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Literarisierung der Familie im österreichischen Roman der Gegenwart

Kon/Texte − eine kulturwissenschaftliche Betrachtung

von Joanna Ławnikowska-Koper (Autor:in)
©2018 Monographie 344 Seiten

Zusammenfassung

Die hohe Frequenz des Familiensujets in der österreichischen Prosa der Gegenwart geht auf die Renaissance des neuen Familienromans zurück und belegt die Aktualität und Universalität des Themas Familie. Das Buch unternimmt eine kulturwissenschaftliche Betrachtung literarischer Familienbilder hinsichtlich der Festlegung der Strategien, mit denen Familie literarisiert wird. Die Studie fragt daher nach Variablen und Konstanten des Familienbildes unter Einbeziehung der Erkenntnisse der Humanwissenschaften. Die Auslotung familiärer Kontexte in den Romanen von M. Breznik, G. Ernst, B. Frischmuth, A. Geiger, P. Hochgatterer, E. Menasse und M. Streeruwitz als «local knowledges» (Bachmann-Medick) soll dem Leser die hybride Substanz der Kultur der Gegenwart, im Medium Familie, erschließen und die Wandelprozesse nahebringen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Teil I: Kontexte
  • 1 Die Familie im Spannungsfeld der Humanwissenschaften
  • 1.1 Familie definieren
  • 1.2 Gesellschaftliche Transpositionen der Heiligen Familie: eine theologiegeschichtliche Perspektive
  • 1.3 Von der vorindustriellen zur (post)modernen Familie: eine geschichtswissenschaftliche Perspektive
  • 1.4 Familiäre Grundformen und Familie als soziale Institution: eine familiensoziologische Perspektive
  • 1.5 Intimisierung der Familienbindung und Erziehung zur Familie: eine familienpsychologische Perspektive
  • 2 Die Familie in der deutschsprachigen Literatur und Literaturforschung seit der Neuzeit
  • 2.1 Die Familie als universeller literarischer Stoff: Familienbindungen in europäischer Motivforschung
  • 2.2 Familiendichtung: zum Phänomen des neuen Familien- und Generationenromans
  • 2.3 Literarische Familienbilder: zum aktuellen Forschungsstand
  • 3 Die Familie im Fokus kulturwissenschaftlicher Literaturwissenschaft
  • 3.1 Der Kulturbegriff und die kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Literaturwissenschaft
  • 3.2 Die Prämissen der kulturwissenschaftlichen Wende in der Literaturwissenschaft
  • 3.3 Die Methoden der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft: Mengenkonzept mit dem Fokus Familienbilder
  • Teil II: Texte
  • 1 Literarisierung der Familie in der österreichischen Literatur
  • 1.1 Österreichische Literatur: historische Koordinaten und Gegenwartsbezüge. Zur Problematik des Begriffs
  • 1.2 Codes der österreichischen Literatur
  • 1.3 Themenkomplex ‚Familie‘ in der österreichischen Literatur
  • 1.3.1 Familie in Bildern: der österreichische Roman seit 1945
  • 2 Familienbilder im österreichischen Roman der Gegenwart aus der Sicht der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft: Fallstudien
  • 2.1 (Un)Identitäten: private und kollektive Geschichte in der Identitätsbildung und im Selbstverständnis der Familie
  • 2.1.1 Selbstfindungen
  • 2.1.2 Fiktionen
  • 2.1.3 Bekenntnisse
  • 2.1.4 Erinnertes
  • 2.1.5 Zwischenbilanz I
  • 2.2 (Um)Wertungen: Implikationen des Wertewandels für das Wertesystem und die Erfahrungswelt der Familie und ihrer Mitglieder
  • 2.2.1 Modernisierung
  • 2.2.2 Multi-Optionalität
  • 2.2.3 Flexibilität
  • 2.2.4 Grenzgänge
  • 2.2.5 Zwischenbilanz II
  • 2.3 (Post)Familien: strukturelle Transformationen (post)moderner Familie
  • 2.3.1 Neue familiäre Lebensformen
  • 2.3.2 Neupositionierung der Familienrollen
  • 2.3.3 Kindheiten
  • 2.3.4 Zwischenbilanz III
  • 2.4 Familien(welt)raum: Koordinaten des Familienalltags und Topographien der Familie
  • 2.4.1 Tisch-Geschichten
  • 2.4.2 Kommunikations(um)wege
  • 2.4.3 Familienräume
  • 2.4.4 Zwischenbilanz IV
  • Bilanz: Literarische Familienbilder im österreichischen Roman der Gegenwart und die Kontingenz der modernen Familie
  • Literatur
  • Danksagung
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

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Einleitung

familienfoto

der vater hält sich gerade

die mutter hält sich gerade

der sohn hält sich gerade

der sohn hält sich gerade

der sohn hält sich gerade

der sohn hält sich gerade

der sohn hält sich gerade

die tochter hält sich gerade

die tochter hält sich gerade

Ernst Jandl1

Das Gedicht von Ernst Jandl liest sich wie eine ‚Familieninventur‘, die im Sinne eines Familienmusters, im historischen Kontext, wie auch einer Musterfamilie, aus der Sicht der Mentalitätsgeschichte, die Frage nach der Kontingenz der modernen Familie plausibel macht. Man denkt an Männer und Frauen: alt und jung, groß und klein. Man sieht sie in einer für die frühen stilisierten Atelierfotos typischen Anordnung: Vor Augen erscheinen kerzengerade, gestreckte Gestalten. Gleichmäßig? Wenn das Wort „gerade“ autonom gelesen wird, denkt man an die Vergänglichkeit dieses Bildes, oder eben an seine Gegenwärtigkeit: Man sieht eine Migrantenfamilie, glücklich aufgehoben im neuen Land, aufrecht und stolz …

Familie als gelebte Wirklichkeit wird als die natürlichste, weil organische, und selbstverständlichste, weil ursprünglich genuine Bezugsinstanz des Menschen gedeutet. Die Familienbindungen, die auf Blutbanden, existentiellen und ökonomischen Lebensbedürfnissen und -funktionen beruhen, sind − so Theodor Wolpers − „wohl die engsten und elementarsten aller menschlichen Bindungen“2, schon im Hinblick auf ihre hier hervorgehobene biologische Funktion. Die Definitionen, die parallel zur Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen im Zuge der Reflexion über die Natur der zwischenmenschlichen Beziehungen ← 9 | 10 → entstanden sind, verweisen auf die prägende Rolle der Familie und Familienbindung, die durch „tägliche Erprobung“ und „eine entsprechende moralische, oft auch religiöse Fundierung“3 praktiziert wird. Handelt es sich hierbei um eine Binsenweisheit oder eine einleuchtende These? Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Familie, andererseits kann die Familiengeschichte aber auch als Paradigma der Menschheitsgeschichte ausgelegt werden, was das Kompendium Jack Goodys über die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa4 nahe legt. Es gilt mannigfaltige Entwicklungstraditionen, Aspekte und Kontexte bei der Betrachtung dieses Themas zu berücksichtigen. Kreuz und quer durch die Geschichte der Zivilisation verlaufen die Ansatzlinien wie die des Individuums, der Generation, der Gesellschaft, des Staates, des Geschlechts, der Tradition, des Grades der Selbstreflexion, des Bildungsstandes, der ökonomischen Situation, der geopolitischen Lage, usw. All das wird durch individuelle Erfahrungen multipliziert, die wiederum als kollektives Verhaltensmuster einer Epoche oder Generation zu früheren Verhaltensmustern addiert werden können. In diesem Koordinatensystem funktioniert das System „Familie“. Das Variable sowie das Konstante an ihr ist ein altbewährter Forschungsgegenstand der Humanwissenschaften. Seit der Antike ist die Familie auch ein selbstverständlicher literarischer Topos. Die ‚Literaturfähigkeit‘ der Familie ergibt sich aus dem Spannungspotential, das ihr, im Hinblick auf das Zusammenspiel der einzelnen Mitglieder, die eine Familie konstituieren, immanent ist. Wolpers schreibt dazu:

Da alle Lebensprobleme, auch die der Herrschaft, Einordnung und Rebellion und die des Zusammenlebens beider Geschlechter, in der Familie auf engstem Raum gegeben sind – zudem nicht nur innerhalb einer Altersgruppe, sondern über die Generationen hinweg – ist ihre literarische Gestaltung für motiv- und themengeschichtliche Untersuchungen besonders interessant.5

In Bezug auf diese Konstatierung wird in wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten auf die Rolle und Macht der Familienbilder als Form des kollektiven Gedächtnisses, „das sich über Vergleiche, Differenzen und Angleichungen in Diskursen konstituiert“6 hingewiesen. Als Wirklichkeitsvorstellungen, die zum Gedächtnis der Familie gehören, gewinnen die kollektiven Familienbilder ← 10 | 11 → historisch einen Referenzcharakter und werden zu Chronotopoi.7 Die Literatur braucht und gebraucht sie bei der Konstruktion der literarischen Welten in mannigfacher Funktion. Die These, jene Familienbilder seien in literarischen Werken − speziell in Epik und Drama − eine der Ebenen, auf der sich der eigentliche Konflikt abspielt oder als zentrales Narrativ stets sei, klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Ist sie jedoch erst einmal formuliert, konfrontiert sie den Forscher mit der ganzen Bandbreite von Möglichkeiten und Umsetzungen des Familientopos, sowohl in historischen wie auch in zeitgenössischen Werken. Die Familienbilder in der realistischen (z.B. biographischen, autobiographischen), wie auch in der konzeptuellen und avantgardistischen Literatur erfüllen eine ähnliche Funktion − sie dienen der Erkenntnis der Weltbilder und der symbolischen Ordnungen, in denen sie verankert sind. Gudrun Cyprian betont ihre Persistenz, auf diese bezogen akzentuiert sie die Aufladung der Familie und der Familienbilder mit Mythen, „die für innere Orientierung und alltagspraktisches Funktionieren sorgen“ und zählt zu diesen Mythen „die Einheit der Liebe, Ehe und Elternschaft, die Vorstellung von einem gemeinsamen Dach und von Normen, von Leiblichkeit und gemeinsamer Elternschaft“.8 Die umfangreiche Fachliteratur belegt den Stellenwert dieses Themas und die in der Forschung vertretenen Tendenzen. Es herrschen dabei (abgesehen von den Fallstudien zu einzelnen Autoren und Werken) ideenhistorische, philosophische, historische und soziologische Ansätze vor, während bestimmte literaturhistorische Epochen, oft mit dem Fokus auf eine konkrete Nation oder einen konkreten Staat untersucht werden. Die Literatur zu diesem Band umfasst daher internationale Studien, die globale und universale Entwicklungen erläutern. Im Vordergrund stehen aber die auf den deutschen Sprachraum fokussierten Veröffentlichungen, wobei der österreichischen Problematik der Vorrang gilt.

Die Hauptthese dieser Studie, die sich als eine Fortsetzung dieser Tradition und damit als ein Teil der literarischen Familienforschung verstehet, lautet: Familie wird im österreichischen Roman der Gegenwart einerseits als Träger des globalen und lokalen zivilisatorischen Wandels inszeniert, andererseits als stabilisierender Faktor der sich wandelnden Umwelt heraufbeschworen. Die literarischen Familienbilder in den österreichischen Romanen der Gegenwart lassen daher in einem reziproken Verfahren Einblicke in die Kondition der modernen (österreichischen) Familie zu. Um diese These zu ← 11 | 12 → überprüfen, wird ein komplexer, durch den Spannungsbogen Universalität vs. Aktualität bestimmter Zugang zum Thema literarische Familienbilder gewählt. Die ausgewählten österreichischen Romane, die in den letzten dreißig Jahren (1986–2016), speziell aber um die Jahrtausendwende (1990–2010) entstanden sind und das Familienleben thematisieren, werden dementsprechend mit den Methoden der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft untersucht.9 Mit der Literarisierung der Familie wird eine Bestandsaufnahme der dominanten Strategien der Problematisierung des Familienbildes in der Gegenwartsliteratur intendiert. Es wird dabei erneut die Frage nach den Variablen und Konstanten, die als „Verschränkung einer bleibenden Grundstruktur mit einer ständigen Veränderung“10 des Familienbildes zu verstehen sind, gestellt und vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Humanwissenschaften sowie der literaturhistorischen Befunde erörtert.

Diese Fragestellungen spiegeln sich auch in der zweistufigen Struktur des Bandes wider. Im Teil I, „Kontexte“, Kapitel I.1, findet die Annäherung an das Thema Familie im Fokus moderner Diskurse statt.11 Dieser liegen sowohl theologiegeschichtliche, geschichtswissenschaftliche, soziologische als auch psychopädagogische Perspektiven zugrunde. Diese unterschiedlichen Ansätze wurden deshalb gewählt, um den folgenden Erwägungen einen begrifflichen wie inhaltlichen Hintergrund zu geben. Die Sekundärliteratur, auf die sich die folgenden Ausführungen stützen, umfasst grundlegende Publikationen von führenden Vertretern der genannten Disziplinen, die für den ganzen west- und mitteleuropäischen, speziell aber für den deutschsprachigen Raum Gültigkeit haben und damit selbstverständlich auch für Österreich. Eine so breit angelegte Fokussierung soll der Konkretisierung der Kontinuitäten und Zusammenhänge im Bereich der Humanwissenschaften sowie einer Reflexion über das Umfeld Familie ← 12 | 13 → und deren Wirklichkeit und Determinanten in der zweiten Hälfte des 20. und im 21. Jahrhundert dienen.

Die literaturhistorische Annäherung an das Thema Familie im Kapitel I.2 zielt auf die Veranschaulichung der tragenden Rolle des Familientopos in der Literaturgeschichte ab. Dabei wird auf die für die Entwicklung der europäischen Literatur konstitutiven Meisterwerke der Antike und in Folge auf die deutschsprachige Literatur im Allgemeinen und die österreichische Gegenwartsliteratur im Besonderen hingewiesen. Ohne dass auf die interpretative Vollständigkeit der zitierten Beispielwerke Anspruch erhoben wird, soll ein Spektrum von herkömmlichen Familienbildern präsentiert werden. Dabei geht es nicht um eine Argumentation für die Frequenz des Motivs, sondern vielmehr um eine Auseinandersetzung mit der Tradition im Hinblick auf die Erscheinungsformen der Familie im literarischen Werk und damit auch um bisherige Formen ihrer Literarisierung. Richtungsweisend bei der Erarbeitung dieses Teils waren die Standardwerke der Literatur- und Kulturwissenschaft, Nachschlagewerke zu Motiven und Stoffen der Weltliteratur12 sowie Schlüsselwerke zur Weltliteraturgeschichte13 und zur Geschichte der deutschsprachigen Literatur.14 Ausschlaggebend waren aber Studien zur österreichischen Literatur wie etwa von Herbert Zeman, Klaus Zeyringer, Wendelin Schmidt-Dengler, Wynfried Kriegleder sowie Stefan H. Kaszyński15− auf sie beziehen sich auch die Überlegungen im Teil II des Bandes. Diesen wird eine Betrachtung des neuen Familien- und Generationenromans als literarisch-soziologisches Phänomen angeschlossen. Als Resümee dieser Darstellung wird in diesem Kapitel der Forschungsstand aus dem Bereich Familienbilder in der deutschsprachigen und österreichischen Literatur für den Zeitraum 1986–2016 besprochen.

Dieser generell zeit- und raumübergreifenden, zweckmäßig aber auf österreichische Zustände orientierten synthetischen Darstellung des Familienmotivs in der Literatur folgt das Kapitel I.3 als letztes Kapitel des theoretischen Teils der ← 13 | 14 → Studie, in dem die Auswirkungen der kulturwissenschaftlichen Wende auf die Literaturwissenschaft diskutiert werden. Ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Theoremen der Diskursanalyse, der Bourdieuschen Feld- und Habitus-Theorie, der Systemtheorie, der Gender Studies, des Erinnerungsdiskurses und der Literaturanthropologie ist eben das kulturwissenschaftlich orientierte Konzept der Analyse und Interpretation moderner familienzentrierter Prosawerke, vor allem zeitgenössischer Romane, unter besonderer Einbeziehung der neuen Familien- und Generationenromane. Dieses Konzept bildet die ‚Schnittmenge‘ der genannten kulturwissenschaftlichen Ansätze und ist durch die Wechselbeziehung zwischen Kontext und Text bestimmt. Es wird im Teil II der Studie bei der Lektüre ausgewählter österreichischer Romane der Gegenwart über und um die Familie zur Anwendung gebracht. Das interdisziplinär fundierte, offene Konzept ermöglicht durch eine neue Perspektivierung eine komplexe Erschließung dieser Prosa. Die Herangehensweise an die Texte ist nicht gattungstheoretisch, sondern kulturwissenschaftlich festgelegt.

Die Texte werden als ‚Familiendichtung‘ per se in ihrer literaturhistorischen Funktion als Zeit-, Ehe-, Familien- und Gesellschaftsromane identifiziert und untersucht, in denen sich vielfache Facetten des den Literaturprozess begleitenden Umfelds widerspiegeln. Darin eingeschlossen sind die Generationenerfahrungen des Autors bzw. der Autorin, wie auch ein in der Wirklichkeit fußender materieller und sittlicher Fundus der fiktionalen Welten. Es sind also in erster Linie die Thesen von Doris Bachmann-Medick, Ansgar und Vera Nünning, Roy Sommer, Karl Heinz Stierle sowie Jan und Aleida Assmann, aber auch von anderen Kultur- und Literaturwissenschaftlern, etwa von den polnischen Forschern Edward Balcerzan, Ryszard Nycz, Ewa Kosowska und Roch Sulima, deren Gedankengut in dieses Kapitel eingeflossen ist. Die von ihnen angeregten neuen Fragestellungen mündeten in das oben erwähnte Konzept. Die Intention dieser Vorgehensweise sowie des kulturwissenschaftlich fokussierten Verfahrens der Analyse der literarischen Werke will nicht die herkömmlichen Analyse- und Interpretationsansätze, die zum Teil auch anthropologisch orientiert sind, ersetzen. Das hier vorgeschlagene Konzept versteht sich vielmehr als kompensatorisches Korrektiv, das durch seine Fokussierung auf die bis dato weniger beachteten Elemente der literarischen Welten wirkt. So wird unter anderem nach der sozialen Verankerung der Protagonisten, nach den Konstruktionen des Alltags und nach medialen Repräsentationen gefragt.

Im Teil II, „Texte“, werden Prosawerke von österreichischen AutorInnen, in denen jeweils eine familiäre Problematik im Mittelpunkt steht, aber auch jene, deren Konflikte vor dem Hintergrund des Familienalltags ausgetragen werden, auch ← 14 | 15 → wenn sie anderen Fragestellung als der nach dem Bild der Familie nachgehen, unter Einsatz des kulturwissenschaftlichen Konzepts einer Analyse und Auslegung unterzogen, mit dem Zweck, die oben genannten Thesen zu untermauern. Den konkreten an Leitfragen orientierten Fallstudien stehen im Kapitel II.1 vertiefte Überlegungen zur Eigenart der österreichischen Literatur voran, die auf das Aufzeigen ihrer Entwicklungslinien und Codes rekurrieren, grundsätzlich aber auf die in der Literatur Österreichs tradierten Familienbilder abzielen. Die Darstellung beschränkt sich hierbei auf das 20. und 21. Jahrhundert. Es wird auf historische Entwicklungen zurückgegriffen, die unmittelbar Einfluss auf die Wirklichkeit und Literatur dieser Zeit ausübten. Für Österreich war es unbestritten der Erste Weltkrieg, infolge dessen die Habsburger Monarchie zum Reststaat geschrumpft ist, was zum Entstehen und gedeihen des Habsburgermythos geführt hat. Dazu gehören konsequenterweise die Entstehung der 1. Republik und die Machtkämpfe um die politische Identität des neuen Staates. Nicht weniger verhängnisvoll war für die damals junge Demokratie der Anschluss an Nazideutschland und die bis heute moralisch problematische Teilnahme am 2. Weltkrieg. Nach Kriegsende entstand die Zweite Republik aber die moderne Geschichte des Staates beginnt mit dem endgültigen Abzug der Alliierten aus den besetzten Gebieten und der Unterzeichnung des Staatsvertrags im Jahr 1955. Zu dieser gehören, entsprechend den globalen Tendenzen, Veränderungen in allen Bereichen des Lebens. Auch wenn europaweite Studentenrevolten entlang der Donau keinen Barrikadenkampf bedeuteten, verursachten sie tiefe Einschnitte in die erstarrte Wirklichkeit der Alpenrepublik, was unvermeidlich zur Beschäftigung mit verschiedenen Identitätskonstruktionen führte. Die hier festgehaltene Geschichte und Selbstwahrnehmung der Österreicher und ihre prägenden Momente sind in der Literatur in Form von direkten Hinweisen und Anspielungen präsent, was in den Erfahrungswelten der literarischen Figuren und in ihren Lebenswelten erkennbar ist und auch die Familienwelten betrifft. Eine überblickartig orientierte Darstellung der literarischen Familienbilder aus der Zeit 1945–1985 im Kapitel II.1.3.1 (Primärtexte II) veranschaulicht durch Hervorhebung des institutionellen Charakters der Familie ihren Stellenwert in der sich nach dem Krieg wandelnden Gesellschaft und bringt die literarischen Verfahren der Rekonstruktion (1950er und 1960er Jahre) und der darauffolgenden Dekonstruktion (1970er und 1980er Jahre) nahe.

Als ordnende Kategorie für die Darstellung der Strategien und Formen der Literarisierung der Familie in den österreichischen Romanen der letzten dreißig Jahre, hier Schwerpunkt des Kapitels II.2, gelten Transformationen im Familienbild mit neu definierten und wahrgenommenen Rollen von Frauen, ← 15 | 16 → Männern und Kindern, Fragen der Selbstwahrnehmung der Familie und der Selbstwahrnehmung des Individuums in der Familie und nicht zuletzt der Familienalltag selbst. Ein anderer Fokus richtet sich auf die Familiengeschichte als Zeitgeschichte. Der kulturwissenschaftliche, darunter der kulturanthropologische Ansatz spiegelt sich nicht nur in den dieser Struktur zugrunde liegenden Fragestellungen wider, er zeigt sich vor allem in dem Versuch, die anthropologischen Konstanten und ihr Einhalten angesichts des Wandels aufzuzeigen. Die Leitfragen, welche die Überprüfung der Thesen dieser Studie begleiten, liegen der Argumentation der einzelnen Unterkapitel zugrunde:

Bei der Beantwortung dieser Fragen greife ich auf Romane zurück, die im Zeitraum 1986/1990–2016 entstanden. Diese Periodisierung berücksichtigt einmal die übliche Zeit von dreißig Jahren, die man bei Generationswechsel voraussetzt, darüber hinaus markiert das Jahr 1986 – Ausbruch der Waldheim-Affäre – einen Neuanfang im Verhältnis zur Geschichte des Landes. Mit dem Hinweis auf das Jahr 1990 soll der Gebrauch des Begriffs 1990er Jahre, der im Text öfters vorkommt, legitimiert werden. Die Auswahl der Romane ergibt sich aus ihrem Literarizitätsgrad, ihrem Selbstverständnis als neue Familien- oder Gesellschaftsromane und nicht zuletzt aus ihrer Resonanz auf dem Büchermarkt. Die Vergleichsgrundlage ist der Veröffentlichungszeitraum, so repräsentieren die AutorInnen verschiedene Generationen österreichischer SchriftstellerInnen, ← 16 | 17 → was eine vielperspektivische und differenzierte Sicht auf die beobachtete Wirklichkeit sichert.

In einer alphabetischen Abfolge sind es (Primärtexte I):

Die kulturwissenschaftlich fokussierte Lektüre der österreichischen Literatur der letzten dreißig Jahre veranschaulicht Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Darstellungen der Familie, die der von Lucyna Bakiera verkündeten gleichzeitigen Beständigkeit und Wandelbarkeit der Familie entsprechen.16 Sie zeigt aber auch den Einfluss der äußeren Koordinaten auf die heutigen Darstellungsstrategien und lässt den Grad der Selbstreflexivität der Gegenwartsliteratur erkennen. Sie liefert darüber hinaus ‚harte‘ Beweise zum Wandel der realen, ‚außerliterarischen‘ Welt. Nicht zuletzt zeugt sie auch von der Beschaffenheit der österreichischen Literatur der Gegenwart.


1 Ernst Jandl: der künstliche baum. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1970, S. 60; entstanden 1967.

2 Vgl. Theodor Wolpers: Zur Motivgeschichte schicksalhafter Familienbindungen in der neueren Literatur. In: ders.: Familienbindung als Schicksal. Wandlungen eines Motivbereichs in der neueren Literatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 7–16, hier 6.

3 Ebd.

4 Jack Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa. Übers. von Eva Horn. Berlin: Dietrich Reimer 2017 [1986].

Details

Seiten
344
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631761274
ISBN (ePUB)
9783631761281
ISBN (MOBI)
9783631761298
ISBN (Hardcover)
9783631757802
DOI
10.3726/b14370
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Familienroman Identitätsfrage Wertewandel Transformationsprozesse Alltagsbilder Erzählstrategien
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 344 S.

Biographische Angaben

Joanna Ławnikowska-Koper (Autor:in)

Joanna Ławnikowska-Koper ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Fremdsprachliche Philologien der Jana-Długosz-Universität Częstochowa (Polen). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Frauenliteratur, Identitätsdiskurse, Kulturanthropologie und Literaturrezeption. Sie veröffentlicht insbesondere zur österreichischen Gegenwartsliteratur.

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