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Über Rede in Vers und Prosa

Die Funktion der Formensprache im Roman Doktor Shiwago

von Ulrich Steltner (Autor:in)
©2017 Monographie 200 Seiten
Reihe: SLOVO, Band 1

Zusammenfassung

«Doktor Shiwago», der Roman des Lyrikers Boris Leonidowitsch Pasternak, geriet 1958 in ein Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik, das seine Rezeption bis heute prägt. Diese Studie geht, mit dem Ziel der Objektivierung, von einem Form-Funktions-Gefüge aus. Sie analysiert die Formensprache sowohl des Prosateils als auch der Verse des Schlusskapitels, um die Funktion beider Redeformen für das Romanganze zu bestimmen. Ebenso berücksichtigt der Autor den Unterschied zwischen Textschema und kontextuellen Konkretisationen, seien es Urteile der Zeit oder historisch wandelbare Gattungsmerkmale, die das Textverständnis lenken. «Doktor Shiwago» ist ein Experimentalroman, in dem «Chaos» und «Ordnung», «Leben» und «Kunst» sowie «Prosa» und «Vers» einander metafiktional gegenübergestellt beziehungsweise miteinander verbunden werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einführung
  • 2. Pasternaks Bemühen um die narrative Prosa
  • Kunst und Geschichte
  • Gedankliche Vorbilder
  • Der Wert der Lyrik
  • Einfachheit und Klarheit
  • 3. Die Prosa des Doktor Shiwago
  • Die Narration
  • Figuren, Erzähler, Autor
  • Themen und Motive
  • 4. Doktor Shiwago im Urteil der Zeit
  • Das Politikum
  • Das ästhetische Problem
  • 5. Doktor Shiwago und die Romankunst des 20ten Jahrhunderts
  • Der realistische Roman
  • Symbolismus
  • Doktor Shiwago in Hinblick auf Henri Bergsons Zeit-Auffassung
  • Spiegelungen, Doppelroman, Selbstreferenzialität
  • Übermensch, Neuer Mensch, positiver Held
  • 6. Die Funktionalisierung des 17. Kapitels
  • Der Zyklus
  • Variabilität und Artifizialität
  • Der Vorgang: Narration, Pointe und Moral
  • „Lyrisches Ich“ und dargestellte Welt
  • Prosarede, Versrede und das funktionelle Ganze des Romans
  • 7. Schlussbetrachtung
  • Anhang: Die Gedichte des Jurij Živago in deutscher Übersetzung
  • Literaturverzeichnis
  • Namenverzeichnis (ohne Pasternak, Boris)
  • Reihenübersicht

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1.   Einführung

Das Leben hörte auf, eine poetische Bagatelle zu sein, und begann, wie ein schroffes und finsteres Märchen zu gären in dem Maße, wie es Prosa wurde und sich in eine Tatsache verwandelte.

Shenja Lüvers’ Kindheit

Boris Pasternaks 1958 erschienener und per Nobelpreis geadelter Roman Doktor Shiwago1 hat sich offenbar zu einem Roman für Literaturwissenschaftler entwickelt, wenn man den Umfang der Sekundärliteratur ermisst. Das Echo der Leser seinerzeit war dagegen zwiespältig, einerseits die gesteigerte Aufmerksamkeit für eine politische Sensation, andererseits das Desinteresse am Roman selbst:

In any case Pasternak, the man of the news, the target of all foreign correspondents and photographers in Russia, figured so frequently in the headlines of dailies and weeklies, that thousands bought his book in obedience to the herd instinct, with no intention of reading it, while other thousends opened it in the hope of finding some sensational attacks on the Soviet regime. (Slonim 1959, 214)

Erst die Verfilmung machte Doktor Shiwago in dem Sinne populär,2 dass nun wenigstens die Handlungsträger und bestimmte Handlungsmomente wahrgenommen wurden. Gelesen hatten ihn tatsächlich wohl die wenigsten. Auch die Kritiker hatten Probleme mit einem Roman, der in einem lyrischen Kapitel endet,3 der auch ohne diesen Gedichtteil hybride Züge aufweist und der in keiner Schublade unterzubringen ist. ← 11 | 12 →

Diese Sperrigkeit des Romans den Rezipienten gegenüber könnte als Zeichen für Modernität verstanden werden. Der Roman fordert quasi heraus, sein Geheimnis aufzudecken und sein Rätsel zu lösen. Ein Geheimnis kann man wohl unterstellen, v.a. sofern das letzte Kapitel, die Sammlung der Gedichte, nicht einfach als Beigabe aufgefasst wird, wie es z.B. in den Verfilmungen fast notwendig der Fall gewesen ist. Die neuere Sekundärliteratur bemüht sich gerade um dieses Geheimnis, indem sie immer andere verborgene innere Korrespondenzen per Dekonstruktion zusammenstellt.4 Jedenfalls lässt sich schließen, dass der Roman auf dieser abstrakten Beschreibungsebene ein ‚modern(istisch)es‘ oder gar postmodernes Aussehen hat, ganz gegen die immer wieder geäußerte Meinung, vor allem der zeitgenössischen Kritik, er sei altmodisch-realistisch und nutze das Muster russischer Romane der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, möchte ich einen anderen Weg gehen, als beispielsweise den Roman unter einem bestimmten Prinzip zu de­konstruieren. Ich möchte die innere Konsequenz des Doktor Shiwago aufdecken, besser gesagt: eine mögliche innere Konsequenz, die sich aus der augenfälligen Teilung in zwei Redeformen, nämlich Vers und Prosa, sowie den damit konventionell verbundenen Gattungsmustern Gedicht und Roman ergibt. Das me­taphorisch so bezeichnete ‚Geheimnis‘ entsteht offenbar doch zuerst aus dem ins Auge fallenden Paradoxon eines insgesamt Roman genannten Großtextes, der sozusagen einen (anderen) „Roman“ und eine Gedichtsammlung enthält. Es geht mir keinesfalls um eine texthermeneutische Interpretation des Romanganzen, sondern es geht um die Konsequenz einer Struktur, die selbstverständlich am Ende auch eine Bedeutung hat oder der ein Sinn zugewiesen werden kann.

Dabei ist die Frage nach der Ästhetik nicht unerheblich; denn Doktor Shiwago hat eine Funktion innerhalb des Bereichs der Wortkunst, der Schönen Literatur. So beinhaltet „altmodisch-realistisch“ ein Werturteil, das auf Kontextualisierung beruht. Ein Gleiches gilt für das Epitheton „modernistisch“ und andere mögliche Urteile. Es kommt also darauf an, den gesamten Roman in allen seinen Teilen als ‚Text‘ in Kontexte zu stellen, die seine Struktur erhellen und bedeutsam werden lassen.

In theoretischer Hinsicht stütze ich mich auf Erkenntnisse, die seit den 1920er Jahren bis in die 1970er hinein gewonnen wurden und die schlagwortartig mit den Namen „Phänomenologie“, „Formalismus“ oder „Strukturalismus“ verbunden sind. Ich bin mir bewusst, dass der Rückgriff auf Konzepte, die seit dem ersten ← 12 | 13 → Drittel des 20. Jahrhunderts eine Rolle spielen, als ‚Mut zum Rückschritt‘ denunziert werden kann. Da sich aber die Literaturwissenschaft der letzten Dezennien in einer Weise verändert hat, die im Ergebnis zuweilen deutlich mit Lehren des 19. Jahrhunderts korrespondiert, auf jeden Fall aber die Literatur in ihrem Kunstcharakter vernachlässigt, scheint es mir angebracht zu sein, den Schlachtruf „Zurück zu den Sachen“ gewissermaßen wieder aufzugreifen und zu einer definierten und dem Gegenstand angemessenen Ordnung zurückzukehren. Es geht mir um beschreibbare und vor allem wirkungsmächtige Sachverhalte.

‚Text‘ verstehe ich hier prinzipiell als Werk im Sinne von Roman Ingarden, d.h. als eine sprachliche Äußerung, die zunächst subjektiv „aufgefasst“ werden muss, um danach die Gründe für gerade diese Auffassung in Bezug auf den Anlass, eben das Werk, reflektieren zu können und sein sprachlich fixiertes Konzept, sein „Schema“, zu „erfassen“. (Ingarden 1972) Daraus folgt selbstverständlich auch, dass ggf. zwei einander entgegengesetzte Auffassungen auf ein und denselben Grund zurückzuführen wären.

In Bezug auf eine bestimmte Sorte von Kontexten bietet Ingarden die Metapher vom „Leben des Kunstwerks“ an. (Ingarden 1968) Es geht um die sich wandelnde Auffassung eines literarischen Werks im Verlaufe der Zeit, und zwar so, dass die im Werk schematisch festgelegten Züge jeweils anders „konkretisiert“ werden. Eine solche Konkretisation beinhaltet sensu stricto mehr als nur das philologische Verstehen. Sie hat den irrationalen Anteil des Gesamtgefüges zu berücksichtigen oder anders: sie hat das Werk auch ästhetisch „zur Anschauung“ zu bringen. Das Ästhetische könnte geradezu als Relevanzkriterium gelten, um rein philologische Zuweisungen, die mit dem Erkenntnisvergnügen des Wissenschaftlers verbunden sind, von echten (‚naiven‘) Rezeptionserlebnissen zu unterscheiden. Ich meine z.B. das Vergnügen, eine innere Logik beschreiben oder bestimmte Konsequenzen dekonstruieren zu können oder eben eine Struktur bzw. deren Sinn zu entdecken.

In der Praxis ist es schwierig, diese Grenze genau zu ziehen, weil das Relevanzkriterium der ästhetischen Wirksamkeit nur in Bezug auf das je vorliegende Werk intersubjektiv verhandelt werden kann. Allein im Werk sind die Anlässe für die jeweilige Konkretisation aufzufinden. Die Subjektivität des Vorgangs einer ästhetischen Auffassung erschwert, den Wert des Erfassten zwischen Erkenntnisvergnügen und Rezeptionserlebnis wirklich abzuwägen. Unter diesem Gesichtspunkt wären im Übrigen alle Vertextungsstrategien, wie etwa die Eigentümlichkeiten der Gattung Roman, intertextuelle Bezüge oder Ähnliches, einer Prüfung zu unterziehen. Allen ist selbstverständlich ein ästhetisches Potenzial eigen, das konkretisiert werden muss. Rezeptionell gesehen, sind auch sie Kontextphänomene, obwohl sie normalerweise anders eingeordnet werden. ← 13 | 14 →

Auch wenn Pasternak behauptet hat, er schreibe den Roman einfach so, „im schlechten Sinne hausgemacht“,5 steht Doktor Shiwago in der literarischen Tradition. Er ist Teil des Systems literarischer Strategien, die zur Literatur überhaupt, zur russischen Literatur, zum 20. Jahrhundert etc. gehören. Gerade der russische Roman hat ein besonderes Prestige und damit als Gattung in der russischen Literatur einen besonderen Anspruch. Dass sich Doktor Shiwago dem System alles andere als einpasst, belegen die Schwierigkeiten, die der Roman seinen Lesern bereitet hat und die oben den Ausgangspunkt meiner Argumentation gebildet haben.

Hier werde ich konkret ansetzen und einerseits eine geeignete Auswahl aus den gängigen Strategien insbesondere der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts treffen, um die Stellung des Romans im literarischen Gefüge seiner Zeit zu erhellen. Darauf aufbauend, möchte ich andererseits den auffälligen Schlussteil des Romans, Die Gedichte des Jurij Shiwago (Stichotvorenija Jurija Shiwago), in das Gefüge des Romans einordnen. Zuvor wird aber in groben Zügen der Weg zu betrachten sein, der den Lyriker Pasternak letztlich zu diesem Roman geführt hat. Und selbstverständlich muss der Roman in seinen Grundzügen erfasst werden. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, weitergehende Fragen der ästhetischen Wirkung und der Rezeptionsverläufe, insbesondere der Sinnzuweisungen und der Bewertungen, zu erörtern. Dabei scheint mir eine gewisse Pedanterie in Bezug auf theoretische Vorannahmen angebracht, wenn nicht sogar gerechtfertigt und also hoffentlich entschuldbar zu sein, weil ich zwischen texthermeneutischer Interpretation und bisweilen phantasmagorischer Dekonstruktion, quasi zwischen Scylla und Charybdis, einigermaßen nüchtern Kurs halten möchte.


1 Im Folgenden wird bei der Transliteration der russischen Namen die ISO-Umschrift benutzt, nach der sich für Живаго das graphische Äquivalent Živago ergeben würde. Da aber in der Sekundärliteratur unterschiedlich verfahren und meist mehr oder weniger aussprachenah transkibiert wird, entstehen Varianten, deutsch Shiwago oder Schiwago, englisch Zhivago, oder französisch Jivago, so dass wegen der erforderlichen korrekten Zitierweise eine gewisse Uneinheitlichkeit nicht zu vermeiden ist. Wegen der Lesbarkeit wird in meinem fortlaufenden Text die deutsche Variante Doktor Shiwago verwendet.

2 Es lassen sich vier Verfilmungen nachweisen, und zwar 1959 (Fernsehfilm) Brasilien, Regie: unbekannt; 1965 USA, Regie: David Lean; 2002 Großbritannien / USA / Deutschland, Regie: Giacomo Campiotti; 2006 (Fernsehserie) Russland, Regie: Aleksandr Proškin. Filmtitel jeweils wie der Roman.

3 Nach der Nomenklatur des Romans gliedert er sich in zwei „Bücher (knigi)“ und siebzehn „Teile (časti)“, die ich hier durchgängig um der Klarheit willen als „Kapitel“ bezeichne.

4 Vgl. explizit Smirnov 1996. Korrespondenzen dieser Art werden z.B. zu den Ausdrucksformen des „Lichts“ beschrieben (Zehnder 2015), zur Architektonik der Zahl „Vierzehn“ (Tiupa 2012), zum Prinzip der „Mimikry“ (Witt 2000a / 2000b), zum Gestaltungsmoment des „Fensters“ (Beker 1993) u.a.m.

5 Brief vom 2. April 1955 an den Literaturkritiker N. P. Smirnov. (Pasternak 5, 536).

Details

Seiten
200
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631727713
ISBN (ePUB)
9783631727720
ISBN (MOBI)
9783631727737
ISBN (Hardcover)
9783631727706
DOI
10.3726/b11410
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Schlagworte
Gattungsfragen Metafiktion Literaturgeschichte Rezeption Sowjetliteratur
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 200 S.

Biographische Angaben

Ulrich Steltner (Autor:in)

Ulrich Steltner ist habilitierter Slavist. Er war Professor für Slavische Philologie an den Universitäten Erlangen und Jena. Seine Forschungsgebiete sind russische und polnische Literatur, Drama, Theater, Literaturtheorie, insbesondere Literatur als Wortkunst.

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