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Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache seit dem Zweiten Weltkrieg

Varietätenkontakt zwischen Alteingesessenen und immigrierten Vertriebenen. Teil 1: Sprachsystemgeschichte

von Klaas-Hinrich Ehlers (Autor:in)
©2018 Monographie 492 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Der erste Band der mecklenburgischen Sprachgeschichte rekonstruiert den Strukturwandel der regional gebundenen Varietäten des Deutschen im Norden Mecklenburgs. An ausgewählten Variablen aus der Phonetik/Phonologie, Morphosyntax und Lexik wird die diachrone Entwicklung des Niederdeutschen und des mecklenburgischen Regiolekts in ihrer kontaktlinguistischen Wechselwirkung mit dem überregionalen Standard herausgearbeitet. Erstmals in der modernen Regionalsprachenforschung bezieht die Studie auch die Herkunftsvarietäten der vielen Vertriebenen ein, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Land kamen. Die korpusbasierten Variationsanalysen zeigen die sprachlichen Folgen auf, die die Vertriebenenimmigration für die sprachlichen Ausgleichsprozesse in den mecklenburgischen Kommunikationsräumen hatte.
Dieses Buch ist mit dem Johannes-Sass-Preis 2018 ausgezeichnet worden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • 1. Gegenstand der Untersuchung
  • 1.1 Die sprachlichen Folgen der Vertreibung der Deutschen für die Zuwanderungs­gebiete: eine Forschungslücke
  • 1.2 Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache: Worum geht es?
  • 2. Empirische Grundlagen
  • 2.1 Erhebung, Struktur und Aufbereitung der zugrundeliegenden Daten
  • 2.1.1 Das Untersuchungsgebiet und die Fokusorte
  • 2.1.2 Die Datenerhebung: Feldzugang, Aufnahmesituation und die Teile des Interviewgesprächs
  • 2.1.3 Die Gesamtstichprobe: Aufbau und Vergleichsgruppen
  • 2.1.4 Transkription und Nachweis von Zitaten
  • 2.2 Datengrundlage für die Sprachsystemgeschichte
  • 2.2.1 Das regiolektale Korpus: Interviews ortstreuer Gewährspersonen und historische Sprachdokumente
  • 2.2.2 Das niederdeutsche Korpus: intendierter Ortsdialekt der dialekt­kompetentesten Gewährspersonen und historische Sprachdokumente
  • 2.3 Methodik der Sprachanalyse
  • 2.3.1 Variablenanalyse und Auswahl der Variablen
  • 2.3.2 Codierung und quantitative Auswertung
  • 3. Strukturwandel des mecklenburgischen Regiolekts im Varietätenkontakt der Nachkriegsjahrzehnte
  • 3.1 Morphosyntax: ausgewählte Variablen
  • 3.1.1 Da halte ich nichts von – syntaktische Varianten der Pronominal­adverbien in Mecklenburg
  • 3.1.2 Besser als oder besser wie? – Variation der Vergleichspartikel beim Komparativ
  • 3.1.3 Und denn ging es los – zum temporalen Gebrauch von denn in Mecklenburg
  • 3.1.4 Reicht der „oberdeutsche Präteritumschwund“ bis in den mecklen­burgischen Regiolekt?
  • 3.2 Phonetik / Phonologie: ausgewählte Variablen
  • 3.2.1 Das „Ostsee-l“ und seine Entwicklung
  • 3.2.2 Dat und wat – Erhalt von niederdeutschem t im Auslaut von das, dass und was
  • 3.2.3 Be i sen, Bro u t und schö i n – die Diphthongierung der Langvokale e, o, ö
  • 3.2.4 Das „weiche“ t – Lenisierung von intervokalischem t
  • 3.2.5 Vom Zungenspitzen-r zum Zäpfchen-r – Lautwandel von einer Generation zur nächsten
  • 3.2.6 Achtunk, lank und gink – plosivischer Verschluss von [ŋ] im Wortauslaut
  • 3.3 Resümee: Die Entwicklung des mecklenburgischen Regiolekts im Varietätenkontakt
  • 3.3.1 Vom Regiolekt zum Standard: Überblick über die Entwicklung phonetischer Merkmale des Regiolekts bei alteingesessenen Mecklenburgern
  • 3.3.2 Advergenz an den mecklenburgischen Regiolekt: lautliche (Über)Anpassung in den Vertriebenenfamilien
  • 3.3.3 Morphosyntax des Regiolekts bei Alteingesessenen und Vertriebenen
  • 4. Was bleibt von den Herkunftsvarietäten der Vertriebenen? Relikte der Herkunftsregiolekte im mecklenburgischen Sprachkontakt
  • 4.1 Remanente Merkmale der Herkunftsregiolekte im Wortschatz, in der Morphologie und der Phonetik
  • 4.1.1 „Verliert sich alles“ – zu Tradierung und Transfer des regiolektalen Wortschatzes aus den Herkunfts­regionen der Vertriebenen
  • 4.1.2 Bissle, Mädel und Franzl – „süddeutsche“ Diminutivendungen im mecklenburgischen Norden
  • 4.1.3 „Die können das Ü nicht aussprechen“ – entrundete Vordervokale als Relikte der Herkunftsvarietäten der Vertriebenen
  • 4.2 Resümee zu Tradierung und Transfer von Elementen der Herkunftsvarietäten: durchgreifender Abbau nichtmecklenburgischer Varianten
  • 5. Strukturwandel des mecklenburgischen Niederdeutsch im Varietätenkontakt seit dem 19. Jahrhundert
  • 5.1 Entwicklungen im Wortschatz des mecklenburgischen Niederdeutsch
  • 5.1.1 Buddel Win, lege Tiden, dot bläben – zum Gebrauch exklusiv niederdeutscher Lexeme
  • 5.1.2 Am miirsten liirt – zwei lexikalische Besonderheiten des Niederdeutschen in ihrer Entwicklung
  • 5.1.3 Fiirnsain, Feernsain, Feernkiken, Fiirnkiken, Feernseen – zur Integra­tion standarddeutscher Lexeme ins Niederdeutsche am Beispiel von Fernsehen
  • 5.2 Morphosyntax: ausgewählte Variablen
  • 5.2.1 Können ji oder könnt ji? – Verlust des ostniederdeutschen Einheits­plurals der Verben
  • 5.2.2 Von et zu dat und wieder zurück? – Die Realisierung des Pronomens der dritten Person Singular Neutrum im mecklenburgischen Niederdeutsch
  • 5.3 Phonetik / Phonologie: ausgewählte Variablen
  • 5.3.1 „Das Hauptkennzeichen der mecklenburgischen Mundart“ – zur neueren Entwicklung der Vokalhebung vor r
  • 5.3.2 „meihen, meiden W, meigen O mähen“ – Varianten der Hiattilgung im mecklenburgischen Niederdeutsch
  • 5.3.3 Von ik bün zu ik bin – runde Vordervokale im mecklenburgischen Niederdeutsch
  • 5.3.4 Vom Zungenspitzen-r zum Zäpfchen-r – auch im Niederdeutschen
  • 5.3.5 „S-tolpern übern s-pitzen S-tein“ auf Platt – Abbau und Revitali­sie­rung des alveolaren s vor t und Folgevokal
  • 5.3.6 Woche, sich und –lich statt Wäk, sik und –lik – Lautwandel von niederdeutschem k zu hochdeutschem ch in Einzellexemen und Morphemen
  • 5.4 Resümee zur Entwicklung des Niederdeutschen unter dem Druck der Kontaktvarietäten
  • 5.4.1 Standardadvergenz als dominanter Entwicklungstrend im Nieder­deutsch der alteingesessenen Mecklenburgerinnen und Mecklenburger
  • 5.4.2 Zwischen Adaption und Archaisierung – das erworbene Niederdeutsch in den Familien Vertriebener
  • 6. Schlussfazit – Strukturwandel der mecklenburgischen Regionalsprache seit dem Zweiten Weltkrieg
  • 7. Verzeichnis der Abbildungen, Karten und Tabellen
  • 7.1 Verzeichnis der Abbildungen (Diagramme)
  • 7.2 Verzeichnis der Karten und Tabellen
  • 8. Literaturverzeichnis
  • 9. Anhang
  • 9.1 Siglenverzeichnis
  • 9.2 Transkriptionskonventionen
  • 9.2.1 Regeln zur orthographischen Transkription der regiolektalen Äußerungen
  • 9.2.2 Transkriptionskonventionen für die Verschriftlichung nieder­deutscher Äußerungen, Wenkerübersetzungen und Dialekterzählungen
  • 9.3 Fragebogen zum Gebrauch einzelner Wörter
  • 9.4 Vorlage für die Wenkerübersetzungen
  • Reihenübersicht

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Danksagung

Die Darstellung der Ergebnisse eines Forschungsprojektes, das so sehr auf die Unterstützung vieler Menschen angewiesen ist wie meines, beginnt am angemessensten mit einer herzlichen Danksagung. An erster Stelle möchte ich meine 90 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nennen, deren Interviews und Sprachproben die wichtigste Grundlage dieser Studie darstellen. Ich denke immer wieder mit großer Dankbarkeit und Freude an die langen, anregenden Gespräche zurück, die ich – in durchweg freundlicher Atmosphäre und oft bei Kaffee und Kuchen – mit ihnen führen konnte. Ihre Hilfsbereitschaft ist mir Verpflichtung, den großen Schatz an Erinnerungen, die sie mir freigiebig anvertraut haben, zu bewahren und für interessierte Leser aufzuschließen. Ich danke auch sehr herzlich all den engagierten Personen, die sich meine Sache kurzerhand zu der ihren gemacht und mir viele wertvolle Kontakte zu Zeitzeugen vor Ort vermittelt haben. Ohne die Hilfe dieser ‚Navigatoren durch die örtlichen Kommunikations­gemeinschaften‘ hätte ich als Ortsfremder viel schwieriger einen Zugang zu interessanten Gesprächspartnern gefunden und vielfach wäre mir dieser Zugang wohl ganz verschlossen geblieben.

Glücklicherweise konnte ich mich bei der Verschriftlichung und Auswertung meiner über 200 Stunden umfassenden Interviewaufnahmen und Sprachproben auf die Unterstützung durch eine Gruppe studentischer Hilfskräfte verlassen. Ich danke Magdalena Blender, Maren Goll, Anna Gyapjas, Martina Hasenfratz, Rabea Krause und Marina Leß für ihre große Hilfe bei dieser langwierigen Arbeit. Die produktiven Diskussionen in unserer kleinen Arbeitsgruppe waren sehr wertvoll für die schrittweise Weiterentwicklung der Codesysteme und der Verfahren der Auswertung, und sie haben mir einfach auch großen Spaß gemacht. Kathleen Ziemann hat mich bei der Arbeit mit der Analysesoftware MAXQDA weitsichtig und kompetent beraten. Mit Kathleen Ziemann und Markus Tümpel habe ich an der Europa-Universität in Frankfurt (Oder) zwei Übungen zur sprachwissenschaftlichen Empirie angeboten, in denen wir gemeinsam mit den Studierenden erste Leitlinien für die Transkription und Codierung meiner Interviewaufnahmen entwickelt und erprobt haben. Gero Lietz ← 11 | 12 → hat mir mit seiner guten Niederdeutschkompetenz bei der Transkription der niederdeutschen Aufnahmen verlässlich zur Seite gestanden. Als die ersten Auswertungen der Variablenanalysen vorlagen, übernahm Martina Hasenfratz sachkundig die Signifikanzprüfung und die Erstellung der Box-Plot-Diagramme. Jeweils Teile des fertigen Typoskripts haben dann Maren Goll, Anna Gyapjas und Sophie Weber auf Schreibfehler und Formulierungsknoten sorgfältig durchkämmt. All diesen Unterstützerinnen und Unterstützern sei ganz herzlich gedankt.

Mein Forschungsvorhaben hat seine unmittelbare Vorgeschichte in dem DFG-Projekt „Sprachvariation in Norddeutschland (SiN)“, aus dem unter anderem der Norddeutsche Sprachatlas (Elmentaler / Rosenberg 2015 a) hervorgegangen ist. Bei Erhebungen für dieses Projekt bin ich in Mecklenburg-Vorpommern vor Ort erstmals mit „schlesischen und sudetendeutschen Plattschnackern“ (Ehlers 2011 b) in Kontakt gekommen und so auf den Problemkreis der sprachlichen Akkulturation der zugewanderten Vertriebenen in Norddeutschland aufmerksam geworden, den die Forschung bislang kaum beachtet hat. Dem SiN-Projekt insgesamt und den spannenden Diskussionen im Teilprojekt in Kiel und Frankfurt (Oder) insbesondere verdanke ich wesentliche methodologische Anregungen und wertvolle Erfahrungen in der linguistischen Feldforschung. Ich habe mein Vorhaben von Beginn an als eine diachronische und soziolinguistische Ergänzung zu unserer areallinguistischen Projektarbeit in unseren kooperierenden Kieler und Frankfurter Projektgruppen betrachtet. Insbesondere möchte ich mich bei dem immer hilfsbereiten Peter Rosenberg bedanken, mit dem ich viele Einzelfragen meiner Arbeit besprechen konnte und der mir immer wieder scharfsinnige Hinweise gab. Auch Michael Elmentaler hat mir bei der Entwicklung des Forschungsvorhabens wichtige Perspektiven aufgezeigt. Meinen Kollegen vom Collegium Carolinum in München verdanke ich ebenfalls wertvolle Anregungen und Hilfestellungen bei der Planung des Projekts. Jeweils Teile meines Buchmanuskripts haben in der Entwurfsfassung Andreas Bieberstedt, Michael Elmentaler, Gero Lietz, Arendt Mihm und Harald Weydt gelesen und kritisch kommentiert. Sie alle haben mir sehr geholfen, die Argumentation zu schärfen, die Endfassung meiner Untersuchungs­ergebnisse verantworte ich dessen ungeachtet natürlich ganz allein. ← 12 | 13 →

Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verdanke ich eine insgesamt vierjährige finanzielle Unterstützung meiner Untersuchung.1 Ein großes Forschungsvorhaben von der Konzipierung, über die Datenerhebung und – auswertung bis hin zur schriftlichen Darstellung der Ergebnisse selbstbestimmt und konzentriert durchführen zu können, ist ein kostbares Privileg, für das ich sehr dankbar bin. Das Collegium Carolinum hat meine Projektarbeiten auch verwaltungsmäßig vorbildlich betreut. Die Deutsche Forschungs­gemeinschaft übernahm einen Teil der Druckkosten für diesen Band, der Heimatverband Mecklenburg-Vorpommern e. V. hat sich dankenswerter Weise an diesen Kosten beteiligt und so die Publikation dieses Bandes möglich gemacht. Schließlich möchte ich Gisela und Fritz Wolbring in Schwaan für ihre langjährige Unterstützung und herzliche Gastfreundschaft danken. Ihnen sei dieser Band gewidmet. ← 13 | 14 →


1 Die DFG-Förderung erfolgte im Format „Eigene Stelle“ unter den Projektnummern EH 190/3-1, EH190/3-2.

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1.  Gegenstand der Untersuchung

1.1  Die sprachlichen Folgen der Vertreibung der Deutschen für die Zuwanderungs­gebiete: eine Forschungslücke

Während der Zeit des Nationalsozialismus war Deutschland zum „Zentrum der europäischen Massenzwangswanderung“ (Bade / Oltmer 2007: 155) geworden, das Zwangsrekrutierungen, Deportationen, Umsiedlungen, Kriegsgefangennahmen und ethnische Säuberungen über ganz Europa verbreitete. Die militärischen und politischen Ereignisse am Ende des Zweiten Weltkrieges setzten dann auch innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung Mittel- und Osteuropas Migrationsbewegungen ungekannten Ausmaßes in Gang. Schon in den letzten Kriegsjahren wurden Flucht vor Gewalt und gewaltsame Vertreibungen, die zuvor vom Dritten Reich ausgegangen waren, zu einem Schicksal, das nun auch die Deutschen selbst ereilte. Mit der behördlich veranlassten Evakuierung der bombenbedrohten Städte des Deutschen Reiches wurde die städtische Wohnbevölkerung ab 1943 erstmals zu Hunderttausenden zum Ortswechsel in ländliche Gebiete bewegt. Ab Oktober 1944 setzte dann die Flucht der deutschen Bevölkerung Ostpreußens und Pommerns vor der heranrückenden Roten Armee ein. Es folgten ab Frühjahr 1945 die von gewaltsamen Übergriffen begleiteten, sogenannten „wilden Vertreibungen“ der Deutschen aus den östlichen Siedlungsgebieten innerhalb und außerhalb der ehemaligen Reichsgrenzen. Dieser ersten Vertreibungswelle schloss sich ab Juli 1945 als zweiter Migrationsschub die systematische Zwangsaussiedlung der dort noch verbliebenen oder der dorthin bei Kriegsende zurückgewanderten deutschen Bevölkerungsteile an. Durch Flucht und Vertreibung wurden die ehemals weit ausgedehnten und dialektal reich gegliederten deutschen Sprachregionen Mittelost- und Osteuropas von deutschsprachigen Bewohnern weitgehend geräumt.

Für die Aufnahmegebiete dieser Zwangsmigrationen, also für die spätere BRD und DDR, bedeuteten Flucht und Vertreibung, dass mehr als zwölf Millionen Menschen, die zwischen Herbst 1944 und Ende 1946 dort eintrafen, untergebracht, medizinisch versorgt und ernährt werden mussten. Die Flüchtlinge und Vertriebenen ihrerseits mussten sich in den Aufnahmegebieten in Lebens- und Arbeitswelten integrieren, die von Zerstörung und ← 15 | 16 → tiefgreifenden politischen Systembrüchen geprägt waren. Die amerikanische wie die sowjetische Militäradministration waren gleichermaßen bestrebt, keine geschlossenen Ansiedlungen von Vertriebenen gleicher Herkunft entstehen zu lassen. Sie sorgten im Sinne einer zukünftigen Integration der Zuwanderer für eine möglichst weiträumige Verteilung der eintreffenden Transporte, soweit sich dies in den chaotischen Verhältnissen in den ersten Monaten nach Kriegsende durchsetzen ließ.2 Dieses Verteilungsprinzip führte zu einer nahezu vollständigen sozialen und räumlichen Durchmischung der Herkunftsgruppen in den Einwanderungsgebieten.

Man hat Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges „mit den Bevölkerungsverschiebungen vergl[i]chen, die in Deutschland im Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg stattgefunden haben“ (Moser 1956: 141), oder mit der Völkerwanderung der germanischen Stämme in der Spätantike gleichgesetzt (Leopold 1970 [1959]: 340). Auch wenn man diesen Vergleichen nur bedingt folgen möchte, kann man doch sagen, dass der zahlenmäßig unerhört große und zeitlich extrem abrupte Migrationsschub aus der Perspektive der betroffenen Individuen wie der deutschen Gesellschaft fraglos zu den folgenreichsten Umbrüchen der neueren deutschen Geschichte gehört. Dieser gesellschaftsgeschichtliche Umbruch markierte zugleich eine tiefe Zäsur in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen. Sie zog sich nicht nur in Gestalt millionenfacher Brüche durch die Sprachbiographien der Betroffenen, sondern verschob den Raum der deutschen Sprachlandschaft als Ganzen und wälzte die Struktur der Sprechergemeinschaften dort vollständig um.

Die zeitgenössische Germanistik war sich durchaus bewusst, dass Flucht und Vertreibung nicht nur katastrophale Folgen für den Bestand der ehemaligen deutschen Dialekte der östlichen Vertreibungsgebiete haben würden, sondern auch in den Zuwanderungsgebieten im Westen „bestimmt einen starken Wandel der Volkssprache und vielleicht teilweise das Aufgeben der Mundart“ (Krauß 1950: 33) nach sich ziehen würden. In dem erwarteten bzw. befürchteten Sprachwandel und Dialektverlust wurde nicht selten sogar der genuine Gegenstand der bundesdeutschen Dialektforschung nach dem Krieg gesehen. Hugo Moser beispielsweise, der 1956 die erste ← 16 | 17 → umfassende Erörterung zum Zusammenhang von „Umsiedlung und Sprachwandel“ vorlegte, verschrieb der germanistischen Linguistik seiner Zeit ausdrücklich das folgende Forschungsprogramm:

Die Forschung sollte nicht nur das versinkende sprachliche und volkskundliche Gut der Heimatverwiesenen vor seinem Untergang energisch und planvoll erfassen und aufnehmen, sondern auch die Mischungsvorgänge, die sich ihr noch nie in solcher Breite und Eindringlichkeit dargeboten haben, in ihren einzelnen Phasen verfolgen. (Moser 1956: 141)

„Die Mundartforschung“, so schrieb auch der Leiter des Preußischen Wörterbuchs 1957, „hat vielleicht nie so günstige Gelegenheit gehabt, sprachlichen Wandel und sprachlichen Ausgleich zu beobachten und zu registrieren wie in unserer Gegenwart“ (Riemann 1957: 28). Diese „günstige Gelegenheit“ hat die zeitgenössische Germanistik also sehr wohl erkannt, aber in ihrer Forschungspraxis nahezu vollständig verpasst.3 Die westdeutsche Sprachwissenschaft der 1950er und der 1960er Jahre verlegte sich angesichts des drohenden Untergangs der ostdeutschen Herkunftsdialekte der Vertriebenen vorrangig auf rekonstruktive und dokumentarische Schwerpunkte, die sich vor allem in lexikographischen Großprojekten zu den Dialekten der Vertreibungsgebiete manifestierten. Hier ging es, wie von Moser (1956: 141) gefordert, darum, in Dialektwörterbüchern „das versinkende sprachliche und volkskundliche Gut der Heimatverwiesenen vor seinem Untergang energisch und planvoll [zu] erfassen“.4 Die in den Sozialwissenschaften durchaus vorhandenen Ansätze einer damals so genannten „Eingliederungsforschung“5 beschränkten sich in der Sprachwissenschaft dagegen nur auf sporadische und überdies episodische Beobachtungen zu ← 17 | 18 → Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit unter den Zuwanderern.6 Sprachliche „Mischungsvorgänge“ (Moser 1956: 141) und Verschiebungen im Varietätengefüge der Aufnahmegebiete blieben nahezu unbeachtet.

Seit dem Ende der 1960er Jahre wurden die sprachlichen Ausgleichsprozesse, die nach der Immigration der Vertriebenen einsetzten, für Jahrzehnte völlig aus dem Forschungshorizont der bundesdeutschen Linguistik ausgeblendet. Obwohl die Flüchtlinge und Vertriebenen in der DDR durchschnittlich einen viel größeren Anteil an der Bevölkerung ausmachten als in der BRD, wurden die sprachlichen Nachwirkungen dieser allgegenwärtigen Zuwanderung auch für die DDR-Germanistik nie zu einer eigenen Forschungsfrage. Die beiden monographischen Orts- bzw. Regionalstudien von Erdmann (1992) und Holuba (2000) kamen um Jahrzehnte später und zogen in der Germanistik keine Vergleichsstudien oder breitere Kontroversen nach sich.7 Heute kennen Einführungen in die Migrationslinguistik oder in die Sprachkontakt­forschung das von seinen Dimensionen und Wirkungen her herausragendste Migrations- und Sprachkontaktgeschehen der jüngeren deutschen Sprachgeschichte gar nicht mehr – selbst dort nicht, wo sie explizit die Geschichte des Deutschen behandeln.8 ← 18 | 19 →

Die außerordentlich umfangreiche geschichtswissenschaftliche Forschung zur Integration der Vertriebenen in die Aufnahmegesellschaften der BRD und DDR legt den Schwerpunkt auf Leitlinien und administrative Maßnahmen der Vertriebenenpolitik einerseits, und andererseits auf strukturelle und soziale, zum Teil auch identifikatorische Aspekte der Integration. Sprachlichen Aspekten der Vertriebenenintegration werden in der zeitgeschichtlichen Forschung dagegen allenfalls Randbemerkungen gewidmet. Beispielhaft sei hier nur auf den Regionen vergleichenden Sammelband Integrationen von Krauss (Hrsg. 2008) oder auf die aktuelle Untersuchung von König zu Flüchtlingen und Vertriebenen in der DDR-Aufbaugeneration verwiesen, der als „zentrale integrative Momente für Flüchtlinge und Vertriebene […] Ernährung, Wohnung, Arbeit und Kontakte“ (König 2014: 393) identifiziert, auf die sprachlichen Probleme und Anpassungsstrategien seiner Gewährspersonen aber nur beiläufig zu sprechen kommt. Selbst dort, wo Analysen der „kulturellen Integration von Umsiedlern“ im Zentrum stehen, wird die sprachliche Akkulturation der Vertriebenen nicht als eigener historischer Forschungsgegenstand in Betracht gezogen (Vierneisel Hrsg. 2006). Die von Wille (1993 a: 10) geforderte Einbeziehung von Sprachwissenschaftlern in die zeithistorische Forschung zur Integration der Vertriebenen bleibt bis heute Desiderat.

Da die sprachlichen Folgen der Vertreibung für die Zuwanderungsgebiete nie mehr als punktuell und kaum je auf breiter empirischer Basis erforscht wurden, tradieren Darstellungen zur Geschichte der deutschen Sprache bis heute unhinterfragt Befunde, die bereits in den 1950er Jahren aufgestellt worden sind. Hier steht an zentraler Stelle die schon früh entwickelte Hypothese, es gebe einen engen Zusammenhang zwischen der Zuwanderung der Flüchtlinge und Vertriebenen und dem Dialektabbau bzw. der Nivellierung regionalsprachlicher Spezifika in den Aufnahmeregionen der Vertreibung. Schon Moser hatte resümiert, die „Sprache der Heimatverwiesenen“ habe einen gewissen „Einfluß auf die heimischen Formen der Hoch- wie der Volkssprache“:

Sie fördert das Vordringen der Schriftsprache, sie beschleunigt den Rückgang des Niederdeutschen und verstärkt die schon bestehenden Tendenzen zur Verwischung der örtlichen Mundartunterschiede, zur Bildung von landschaftlichen Ausgleichssprachen, wie wir sie als medium languages in den Vereinigten Staaten und in England schon treffen. (Moser 1956: 140) ← 19 | 20 →

Die vordergründig plausible These, dass die Immigration der Vertriebenen in den Zuwanderungsgebieten der BRD und DDR die langfristig wirkende „Tendenz zur Hoch- und Gemeinsprache und damit die Zurückdrängung der örtlichen und landschaftlichen Besonderheiten wesentlich verstärkt“ (Polenz 1972: 174) und damit „teilweise zum Dialektverlust“ (Polenz 1999: 447) geführt habe, ist seit Jahrzehnten kanonische Lehrmeinung auch der internationalen Germanistik und Linguistik. Wie schon Leopold (1970 [1959]: 344–345) so führen internationale Autoren auch später das „levelling-out of some regionalisms in Standard-German“ (Clyne 1984: 60), den „process of dialect levelling“ (Barbour / Stevenson 1990: 52) oder den „loss of dialect“9 in der jüngeren deutschen Sprachgeschichte zu wesentlichen Teilen auf die Immigration der Flüchtlinge und Vertriebenen zurück. So heißt es auch neuerdings in der History of German von Salmons:

For the German language, the large population movements after the war promoted the shift away from dialect in some areas, such as Schleswig-Holstein, where refugees at a point reached nearly half the population. (Salmons 2012: 288)

Schon die frühen Publikationen zur sprachlichen „Eingliederung“ der Vertriebenen kamen darin überein, dass der immigrationsbeschleunigte Abbau der autochthonen Ortsdialekte gerade in den norddeutschen Regionen „große Einbrüche in die niederdeutsche gesprochene Volkssprache“ (Moser 1956: 138–139) nach sich gezogen bzw. zu einer „unerwartet radikalen Abkehr vom Plattdeutschen“ (Steiner 1957: 150) geführt habe. Die aus dem Kontext der US-amerikanischen Soziolinguistik stammende empirische Studie von Erdmann spitzte diesen Befund später noch zu. In einer Untersuchungsregion bei Lüneburg habe die Ansiedlung der Vertriebenen demnach zu einem sozialen Trauma in der ansässigen Sprechergemeinschaft geführt und „in a matter of months“ (Erdmann 1992: 20) den Rückzug des Niederdeutschen aus den meisten seiner früheren Verwendungsbereiche bewirkt:

The forced and sudden massive immigration of non-LG [Low German] speakers into the target area after World War II caused a social trauma in the speech community by changing its social texture and disrupting a formerly stable diglossia of LG and StG [Standard German], thus leading to a language shift in the first speaker generation. Predominant usage of StG displaced LG in almost all speech domains it formerly controlled. In the second speaker generation abandonment of ← 20 | 21 → LG becomes the rule, and loss of communication competence in LG characterizes the language situation in the third and youngest speaker generation. (Erdmann 1992: 87)

Für das Niederdeutsche in Mecklenburg sehen auch Gundlach (1988: 436) und Schönfeld (1989: 140) in der massenhaften Zuwanderung von Flüchtlingen und Vertriebenen einen der Hauptgründe für den stark beschleunigten Sprachwechsel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen: „After 1945 the decline of dialect has been added to considerably by the great influx of refugees and others to the area.“10 In den Städten im Norden der DDR habe „die umfangreiche Zuwanderung [überdies] den Rückgang des städtischen Dialekts und lokaler sprachlicher Mittel in der Standardsprache“ (Schönfeld 1989: 167–168) befördert.

Wenn von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen Immigrationsdruck und Dialektabbau ausgegangen wird, kann kaum verwundern, dass nach dem Zweiten Weltkrieg gerade das Niederdeutsche in besonderem Maße unter den Folgen der Vertreibung gelitten haben soll. In den agrarischen Regionen Norddeutschlands erreichte der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung durchweg die höchsten Prozentwerte im gesamtdeutschen Vergleich. Noch 1950 waren 33 % der Einwohner Schleswig-Holsteins und 27,2 % der Einwohner Niedersachsens zugewanderte Vertriebene. Außer in Bayern (21 %) lagen die Anteile der Vertriebenen in den anderen Ländern der jungen Bundesrepublik weit unter 20 % (Kossert 2008: 59). In der Sowjetischen Besatzungszone, die besonders viele Vertriebene aufzunehmen hatte, machten die Immigranten 1949 in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg zwischen 23 % und 24,8 % der Gesamtbevölkerung aus. Unter allen Aufnahmegebieten stand Mecklenburg-Vorpommern mit einem Anteil von 43,3 % Vertriebener unter dem mit Abstand größten Immigrationsdruck.11 ← 21 | 22 →

Es gibt aber auch für die besonders stark von der Zuwanderung betroffenen ostniederdeutschen Regionen eine Reihe von Indizien, die der These eines einfachen Bedingungs­zusammenhanges von massenhafter Immigration und Dialektverlust zuwiderlaufen. So konnten wir bei den Erhebungen zum Norddeutschen Sprachatlas in Mecklenburg-Vorpommern die Beobachtung machen, dass ein durchaus erheblicher Teil der Zuwanderer nach 1945 im Kindes- bis jungen Erwachsenenalter das Niederdeutsch ihrer Zufluchtsorte erworben und langjährig gesprochen hat bzw. bis heute spricht. Gezielte Nacherhebungen in der Vorbereitungsphase meiner hier vorliegenden Untersuchung bestätigten diese ersten Beobachtungen schnell (Ehlers 2013). Für die ländlichen Regionen der niederdeutschen Dialektgebiete in Sachsen- Anhalt bringt Föllner präzise Erhebungsdaten. Bei einer Fragebogenerhebung unter allen erwachsenen Bewohnern von sechzehn Dörfern der Börde und der Altmark ergab sich in der Mitte der 1990er Jahre, dass von den dorthin vertriebenen Zuwanderern „rund ein Viertel den Dialekt gut oder sehr gut beherrscht“ (Föllner 1998: 12). In einzelnen Ortschaften, so zeigen nachfolgende sprachbiographische Interviews, liegt der Anteil der niederdeutschkompetenten Vertriebenen mitunter deutlich höher:

Viele der im Ereigniszeitraum jüngeren Vertriebenen haben […] den Dialekt erlernt, so daß mehr als 50 % derjenigen Mitglieder aus der Erlebnisgeneration, die heute noch befragt werden konnten, eine aktive plattdeutsche Sprachkompetenz aufweisen.12 ← 22 | 23 →

Eine „Zäsur“ in der Verwendung des Niederdeutschen und den Sprachwechsel zum Hochdeutschen verlegen die befragten Dorfbewohner überdies erst in „den Zeitraum vom Ende der fünfziger und dem Anfang der sechziger Jahre“ (Föllner 2000: 168), also keineswegs in die Zeit der großen Zuwanderungswelle nach dem Krieg. In den von Föllner und von mir untersuchten Ortschaften hat das Niederdeutsche durch die Zuwanderung der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg also zumindest kurzfristig sogar eine wachsende Sprecherzahl gewonnen.13

Schon in der älteren Fachliteratur zu den Sprachverhältnissen der Nachkriegszeit finden sich immer wieder Mitteilungen, dass immigrierte Vertriebene den Dialekt ihres jeweiligen Zuwanderungsortes gelernt hätten und zum Teil sogar mit Staunen erregender Kompetenz beherrschten. Insbesondere von bidialektalen bzw. dreisprachigen (Standarddeutsch, Herkunftsdialekt, Zieldialekt) Kindern und Jugendlichen unter den Vertriebenen wird häufiger berichtet. Derartige Berichte über die schnelle und sehr gute Adaption der autochthonen Mundarten der Einwanderungsgebiete finden sich bemerkenswerter Weise auch in Darstellungen, die im Übrigen die Vertriebenenimmigration insgesamt für den Rückgang des Dialektgebrauchs verantwortlich machen. Die berichteten Beobachtungen werden dort aber nur als Ausnahmefälle verbucht und ihnen wird nicht systematisch nachgegangen.14 ← 23 | 24 →

Details

Seiten
492
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631758724
ISBN (ePUB)
9783631758731
ISBN (MOBI)
9783631758748
ISBN (Hardcover)
9783631758717
DOI
10.3726/b14252
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Regiolekt Niederdeutsch Sprachgeschichte Vertreibung Migrationslinguistik Mecklenburg-Vorpommern
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 492 S., 56 s/w Abb., 12 s/w Tab.

Biographische Angaben

Klaas-Hinrich Ehlers (Autor:in)

Klaas-Hinrich Ehlers ist Privatdozent für germanistische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitarbeiter am Norddeutschen Sprachatlas. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Regionalsprachen Norddeutschlands, die Geschichte höflicher Routinen und die Geschichte der Sprachwissenschaft.

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