterskandale, aber auch einfache öffentliche Erregungen sind wichtige „Indikatoren sozialer und politischer Prozesse und Zustände“15. Sie sind auch Ausdruck der politischen Dimension von Bühnenwerken.

Der besondere Reiz, die Stücke Bernhards und Handkes auf das Politische hin zu untersuchen, liegt darin, dass sie in ihrem literarischen Schaffen als Antipoden gelten16: Während Handkes Werk seit den 70er-Jahren „als Ganzes, sowohl formal als auch inhaltlich, […] als Suche nach ‚Zusammenhang‘ und Ordnung gekennzeichnet“17 ist, negiert dies Bernhard vollumfänglich. Er sieht seinen Schreibvorgang als „Zerfetzen und wieder Zusammenstellen.“18 Am Ende dieses ← 11 | 12 → Prozesses steht jedoch keine positive Ordnung. Analog lehnt Bernhard Handkes „Sprache der Positivität, der Bejahung, der Verkündigung“19 radikal ab.

Bernhards Werk liest sich [so insgesamt] wie eine einzige pessimistische Zurücknahme der Handkeschen Heilsbeschwörung. „Naturgemäß“ erscheint Natur bei Bernhard als das letzte, stichhaltige Versprechen, sie repräsentiert geradezu absolute Sinnlosigkeit. „Die Natur ist infam“: das [sic!] ist die lapidarste Version gleichlautender negativer Bestimmungen.20

Bei Handke hingegen ist Natur das Positive, Sinnstiftende,21 ein wichtiger „Existenz-Raum“ in dem das „Schöne und Gute“22 liegt.

Die vorliegende Arbeit nimmt mit Bernhard und Handke zwei Autoren in den Blick, deren Werk einerseits skandalträchtig und nicht nur hintergründig politisch ist und andererseits interessante Kontraste im Gestalterischen aufweist.23 Die zeitliche Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes ist durch den allgemein historischen sowie den literaturhistorischen Kontext bedingt. Er beginnt 1965, das heißt im letzten Jahr der großen Koalition zwischen der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ)24, die durch ein stark rückständiges kulturelles Klima geprägt ist. In der Folge wechseln Phasen der politischen und kulturellen Modernisierung und Phasen der ← 12 | 13 → Restauration. 1999 endet der Untersuchungszeitraum mit einer politischen Wende: Die rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) wird als zweitstärkste Kraft nach der SPÖ ins österreichische Parlament gewählt und bildet unter Führung der ÖVP eine Koalition. Zeitgleich endet im kulturpolitischen Bereich eine Ära: Der bedeutende Burgtheaterdirektor Claus Peymann verlässt nach 13 Jahren Wien. Peymann war sowohl für Bernhard als auch für Handke von Anfang an der wichtigste Regisseur. Er inszenierte nicht nur deren erste abendfüllende Stücke, sondern insgesamt 14 Uraufführungen Bernhards25 und über zehn von Handke.26

In diesem Untersuchungszeitraum von fast 35 Jahren, beginnend mit der ausgehenden „Frühphase der Zweiten Republik“27, lässt sich beispielhaft und facettenreich die Entwicklung der politischen Dimension im österreichischen Theater aufzeigen.

Literaturtheoretische Positionierung

Bernhard und Handke verstehen sich selbst jedoch nicht als politische Autoren – weder im engeren noch im weiteren Sinne. Bezeichnend hierfür ist Handkes Aussage in einem Interview mit André Heller: „Das ist heute so eine blöde Mode, zu sagen, das ist politisch und das ist privat. Die Literatur, die ich mache, kann man nicht als explizit politisch bezeichnen.“28 Diese Positionierung bringt Handke schon zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere in seinen theoretischen Schriften Literatur ist romantisch (1966) und Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967) zum Ausdruck. Darin grenzt er sich strikt gegen Strömungen der Zeit ab, die Literatur politisierten. Er distanziert sich klar von der Forderung ← 13 | 14 → nach Engagement in der Kunst, so wie er sie bei Jean-Paul Sartre29 formuliert und im deutschsprachigen Raum rezipiert sah. Insbesondere Sprache und Form, für Handke die entscheidenden Elemente von Literatur, werden bei dieser Begriffsbestimmung vernachlässigt, so seine Einschätzung.30 Schließlich stellt Handke klar, dass er nicht an die Existenz engagierter Schriftsteller glaube und fügt hinzu: „Ein engagierter Autor kann ich nicht sein, weil ich keine politische Alternative weiß zu dem, was ist, hier und woanders“31. Trotz der Engagementkritik bestreitet Handke nicht die gesellschaftskritische Funktion von Literatur. Er spricht ihr sogar ein Veränderungs- und Erkenntnispotenzial zu, welches für ihn in den bereits genannten wichtigen Elementen Sprache und Form liegt.32

Sein Selbstverständnis als unpolitischer, aber nicht unkritischer Autor entwickelt Handke in Texten wie seiner Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1973) oder zur Verleihung des Kafka-Preises (1979) weiter. Handke bekennt sich zunächst zur „begriffsauflösenden und damit zukunftsträchtigen Kraft des poetischen Denkens“33 und beruft sich in der Folge „auf eine erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit; ja, auf Klassisches, Universales, das […] erst in der steten Natur-Betrachtung und -Versenkung Form gewinnt.“34 Im weiteren Verlauf seiner Schriftstellerkarriere sind die hier schlaglichtartig dargestellten literaturtheoretischen Positionen nicht mehr so eindeutig zu belegen. Aussagen in Interviews sind widersprüchlich. Eine Grundtendenz ist jedoch auszumachen: Sprache und Form sind weiter von fundamentaler ← 14 | 15 → Bedeutung. Dieses Verständnis behält Handke auch bei, als er in seinen Texten über die Jugoslawienkriege in den 90er-Jahren ein politisches Thema aufgreift. Dabei bekennt er sich dazu, dass politische Relevanz integraler Bestandteil der Kunst sei, doch als solcher nicht über, sondern neben vielen anderen stehe.35

Im Gegensatz zu Handke positioniert sich Bernhard literaturtheoretisch weniger klar. Bernhard Sorg stellt fest, dass Bernhard „keine explizite Programmatik [formuliert hat], von der aus sich ein Rollenverständnis als Verständnis seiner Positionen innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaft bestimmen ließe.“36 Ebenso wenig gibt es Texte, in denen er die politische bzw. unpolitische Intention seines literarischen Schaffens darlegt. Aus seinen öffentlichen Äußerungen, wie Reden und Interviews, ergibt sich ein unscharfes und teils widersprüchliches Bild. Die folgende Zusammenstellung kann – auch aufgrund des großen expositorischen Werkes Bernhards – nur kursorisch und selektiv sein.37

In einem seiner frühen journalistischen Texte sieht Bernhard enge Verbindungen zwischen Politik und Kultur: Für ihn ist „die Kultur von jeher der Spiegel der Politik und die Politik der Spiegel der Kultur“38, so dass in der Folge „Politik Kultur und Kultur Politik ist“39. Er spricht so den kulturschaffenden Künstlern eine Macht bzw. Wirkmächtigkeit zu, die vergleichbar mit der von Politikern ist. Das folgende Zitat über Bernhards Kunstverständnis fügt sich gut in dieses Bild: „Kunst heißt überreden, überzeugen, nicht nur einfach etwas bezeugen.“40 Andererseits spricht er der literarischen Kunst jede Wirkmächtigkeit ab: „Sie können gar nichts bewirken und verändern, […] die Welt geht ihren Weg, […] also was ← 15 | 16 → sollen sie verändern wollen? Sie können Eindrücke aufschreiben, die sie haben, da gibt es Zukunftsvisionen.“41

Diesen Widersprüchen zum Trotz, gibt es eine Konstante in Bernhards Werk, der eine politische Komponente nicht abzusprechen ist: Der Autor bekennt sich zu einer „echte[n] Haßliebe zu Österreich“42. Diese Thematik durchzieht fast all seine literarischen und nichtliterarischen Schriften.43 Sie befeuert die politische Wirkung seiner Werke und trug maßgeblich zur zweifellos intendierten Provokation bei.44

Unabhängig von ihrer eigenen Positionierung haben Thomas Bernhard und Peter Handke das Politische in ihrem dramatischen Werk auf vielfältige Weise angelegt. Die vorliegende Arbeit verfolgt keinen literaturtheoretischen Ansatz, allerdings werden die Theatertexte mit Blick auf die von ihnen angelegten politischen Strukturen untersucht und die politische Brisanz im zeitgenössischen Kontext verortet.

1.2  Der Streit um politische Literatur und Theater

Um der politischen Dimension von Peter Handkes und Thomas Bernhards Dramatik auf die Spur zu kommen, ist es notwendig, vorab einen intensiven Blick auf den Sammelbegriff der politischen Literatur zu werfen.45 Der Begriff politische Literatur ist in der Literaturwissenschaft eine äußerst umstrittene Kategorie, „weil dabei Grundfragen des Literaturbegriffs und Probleme der literarischen Wertung ← 16 | 17 → berührt werden.“46 Zudem hängt die Bestimmung des Begriffs grundlegend davon ab, wie das Attribut ‚politisch‘ definiert wird. Lange war die literaturwissenschaftliche Forschung in diesem Themenfeld durch die persönlichen politischen Vorstellungen der Wissenschaftler und deren ideologische Auseinandersetzungen geprägt.47 Aufgrund dieses Streits umschreibt der Literaturbrockhaus politische Dichtung populärwissenschaftlich als „fragwürdige[n] Sammelbegriff“48.

In der literaturwissenschaftlichen Diskussion und in den einschlägigen Lexika finden sich die verschiedensten Auslegungen des Begriffs der politischen Literatur. In der Zusammenschau lassen sich drei unterschiedliche Definitionsarten identifizieren:

Die erste fasst den Begriff sehr weit: Demzufolge ist fast jede Art der Dichtung „‚politisch‘, insofern sie sich in ein Verhältnis zur politischen und gesellschaftlichen Ordnung bringen läßt.“49 Der Gesellschaftsbezug bildet hier die Grundlage für politische Literatur, so dass auch literarische Werke ohne konkret politische Inhalte politisch sein können. Folgt man dieser Definition, ist Literatur unabhängig von ihrem Inhalt oder der Wirkungsabsicht des Autors politisch, denn sie gibt – bewusst oder unbewusst – einen Kommentar zur gesellschaftlichen Entwicklung ab.50 Davon ausgenommen werden m. E.51 literarische Werke, wenn ihre Gesamtkonzeption „auf ein rein ästhetisches Interesse, auf ‚auratische‘ ← 17 | 18 → Rezeption“52 angelegt ist. Von der Literatur werden „alle Zumutungen und Interessen des Politischen ausgeschlossen“53.

In der zweiten, enger gefassten Auslegung umfasst der Begriff nur noch Werke, die die „Absicht direkter politisch-ideologischer Beeinflussung [von] meist innenpolitische[n] Probleme[n] um Macht- und Herrschaftsverhältnisse“54 verfolgen. Thematisiert werden beispielsweise „Staats- und Regierungsangelegenheiten, die Ordnung eines ‚Gemeinwesens‘, Macht- und Herrschaftsverhältnisse einer Gesellschaft“55 oder auch „Kolonialismus, Patriotismus, soziale Spannungen“56. Gemäß dieser Definition ist ein literarisches Werk dann politisch, wenn es bestimmte Kriterien, vor allem in Bezug auf den Inhalt und die Wirkabsicht, erfüllt. Um politisch zu wirken, muss der Autor geradezu die Intention haben, „politisch etwas in Gang zu setzen“57.

In der dritten Auslegung wird Literatur als per se unpolitisch gesehen: Diese Definition entspringt dem Verständnis, dass politische Dichtung die bestehenden Verhältnisse nicht verbessern kann. Damit sei sie politisch unwirksam und folglich nicht als politisch zu bezeichnen.58

Die genannten definitorischen Unterscheidungen lassen sich von politischer Literatur auch auf politisches Theater übertragen.59 Aufgrund der spezifischen ← 18 | 19 → Präsentation und Rezeption von literarischen Bühnenwerken im Theater lässt sich jedoch noch eine vierte Definition hinzufügen: „Theater wird als grundsätzlich politisch angesehen, da Aufführungen öffentliche Veranstaltungen darstellen, in denen zwei Gruppen von Menschen – Akteure und Zuschauer – aufeinandertreffen und ihre Beziehung aushandeln.“60

Betrachtet man die Argumentation der Definitionen, stellt man fest, dass den vier Varianten unterschiedliche Grundverständnisse von Literatur und insbesondere deren Wirkungsweise bzw. -absicht zugrunde liegen. Alle vier Auslegungen beruhen auf wissenschaftlich nicht be- oder widerlegbaren Setzungen. Dies hat zur Folge, dass der Streit um politische Literatur und politisches Theater nicht entschieden werden kann. Die Begriffsbestimmung wird so auch zukünftig mehrdeutig und unscharf bleiben.

Angesichts derartiger definitorischer Schwierigkeiten scheint es zielführend, die politische Dimension des Theaters dort zu suchen, wo sich die Felder der Politik und der Kunst ohnehin überlagern. Der wichtigste Schnittpunkt ist das Theater als Institution: Das Theater ist die „öffentlichste aller Künste“61. Der Theaterabend ist ein Gemeinschaftsereignis, das in besonderer Weise „in die Kämpfe um Festschreibung einer staatlichen Identität“62 verwickelt ist. Insgesamt war ← 19 | 20 → und ist Theater „Objekt der Politik, so wie Politik das Objekt des Theaters war und ist“63. Und dies gilt in besonderem Maße in Österreich.

Politisches Theater in Österreich

Theater und Theaterbesuche hatten in den vergangenen Jahrhunderten einen zentralen Stellenwert in der österreichischen Gesellschaft. „Wäre das Theater nicht erfunden worden, die Österreicher erfänden es“64, so bringt der ehemalige Burgtheaterdirektor Heinrich Laube (1849–1867) die große Bedeutung auf den Punkt. Etwa 125 Jahre später fasst es einer seiner Nachfolger, Claus Peymann (1986–1999), ebenfalls pointiert: „Die Österreicher haben einen Theaterknall.“65

Dabei ist die „Beziehung zwischen Staat und Kunst […] in Österreich sichtbarer, intensiver als in vielen europäischen Ländern“66. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung liegt im Jahr 1776, als Kaiser Joseph II. das „Theater nächst der Burg“67 zum Hof- und Nationaltheater erhob. Es wurde daraufhin zum Symbol für „die Koalition von Kultur und Staat“68 und zu einer der Grundfesten des österreichischen Nationalstolzes.69 Insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges70 wurde es instrumentalisiert, um die Frage nach der persönlichen ← 20 | 21 → und nationalen Identität in der Zweiten Republik zu beantworten.71 Das heutige Burgtheater trägt im Grunde noch immer diesen Geist in sich und steht so beispielhaft für Österreichs Bühnen.72 „Eine kulturelle Marginalisierung des Theaters, wie sie sich am Ende des 20. Jahrhunderts in einigen Ländern abzuzeichnen scheint, ist in Österreich kaum vorstellbar.“73 Dies belegen auch die Besucherstatistiken.74 Zudem ist das Theater in der Diskussion der breiten Öffentlichkeit – sei es um skandalträchtige Stücke oder um einen möglichen neuen Burgtheaterdirektor – sehr präsent.

Diese enge Beziehung hat auch einen finanziellen Aspekt: Das Burgtheater wird ebenso wie viele andere Theater nicht nur vom Kartenverkauf getragen. Es wird durch staatliche Mittel und damit von der Allgemeinheit stark subventioniert. Der Ursprung des Theaters als Institution der Gemeinschaft wird hier neu begründet. Durch die finanzielle Abhängigkeit sowie durch den Druck von Politik und Gesellschaft ist das Theater per se in gewisser Weise dem staatlichen Gemeinwesen verpflichtet. Dies hat natürlich Auswirkungen auf die dramatische Kunst, die auf den österreichischen Bühnen gespielt wird.

Aufgrund des traditionellen Zentralismus ist das Wiener Burgtheater der wichtigste Referenzpunkt. Nur in den Sommermonaten stellen die Salzburger Festspiele einen Gegenpol dar. Beide Theaterinstitutionen haben repräsentative Zwecke – nicht nur nach innen, also national, sondern auch nach außen, also international.75 Hier zeigt sich: Staatstheater sind mehr als nur Aufführungsstätten. ← 21 | 22 →

Die Theorie von Jacques Rancière bietet einen interessanten Anhaltspunkt, um das Politische in der österreichischen Dramatik zu verorten: Für den Theoretiker liegt das Politische der Dramatik in der Dramatik selbst76, das heißt in der Schnittmenge, die es ohnehin zwischen Politik und Kunst gibt. Diese liegt in der eben beschriebenen identitäts- und gemeinschaftsstiftenden sowie systemstabilisierenden Funktion des Theaters in Österreich.

1.3  Jacques Rancières Politikbegriff und die Aufteilung des Sinnlichen

Der Theoretiker Jacques Rancière ist im französischsprachigen Raum schon längere Zeit eine bekannte Größe. Durch die Übersetzungen seiner Werke in die deutsche sowie englische Sprache hat er auch in diesen Sprachräumen große Aufmerksamkeit erlangt. Mittlerweile gehört er zu den international meistdiskutierten politischen Philosophen der Gegenwart und wird unter anderem in einem Atemzug mit Jacques Derrida und Gilles Deleuze genannt.77 Die Arbeiten von Rancière haben drei Themenschwerpunkte: Ästhetik, Politik und Pädagogik; dabei untersucht er die Wechselbeziehungen dieser drei Bereiche.78 „Die Kunstwelt greift Rancières Konzepte auf“79 – vor allem in den Literatur- und Filmwissenschaften, der Ästhetik und der politischen Philosophie befasst sich eine Vielzahl von Neuerscheinungen mit den Theorien des 1940 geborenen Philosophen. ← 22 | 23 →

Besonders in den Texten Das Unvernehmen80 (frz. 1995, dt. 2002) und Die Aufteilung des Sinnlichen81 (frz. 2000, dt. 2006) sowie dem Essay Politik der Literatur82 (frz. 2007, dt. 2008) und dem Vortrag Ist Kunst widerständig?83 (frz. Vortrag 2004, dt. 2008) beschäftigt sich Rancière mit dem Verhältnis zwischen Politik, Kunst und Literatur. Diese Werke sind daher von grundlegender Bedeutung für die vorliegende Arbeit.

Was die Theorien Rancières auszeichnet, ist, dass der Philosoph sich nicht am kanonisierten Verständnis politischer Literatur orientiert, sondern versucht, „sich von der überkommenen Beschreibung von politischer Literatur frei zu machen“84. Dies kommt dem Konzept dieser Arbeit entgegen, da der Rekurs auf die vorhandenen Debatten und Streitigkeiten um die Definition von politischer Literatur nicht fruchtbar auszuwerten ist. Rancière verzichtet einerseits auf eine Politikdefinition, die eng mit einem Diskurs von Macht und Herrschaft verbunden ist (PdL 13).85 Andererseits geht Rancière nicht von der sonst oft vorherrschenden Überzeugung aus, es bestehe ein Gegensatz zwischen Kultur bzw. Literatur und Politik.86 Er ordnet die Bereiche nicht unterschiedlichen Sphären zu.87 In Politik der Literatur vertritt er vielmehr die Meinung, dass „das Politische ← 23 | 24 → der Literatur in der Literatur selbst [zu] verorte[n]“88 sei. Literarische Texte produzieren und reproduzieren für ihn das Feld des Politischen mit.89

Für Rancière sind „Kunst und Politik [somit] […] keine feststehenden voneinander getrennten Wirklichkeiten, sondern zwei Formen der ‚Aufteilung des Sinnlichen‘, die von einem bestimmten Regime der Identifizierung abhängen.“90

Im Folgenden werden die beiden eben angesprochenen zentralen Theoreme Rancières, also die ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ und die ‚Identifikationsregime‘, näher erläutert. Sie sind für Rancières Politik- und Kunstverständnis und daher auch für das theoretische Fundament der vorliegenden Arbeit grundlegend. Ein Überblick über die wichtigsten Begriffe Rancières soll es ermöglichen, sich im umfangreichen und komplexen Universum von Rancières Philosophie zurechtzufinden. Das Konzept der ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ wird dabei herangezogen, um Rancières Politikverständnis zu veranschaulichen; das Konzept der ‚Identifikationsregime‘, um sein Kunstverständnis zu illustrieren.91 Anschließend werden die Anwendung der Theoreme auf die dramatischen Werke von Thomas Bernhard und Peter Handke diskutiert und die zentralen Analysefragen formuliert.

1.3.1  ‚Die Aufteilung des Sinnlichen‘ – Rancières Politikverständnis

In Rancières Konzept der ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ wird – verkürzt zusammengefasst – festgelegt, wer am Gemeinsamen teilhaben kann und wer nicht. Es bezeichnet die „Art und Weise, wie unsere Wahrnehmung im gemeinschaftlichen Raum von einer etablierten Ordnung bestimmt wird“92. Unter ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ ist ein System von Normen zu verstehen, das „implizit ← 24 | 25 → die Wahrnehmung der gemeinschaftlichen Welt bestimm[t]“93 und „die gemeinsame[n] Erfahrung[en] strukturier[t].“ (IKw 38)

Mit dem Konzept der Aufteilung des Sinnlichen kann Rancières Politikverständnis gut veranschaulicht werden. Rancière geht es um ein Verteilungsprinzip: Wer kann und darf auf welche Weise am politischen Prozess teilhaben? Wer bleibt auf unabsehbare Zeit davon ausgeschlossen? Zum besseren und vertieften Verständnis ist ein Blick auf die theoretische Fundierung der Aufteilung des Sinnlichen hilfreich, die Rancière von Platon und Aristoteles entlehnt, nicht ohne deren Positionen zu problematisieren.

Aristoteles hat in seinem Werk Politik dargelegt, dass die Menschen politische Wesen sind. Sie sind sozial und ihr Leben ist auf Gemeinschaft ausgelegt.94 Was den Menschen gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet, ist, dass er über eine „beschlussfassende Sprache“ (PdL 14) verfügt: Der Mensch kann erst durch seine Sprache zwischen Gutem und Schlechtem, Nützlichem und Unnützem sowie Gerechtem und Ungerechtem unterscheiden.95 Die Sprache weist dem Körper einen Platz in der symbolischen und der tatsächlichen Ordnung zu (vgl. U 37ff.). „Der Besitz des Logos ist demnach eine politische Bestimmung.“96 In der Sprachfähigkeit liegt das Fundament, das die Polis, das heißt das gerechte Gemeinwesen, begründet.

Doch ist es nicht nur der grundsätzliche Unterschied zwischen Sprache und Lärm, der die Fähigkeit des Menschen zur Politik konstituiert, sondern

die Frage ist gerade, wer befähigt ist, darüber zu urteilen, was eine beschlussfassende Sprache […] ist. In gewisser Weise ist jede politische Aktivität ein Konflikt, in dem es darum geht, darüber zu entscheiden, was Sprache und was Schrei ist, darum also, die sinnlichen Grenzen zu ziehen, durch die sich die politische Befähigung beweist. (PdL 14)

Der Begriff ‚Logos‘ ist daher für Rancière zentral. Er umfasst beides, die Sprache und die Zählung. Auf dieser „Zweiheit des Logos“ (U 55) beruht wiederum die Logik der Politik. Der Aspekt der Zählung ist für die Entstehung von Politik bedeutend. Er ist die Grundlage der Aufteilung der Gesellschaft. Dabei unterscheidet Rancière zwei Arten der Zählung: Die erste bezieht sich nur auf die sichtbaren Teile der Gemeinschaft, die eine Stimme haben; die zweite umfasst darüber ← 25 | 26 → hinaus diejenigen, die keine Stimme haben, also eigentlich nicht zählbar und somit unsichtbar sind. Darum besteht immer eine Differenz zwischen den offiziell gezählten Teilen der Gemeinschaft, die mit einer Stimme ausgestattet sind, und ihren wirklichen Teilen, die eigentlich als Sprachlose keinen Anteil haben, also anteillos sind (vgl. U 55).97 Mit Blick auf die besondere Bedeutung von Sprache und Zählung wird das Politikverständnis Rancières klarer: „Die Politik ist also zunächst die Verhandlung über das, was sinnlich gegeben ist, über das, was sichtbar ist, über die Art, in der es sagbar ist und darüber, wer es sagen kann. Dies richtet eine Verteilung des Sichtbaren, Sagbaren und Machbaren ein“ (IKw 38).

Zieht man nun auch Platons Der Staat heran, um Rancières Politikverständnis zu beleuchten, stellt man fest, dass der Begriff der Verteilung noch mehr umfasst. In Platons Werk wird eine starre hierarchische Ordnung von Bauern, Bürgern bzw. Handwerkern, Kriegern und Wächtern vorgestellt, in der jedem eine feste Funktion in der Gemeinschaft zugewiesen ist. Diese bezeichnet Rancière als „roheste Fassung“98 der Aufteilung des Sinnlichen. Entscheidend ist, dass jeder nur eine Tätigkeit bzw. Aufgabe – eine der ‚Künste‘– angemessen ausüben kann99, und zwar „gemäß seiner Veranlagung […] ohne sich mit den übrigen Dingen zu beschäftigen.“100 So hat zum Beispiel ein Handwerker nur die Zeit, seiner Arbeit nachzugehen, jedoch nicht zusätzlich noch für politische Aktivitäten. Für Rancière beginnt die Politik eben dann, wenn es zu einem Bruch mit dieser Verteilung der Kompetenzen kommt und dadurch zu einer „Neuverteilung der Räume und Zeiten, dieser Plätze und Identitäten, der Sprache und des Lärms, des Sichtbaren und des Unsichtbaren“ (PdL 14). Und genau hier liegt für Rancière das Politische der ‚Aufteilung des Sinnlichen‘.

Die Aufteilung der Räume, Zeiten, Tätigkeiten ist […] ein politischer Akt, weil er Zugehörigkeiten definiert, Zugangsbedingungen festlegt und damit unausweichlich soziale Ein- und Ausschlüsse produziert bzw. dasjenige am Sozialen bezeichnet, was noch vor jeder institutionalisierten Politik ihre irreduzible politische Dimension bezeichnet.101 ← 26 | 27 →

Durch die Aufteilung des Sinnlichen wird die „politische und soziale Ordnung konstituiert“102. „Das Wort ‚Aufteilung‘ ist dabei im doppelten Sinn des Wortes zu verstehen: auf der einen Seite als das, was trennt und ausschließt; auf der anderen Seite als das, was teilnehmen läßt.“103

Polizei und Politik

Zuständig für beide Seiten der eben beschriebenen Aufteilung des Sinnlichen sind Polizei und Politik, die Rancière wie folgt darstellt:

Allgemein benennt man mit dem Namen der Politik die Gesamtheit der Vorgänge, durch welche sich die Vereinigung und die Übereinstimmung der Gemeinschaften, die Organisation der Mächte, die Verteilung der Plätze und Funktionen und das System der Legitimierung dieser Verteilung vollziehen. Ich schlage vor, dieser Verteilung einen anderen Namen zu geben. Ich schlage vor, sie Polizei zu nennen. (U 29)

Was also im Allgemeinen selbstverständlich als Politik bezeichnet wird, ersetzt Rancière durch den Begriff der Polizei. Hier wird offensichtlich, dass Rancière den Polizeibegriff umdeutet und neu definiert. Das Konzept der Polizei bei Rancière ist nicht mit dem Begriff des ‚Staatsapparats‘ oder der ‚exekutiven Kraft des Staates‘ gleichzusetzen, die sich als Institution um die Einhaltung von Disziplin bzw. um die „‚Disziplinierung‘ der Körper“104 kümmert. Dadurch grenzt Rancière seinen Polizeibegriff von dem ab, den Foucault in Überwachen und Strafen und in Geschichte der Gouvernmentalität mit Blick auf die „Verstaatlichung der Disziplinierungsmechanismen“105 entwickelt. Vielmehr zieht er als zentralen Referenzpunkt Platons Polizeibegriff aus Der Staat heran.106 Mit Polizei meint er die „allgemeinere[…] Ordnung […], die auf die richtige Anordnung der Körper der Gemeinschaft abzielt“107, die weiter oben kurz beschrieben wurde. Die Polizei ist es aber, die die Aufteilung des Sinnlichen als ein „allgemein inbegriffene[s] Gesetz“108 interpretiert und zugleich selbst als „symbolische Konstruktion des ← 27 | 28 → Sozialen“109 fungiert. In Das Unvernehmen beschreibt Rancière die Polizei als reguläre Aufteilung des Sinnlichen:

Die Polizei ist somit zuerst eine Ordnung der Körper, die die Aufteilung unter den Weisen des Machens, den Weisen des Seins und den Weisen des Sagens bestimmt, die dafür zuständig ist, dass diese Körper durch ihre Namen diesem Platz und jener Aufgabe zugewiesen sind; sie ist eine Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist (U 41).

Details

Seiten
376
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631718865
ISBN (ePUB)
9783631718872
ISBN (MOBI)
9783631718889
ISBN (Hardcover)
9783631718988
DOI
10.3726/b10901
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Februar)
Schlagworte
Österreichisches Theater Österreichische Literaturgeschichte Skandal Burgtheater Salzburger Festspiele Politisches Theater
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 376 S., 3 s/w Abb.

Biographische Angaben

Christine Hegenbart (Autor:in)

Christine Hegenbart studierte in München und Wien Germanistik, Geschichte sowie Psychologie und wurde im Fach Neuere deutsche Literatur promoviert. Sie war im Bereich der Politikberatung einer politischen Stiftung tätig und wirkt als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag.

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Titel: Zum Politischen der Dramatik von Thomas Bernhard und Peter Handke
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378 Seiten