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Zbigniew Herbert und Europa

von Marlene Bainczyk-Crescentini (Autor:in)
©2018 Dissertation 258 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie untersucht Zbigniew Herberts lyrische und essayistische Versuche, Europa als gemeinsamen Kulturraum vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und der anschließenden Spaltung des Kontinents zu rekonstruieren. Herberts Arbeit am kulturellen Gedächtnis erzeugt ein dichtes Netz intertextueller Bezüge, das auf eine für die europäische Gemeinschaft grundlegende Verbindung verweist und damit die europäische Identität Polens fortschreibt. Die geopoetisch erschlossene Grenzenlosigkeit der europäischen Kultur dient Herbert zum Einspruch gegen die zeitgenössische geopolitische Spaltung. Auch im gegenwärtigen Diskurs um Europa erweist sich sein Werk als ein verblüffend aktueller Kommentar, weltoffen und frei von jedem nationalen Eigendünkel.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Theorie
  • 2.1 Intertextualität
  • 2.2 Kunst, Gedächtnis und Tradition
  • 2.3 Tradition, Widerstand und europäische Identität
  • 2.4 Geopoetik
  • 3 Verlust
  • 3.1 Überlebensschuld, Treue und Angedenken
  • 3.2 Herbert und die Tragödie: Universalisierung des Totengedenkens im kulturellen Gedächtnis
  • 3.3 Macht und Machtlosigkeit von Dichtung und Kultur
  • 4 Enttrümmerung
  • 4.1 Zum Mythosbegriff
  • 4.2 Die zerstörte Stadt: Enttrümmerung des Raums
  • 4.3 Heldenmythen
  • 5 Vaterland
  • 5.1 Polnische Nationalmythen
  • 5.2 Herbert und das Kriegsrecht: „Raport z oblężonego miasta“
  • 5.3 „Rozważania o problemie narodu“: Nationalismus und Patriotismus
  • 6 Heimatlosigkeit
  • 6.1 Heimatlosigkeit als Entfremdungserfahrung
  • 6.2 Lwów – Die verlorene Stadt
  • 6.3 Heimatlosigkeit und der Mythos vom verlorenen Paradies
  • 6.4 „Wygnany arkadyjczyk“ – Herbert und der Arkadien-Mythos
  • 7 Reise
  • 7.1 Reise und Heimatlosigkeit
  • 7.2 Die Reise als sinnliche Erfahrung
  • 7.3 Reise und Geopoetik
  • 7.4 Navigatio vitae: Reise ohne Wiederkehr
  • 8 Kunst
  • 8.1 Kunst als Heimat
  • 8.2 Vergänglichkeit und Dauer in der Kunst
  • 8.3 „Hasło pojednania“ – Kunst als Losung der Versöhnung
  • 9 Europa
  • 9.1 Intertextualität, Gedächtnis und Raum in Herberts Europakonzept
  • 9.2 Ablehnung nationaler Perspektiven
  • 9.3 Die Doppelnatur Europas
  • 9.4 Herbert und der Mythos Europa
  • 10 Fazit
  • Literaturverzeichnis

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1 Einleitung

Wtedy uświadomiłem sobie, że podróżuję po Europie po to, aby z długich i dramatycznych dziejów ludzkich wydobyć ślady, znaki utraconej współnoty. Dlatego romańska kolumna z Tyńca koło Krakowa, tympanon z kościoła św. Petroneli koło Wiednia i płaskorzeźby w katedrze św. Trofima w Arles były dla mnie zawsze nie tylko źródłem przeżyć estetycznych, ale uświadomieniem sobie, że istnieje ojczyzna szersza niż ojczyzna swojego kraju.1

Mit diesen Worten verweist der polnische Dichter Zbigniew Herbert auf einen zentralen Aspekt seines Werks, der Ausgangspunkt und Zentrum dieser Arbeit ist: die Suche nach einer gemeinsamen europäischen Identität. Das „größere Vaterland“, als das die europäische Kultur Herberts Leser entgegentritt, erscheint als ein Raum der Begegnung und des Dialogs, der der europäischen Realität seines Lebens in vielem entgegensteht: Der 1924 im damals noch polnischen Lwów geborene Dichter erlebt an der Schwelle zum Erwachsenwerden den Zweiten Weltkrieg und mit ihm die Vertreibung aus seiner Heimatstadt, die Trümmerwüsten der europäischen Städte, die innere wie äußere Verheerung des Kontinents. Doch auch nach dem Krieg sollte die Einheit Europas ein ferner Traum bleiben, folgten doch die Jahre der Spaltung, in denen eine Hälfte des Kontinents jenseits des Eisernen Vorhangs von der gemeinsamen Kultur und ihren Quellen abgeschnitten war und die europäisch-humanistischen Werte wie Freiheit, Gleichheit sowie Wert und Würde des Individuums einmal mehr verraten wurden.

Entgegen dieser bitteren Realität begibt sich Herbert in seinem Werk auf die Suche nach der verlorenen Gemeinschaft, wagt angesichts der scheinbar ←11 | 12→unüberwindlichen Spaltung den Versuch einer Rekonstruktion der verlorenen Ganzheit. Auf das Erlebnis gegenseitigen Hasses und Misstrauens und die damit einhergehende Entfremdung vermögen weder die Politik noch die Ökonomie Antworten zu geben: Während Erstere auf den Krieg mit einer neuen Strukturierung des Kontinents reagiert, die sich durch Trennung und Isolation, ethnisch reine bzw. bereinigte Staaten und die Aufrechterhaltung des Status quo einer Spaltung in zwei unversöhnliche Blöcke auszeichnet, glaubt Letztere die Frage der Zugehörigkeit durch eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung lösen zu können, sodass die Gemeinschaft letztlich nicht mehr sein kann, als eine im eigenen Vorteil begründete Zweckbeziehung.

Antworten hält für Herbert allein die Kultur bereit, noch im Moment des Zerfalls und der Vernichtung ist sie für ihn in ihren Zeichen und Spuren als eine gemeinsame präsent. Die Kumulation der europäischen Erfahrungen im kulturellen Gedächtnis begründet eine Verbindung, die elementarer ist als alle politisch-ökonomischen Grenzziehungen, die doch immer nur temporäre Gültigkeit haben und so die Fragen und Herausforderungen, vor denen eine Gemeinschaft wie die Europas stand, steht und immer wieder stehen wird, nicht dauerhaft zu lösen vermögen.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, das Europakonzept Zbigniew Herberts vorzustellen und im Hinblick auf folgende Fragen zu untersuchen: Was für ein Gebilde entsteht aus den verlorenen und wiedergefundenen Zeichen und Spuren der Gemeinschaft? Wie ist dieses gemeinsame Europa, das Herbert auf diesem Weg (re-)konstruiert, beschaffen, aus welchen Elementen setzt es sich zusammen? Weil diese Arbeit auch die Genese dieser spezifischen Idee Europas nachvollziehen will, soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, wie sich die Erfahrung der Isolation und Spaltung auf Herberts Idee der Gemeinschaft auswirkt. Dabei stützt sich die Arbeit vornehmlich auf Analysen exemplarisch ausgewählter lyrischer Texte aus verschiedenen Schaffensperioden des Autors. Zusätzlich wird auch das essayistische Werk herangezogen. Zum einen werden die gleichen Themen häufig sowohl lyrisch als auch essayistisch verarbeitet und so aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, zum anderen äußert Herbert sich in seinen Essays sehr viel direkter zu Fragen der Kunst im Allgemeinen und seiner Poetik im Besonderen.

Der Beschäftigung mit den konkreten Texten sind im Kapitel „Theorie“ (Kapitel 2) einige methodisch-theoretische Überlegungen vorangestellt, die sich vornehmlich auf die Konzepte Intertextualität, kulturelles Gedächtnis und Geopoetik stützen. Intertextualität ist ein prägendes Merkmal der Texte Herberts, die durch Bezüge zur europäischen Kunst- und Kulturgeschichte stets fest in der gemeinsamen Tradition verwurzelt sind. Die Intertextualität ist weit mehr als ←12 | 13→schmückendes Beiwerk, sie ist Teil der Intention und Aussage des Autors, setzt sie doch das Verbindende gegen das Trennende und ermöglicht so ein von nationalen Implikationen befreites europäisches Schreiben. Das intertextuelle Schreiben ist zudem Ausdruck von Herberts Arbeit am kulturellen Gedächtnis: Auf diesem Weg vollzieht sich die Konfrontation der Tradition mit der Gegenwart des Autors und damit der europäischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses, das viel mit Herberts Verständnis des für ihn zentralen Begriffs der Tradition teilt, lässt sich hierfür fruchtbar machen: Beide betonen Offenheit und Prozesshaftigkeit, fassen die Kultur als lebendigen Organismus, der stets einer neuerlichen Vermittlung bedarf und sich der beständigen Konfrontation mit der Gegenwart stellen muss, um so seine Vitalität zu bewahren und ansprechbar zu bleiben. Ein gemeinsames Gedächtnis ist eine unerlässliche Bedingung einer gemeinsamen Identität. Gerade in der Art, wie Herbert mit dem kulturellen Gedächtnis umgeht, wird deshalb deutlich, wie er die gemeinsame Identität begreift. Das Konzept der Geopoetik fasst schließlich die kreative, schöpferische Intention von Herberts Schreiben über Europa: In und mit seinen Texten will er Europa rekonstruieren, die verlorene Gemeinschaft erschreiben, sie so wieder in die Wirklichkeit zurückholen und für die Zukunft erhalten. Die Rückbindung an die Geographie ist Herbert deshalb so wichtig, weil es für ihn ein Europa als rein gedankliches Konzept nicht geben kann; Europa ist, wenn auch nicht nur, ein geographischer Kontinent und als solcher ein Raum, der nicht bloß rational erschlossen, sondern auch sinnlich wahrgenommen werden will – nur so wird Europa in seiner Vielgestaltigkeit erfahrbar. Während Europa dem Leser vor allem in den frühen Texten Herberts als ein zerstörter Raum entgegentritt, lässt sich das weitere Werk als eine neuerliche Erschließung, eine Wiedergewinnung des europäischen Raums lesen. Diese Raumkonstruktion ist allerdings nicht allein auf die Erfahrung des Krieges bezogen, sondern kommentiert ebenso die geopolitische Realität der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und richtet sich gegen die Isolation Ostmitteleuropas vom westlichen Teil des Kontinents.

Im Anschluss an diese theoretischen Vorüberlegungen setzt sich das Kapitel „Verlust“ (Kapitel 3) mit dem Zweiten Weltkrieg als Herberts ursprünglicher Europa-Erfahrung auseinander, die als Hintergrund seines Schreibens und seiner Auseinandersetzung mit der Tradition stets mitbedacht werden muss. Für Herbert als Angehörigen einer verlorenen Generation ist vor allem die Frage des Umgangs mit den Toten zentral: Das Totengedenken steht am Anfang seiner Arbeit am kulturellen Gedächtnis und wird zu einer Möglichkeit und Rechtfertigung, nach der erlebten Katastrophe und angesichts des damit verbundenen Komplexes der Überlebensschuld wieder schöpferisch tätig zu sein.

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Der Titel des folgenden Kapitels, „Enttrümmerung“ (Kapitel 4), ist nicht nur auf der wörtlichen Ebene zu verstehen, also in Bezug auf die Befreiung des zerstörten Stadtraums von den Trümmern des Krieges, um den Wiederaufbau zu ermöglichen, sondern auch im übertragenen Sinn als Befreiung von überkommenen, manipulierten und missbrauchten Mythen und Symbolbeständen. Die Befreiung ist jedoch nur der erste Schritt und dient dem symbolisch zu verstehenden Wiederaufbau: Indem Herbert die Mythen auf die in ihnen enthaltene menschliche Erfahrung hin befragt, vermag er sie in ihrer Qualität als Erzählung zurückzugewinnen. So können Mythen dazu beitragen, erneut Verständnis und Verständigung, menschliche Gemeinschaft zu schaffen und den Raum auch in symbolischer Hinsicht wieder zu einem kulturell strukturierten, heimischen zu machen.

Das Kapitel „Vaterland“ (Kapitel 5) setzt sich schließlich in Anknüpfung an das vorausgehende noch einmal konkret mit Herberts Destruktion dessen auseinander, was häufig Nationalmythologie genannt wird, tatsächlich aber in den Bereich der Ideologien und Dogmen rückt und so zum Nährboden von nationalem Chauvinismus wird. Herbert nimmt hierzu eine explizit europäische Perspektive auf die nationale Erfahrung ein und trägt mit diesem Verfahren dem Erlebnis des Krieges Rechnung: Die einzelnen nationalen Erfahrungen sollen nicht eliminiert, sondern als Teil eines Ganzen, eines gemeinsamen Europas wahrgenommen werden. Sie dürfen nicht Mittel sein, die nationalen Gegensätze zu nähren, sondern müssen als gemeinsame europäische Aufgabe betrachtet werden. Ähnliches gilt für das Verhältnis des „kleinen“ Vaterlands Polen zum „großen“ der europäischen Kultur, das abschließend reflektiert wird: Auch hier erscheint die europäische Perspektive als notwendiges Korrektiv, das einen bewussten Patriotismus im Sinne einer emotionalen Bindung zwar zulässt, zugleich aber verhindert, dass die Verstrickung in nationale Mythologien den Blick auf die Realität verstellt und in Nationalismus abgleitet.

Aus den Erfahrungen von Krieg, Verlust und Vertreibung resultiert ein Gefühl der Entfremdung, das Herberts Texte prägt; hiermit beschäftigt sich das Kapitel „Heimatlosigkeit“ (Kapitel 6). Nachdem im ersten Teil des Kapitels Werke analysiert werden, die Heimatlosigkeit und Entfremdung Ausdruck verleihen, setzt sich der zweite mit deren Ursachen und verschiedenen Verständnisebenen auseinander: Da ist zunächst die reale Erfahrung der Vertreibung, des Verlusts der Heimatstadt Lwów. Doch auch das Phänomen der Heimatlosigkeit gewinnt in den Texten Herberts eine symbolische Dimension: Über die Deutung des eigenen Erlebens im Rahmen der europäischen Kulturgeschichte – zu nennen sind hier vor allem der Mythos Arkadiens sowie der des verlorenen Paradieses – vermag ←14 | 15→Herbert die Entfremdung zu überwinden und die Heimatlosigkeit als Teil der europäischen conditio humana zu erkennen und anzunehmen.

Das Motiv der Reise – ein integrales Element im Werk Herberts – ist eine direkte Antwort auf diese Heimatlosigkeit. Ihm widmet sich Kapitel 7 („Reise“). Zunächst gilt es, das Prinzip der Reise als grundlegendes Verfahren der Welterkenntnis Herberts herauszuarbeiten. Seine Reisen durch Europa, die besonders im essayistischen Werk einen direkten Niederschlag finden, sind zugleich Suche nach den Quellen der europäischen Kultur und sinnliches Erleben des Kontinents in seiner Vielgestaltigkeit. Sie dienen der Rekonstruktion einer gemeinsamen Tradition, die trotz aller gegenwärtigen Grenzen Gültigkeit hat, und sind somit ein zentraler Bestandteil von Herberts Version einer europäischen Geopoetik. Das Motiv der Reise hat zudem eine wichtige symbolische Funktion: Mit seiner Hilfe gelingt dem Dichter eine Deutung des menschlichen Daseins in der Welt. Aus diesem Grund setzt sich der letzte Abschnitt dieses Kapitels mit Herberts Interpretation der navigatio vitae auseinander, zu der er durch die Konfrontation der eigenen historischen Erfahrung mit der im europäischen kulturellen Gedächtnis gespeicherten gelangt.

Details

Seiten
258
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631762868
ISBN (ePUB)
9783631762875
ISBN (MOBI)
9783631762882
ISBN (Hardcover)
9783631762783
DOI
10.3726/b14452
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
Geopoetik Kulturelles Gedächtnis Intertextualität Polen Europäische Identität
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 258 S.

Biographische Angaben

Marlene Bainczyk-Crescentini (Autor:in)

Marlene Bainczyk-Crescentini studierte Germanistik und Slavistik in Heidelberg und Krakau. Ihre Promotion an der Heidelberger Graduiertenschule für Geistes- und Sozialwissenschaften wurde durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert.

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