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Zur Bedeutung von Heimat für ältere Migrantinnen und Migranten

Eine multidisziplinäre und empirische Studie

von Juliane Köchling-Farahwaran (Autor:in)
©2019 Dissertation 416 Seiten

Zusammenfassung

Der Heimatbegriff wird in europäischen Gesellschaften unter dem Einfluss wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen, sozialer Mobilität und weltweiter Migration von Menschen auf der Flucht vor Krieg und Armut neu reflektiert und als eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung der persönlichen Identität verstanden. Wie bedeutsam die Diskussionen über Heimat und wie unterschiedlich Heimatkonzepte sind, zeigt sich bei den derzeitigen ambivalenten Auseinandersetzungen um die Integration von Migrant*innen. Um die alte Heimat überhaupt in eine neue transformieren zu können, bedarf es der Anerkennung durch die Aufnahmegesellschaft und der Partizipation an dieser. Durch geeignete Konzepte in der Migrationsarbeit kann die Soziale Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Unterstützung leisten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Theoretische Forschung zu Heimat, Migration und Alter
  • 2.1 Heimat aus multidisziplinärer Perspektive
  • 2.1.1 Begriffsgeschichte von Heimat
  • 2.1.2 Heimat anthropologisch betrachtet
  • 2.1.3 Soziologische Sicht auf Heimat
  • 2.1.4 Heimat als psychologisches Konzept
  • 2.1.5 Das Recht auf Heimat
  • 2.1.6 Zusammenfassung zu Heimat aus multidisziplinärer Perspektive
  • 2.2 Migration aus multidisziplinärer Perspektive
  • 2.2.1 Deutsche Geschichte der Migration
  • 2.2.2 Anthropologie der Migration
  • 2.2.3 Soziologische Aspekte der Migration
  • 2.2.3.1 Verschiedene Migrationstypen und deren Migrationsmotive
  • 2.2.3.2 Beispiele für neuere Ansätze in der soziologischen Migrationsforschung und deren kritische Beurteilung
  • 2.2.3.3 Zusammenfassung soziologischer Aspekte der Migration
  • 2.2.4 Psychologische Aspekte der Migration
  • 2.2.4.1 Akkulturation und Akkulturationsstress
  • 2.2.4.2 Voraussetzungen und Chancen von Interkulturalität
  • 2.2.4.3 Heimweh als psychologisches Phänomen in der Migrationsforschung
  • 2.2.4.4 Zusammenfassung der psychologischen Aspekte
  • 2.2.5 Kritsche Migrationsforschung
  • 2.2.6 Rechtliche Rahmenbedingungen der Migration in die Bundesrepublik Deutschland am Beispiel iranischer Migrant*innen
  • 2.2.6.1 Einbürgerung
  • 2.2.6.2 Einbürgerung von Ehe- oder Lebenspartnern*innen deutscher Bürger*innen gem. § 9 StAG
  • 2.2.6.3 Zusammenfassung rechtlicher Rahmenbedingungen der Migration in die Bundesrepublik Deutschland am Beispiel iranischer Migrant*innen
  • 2.2.7 Zusammenfassung und Fazit von Migration aus multidisziplinärer Perspektiven
  • 2.3 Definition von Alter
  • 2.4 Alter und Migration
  • 2.5 Zusammenfassung der theoretischen Forschung zu Heimat, Migration und Alter
  • 3. Empirische Forschung zur Bedeutung von Heimat für ältere Migrant*innen
  • 3.1 Qualitative Sozialforschung
  • 3.2 Gütekriterien qualitativer Forschung
  • 3.3 Biographieforschung
  • 3.4 Erhebungsmethode
  • 3.4.1 Narratives Interview
  • 3.4.2 Wechsel der Erhebungsmethode nach Durchführung der ersten Interviews
  • 3.4.3 Teilnarrative Leitfadenmethode als multivariante Interviewform
  • 3.5 „Grounded Theory“ als Auswertungsmethode
  • 4. Fallanalyse
  • 4.1 Auswertung des Interviews mit Darius
  • 4.1.1 Kategorie: Iranische Gesellschaft im Vergleich früher und heute
  • 4.1.2 Kategorie: Gefühl von Sicherheit in Deutschland
  • 4.1.3 Kategorie: Beispiele für Heimat- und Heimwehdefinitionen
  • 4.1.4 Schlüsselkategorie: Heimat ist ein rationaler Akt
  • 4.2 Auswertung des Interviews mit Fariba
  • 4.2.1 Kategorie: Heimatverständnis unter verschiedenen Lebensumständen
  • 4.2.2 Kategorie: Einstellung zum Leben und Selbstwahrnehmung in Deutschland
  • 4.2.3 Kategorie: Sicht auf heutigen Iran
  • 4.2.4 Kategorie: Hilfe von Menschen im Umfeld
  • 4.2.5 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat durch Lebenserfahrungen in Deutschland
  • 4.3 Auswertung des Interviews mit Parisa
  • 4.3.1 Kategorie: Iran der Kindheit und Jugend als Heimatverständnis
  • 4.3.2 Kategorie: Iranische Gesellschaft im Vergleich früher und heute
  • 4.3.3 Kategorie: Vergleich zwischen Gefühlen für Iran und Deutschland
  • 4.3.4 Kategorie: Schuldzuweisung
  • 4.3.5 Kategorie: Selbstwahrnehmung in Deutschland
  • 4.3.6 Kategorie: Frausein in Iran und in Deutschland
  • 4.3.7 Kategorie: Heimat ist da, wo man frei ist
  • 4.3.8 Kategorie: Heimatlosigkeit und Gefühle von Vermissen und Traurigkeit
  • 4.3.9 Schlüsselkategorie: Differenz zwischen Iran früher und heute
  • 4.3.10 Schlüsselkategorie: Vergleiche zwischen den Empfindungen für den Iran und Deutschland
  • 4.4 Auswertung des Interviews mit Parvaneh
  • 4.4.1 Kategorie: Traumatische Erlebnisse im Iran
  • 4.4.2 Kategorie: Iran der Kindheit und Jugend als Heimatverständnis
  • 4.4.3 Kategorie: Ankommen in Deutschland (Leben einrichten, Ziele haben und Aufgaben finden)
  • 4.4.4 Kategorie: Schuldzuweisungen
  • 4.4.5 Kategorie: Erfahrungen mit Deutschen
  • 4.4.6 Kategorie: Heimatgefühle für Deutschland
  • 4.4.7 Kategorie: Einfluss von Religion, Kultur und Traditionen des Iran
  • 4.4.8 Kategorie: „Heimat verloren, Sehnsucht, Heimweh“
  • 4.4.9 Kategorie: Berufstätigkeit und Berufung
  • 4.4.10 Schlüsselkategorie: Traurige Gefühle für den Iran
  • 4.4.11 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat durch iranische Prägung
  • 4.4.12 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat durch Lebenserfahrungen in Deutschland
  • 4.5 Auswertung des Interviews mit Davood
  • 4.5.1 Kategorie: Sehnsuchtsvolle Heimatgefühle für den Iran
  • 4.5.2 Kategorie: Immer als Migrant gesehen werden in Deutschland und Anerkennung
  • 4.5.3 Kategorie: Politische Aktivität in Deutschland
  • 4.5.4 Schlüsselkategorie: Traurige Gefühle für den Iran
  • 4.5.5 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat durch Lebenserfahrungen in Deutschland
  • 4.6 Auswertung des Interviews mit Shirin
  • 4.6.1 Kategorie: Kultur als Heimatdefinition
  • 4.6.2 Kategorie: Entwicklung und Bildung des Sohnes
  • 4.6.3 Kategorie: Traumatische Erlebnisse im Iran
  • 4.6.4 Kategorie: Leben aufbauen und Heimatfindung in Deutschland in Freiheit und Sicherheit
  • 4.6.5 Kategorie: Beschreibung des Iran aus heutiger Sicht
  • 4.6.6 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat durch iranische Prägung
  • 4.6.7 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat durch Lebenserfahrungen in Deutschland
  • 4.7 Auswertung des Interviews mit Bahman
  • 4.7.1 Kategorie: Unterscheidung zwischen Heimatdefinitionen und -gefühlen für den Iran und für Deutschland als Zuhause
  • 4.7.2 Kategorie: Selbstwahrnehmung und Anerkennung in Deutschland
  • 4.7.3 Schlüsselkategorie: Heimat ist ein rationaler Akt
  • 4.8 Auswertung des Interviews mit Azad
  • 4.8.1 Kategorie: Iran der Kindheit und Jugend als Heimatverständnis
  • 4.8.2 Kategorie: Vergleich zwischen dem Leben im Iran und in Deutschland
  • 4.8.3 Kategorie: Heimatgefühle für Deutschland
  • 4.8.4 Kategorie: Geographie als Erklärungsmodell
  • 4.8.5 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat durch iranische Prägung
  • 4.8.6 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat (Zuhause) durch Lebenserfahrungen in Deutschland
  • 4.9 Auswertung des Interviews mit Nesrin
  • 4.9.1 Kategorie: Iran der Kindheit und Jugend in der Familie als Heimatverständnis
  • 4.9.2 Kategorie: Leben einrichten in Deutschland
  • 4.9.3 Kategorie: Gefühle für den Iran
  • 4.9.4 Kategorie: Heimat ist da, wo die Kinder sind
  • 4.9.5 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat durch iranische Prägung
  • 4.9.6 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat durch Lebenserfahrungen in Deutschland
  • 4.10 Auswertung des Interviews mit Ali
  • 4.10.1 Kategorie: Iran der Kindheit und Jugend als Heimatverständnis
  • 4.10.2 Kategorie: Beschreibung des Iran im Vergleich früher und heute
  • 4.10.3 Kategorie: Selbstwahrnehmung in Deutschland
  • 4.10.4 Schlüsselkategorie: Bedeutung von Heimat durch iranische Prägung
  • 5. Diskussion der Interviewkohorte sowie der Schlüsselkategorien
  • 5.1 Beschreibung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Interviewkohorte nach Interviewführung und –auswertung
  • 5.2 Detaillierte Beschreibung der Schlüsselkategorien
  • 5.3 Möglichkeit einer Differenzierung zwischen Heimat und Zuhause
  • 5.4 Vergleiche der Schlüsselkategorien mit den Heimatdimensionen von Kühne und Spellerberg und den phänomenologischen Heimatkategorien nach Mitzscherlich
  • 6. Theoriegenerierung und weiterführende Fragen
  • 7. Konzeptbeispiele aus Beratung, Hilfe und Unterstützung älterer Migrant*innen
  • 7.1 Partizipative Ansätze als vielversprechende Praktiken
  • 7.1.1 Bisherige Projekte
  • 7.1.2 „Promising practices“
  • 7.1.3 Kultursensibler Ansatz individueller und interkultureller Öffnung auf gesellschaftlicher Ebene als Antwort auf den demographischen Wandel
  • 7.1.4 Logotherapeutischer Ansatz als mögliches Beratungskonzept
  • 7.2 Ausblick auf Konzepte in Beratung, Hilfe und Unterstützung älterer Migrant*innen
  • 8. „Mein Zuhause ist nicht meine eigentliche Heimat“ – ein Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang
  • 1. Vollständigenr Text der Entschließung der UN-Menschenrechtskommission vom 17. April 1998
  • 2. Tabelle: Ranghierarchien und phänomenologische Beschreibung der Kategorien nach Mitzscherlich (1997: 57) entnommen aus Teubner-Guerra (vgl. 2008: 76ff):
  • 3. Transkriptionsregeln
  • Reihenübersicht

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1.  Einleitung

Eine Heimat zu haben erscheint durch den Wandel sozialer Verhältnisse sowie die Dynamik einer immer stärker globalisierten Welt für moderne Menschen schwierig und vielleicht sogar unerreichbar – gleichzeitig erfährt der Begriff der Heimat in gesellschaftlichen und politischen Diskursen einen Aufschwung. Dies geschieht vor der allmählich wachsenden Einsicht, dass die Bundesrepublik Deutschland schon längst eine Migrationsgesellschaft ist, da viele Menschen aus verschiedenen Nationen aus unterschiedlichen Gründen mal nach Deutschland kamen und blieben. Durch aktuelle Flüchtlingsdebatten einerseits und eine verstärkte Fokussierung auf nationale Grenzen andererseits, scheint es zunehmend wichtig zu sein, die eigene Heimat zu kennen und einen positiven Bezug zu ihr zu haben. Auf diese Weise wird der Begriff der Heimat zunehmend durch Politik, Medien und soziale Netzwerke instrumentalisiert und dies, obwohl er kaum auf einen allgemeingültigen Nenner zu bringen ist. Angesichts dieser Voraussetzungen drängen sich verschiedenen Fragen auf, die sich an diejenigen richten, die ursprünglich aus einem anderen Land kamen und seit vielen Jahren – zum Teil Jahrzehnten – in Deutschland leben. Wie geht es ihnen, wie fühlen sie sich in der Bundesrepublik, welche Beziehungen haben sie zu diesem Land, welche zu ihrem Ursprungsland, was vermissen sie und was brauchen sie?

Bedingt durch meinen engeren Familienkreis sind mir einige Menschen, die vor 40 Jahren aus dem Iran nach Deutschland immigrierten, bekannt. Ihre Bemühungen und erfüllten Wünsche nach Sicherheit und Verlässlichkeit in Deutschland einerseits und ihre Verzweiflung an der deutschen Gesellschaft wegen erlebter Vorurteile und mangelnder Anerkennung andererseits waren Anlass für mich zu fragen, ob sie Deutschland tatsächlich als ihre Heimat sehen und was ihnen fehlt, sollten sich keine Heimatgefühle eingestellt haben. Ein mangelndes Heimatgefühl für das Land, in dem gelebt wird, oder sogar Heimweh nach der ursprünglichen Heimat erschienen mir als eine schwierige und deprimierende Lebenssituation, die unter Umständen sogar krankheitsbegründend sein könnte. Aus logotherapeutischer Sicht ist die Frage nach dem Sinn von etwas und die entsprechend gefundene Antwort darauf entscheidend, um ein gelingendes Leben führen zu können. Wenn also das Leben in Deutschland als sinnhaft empfunden werden kann, so müsste es im Umkehrschluss gelingend sein. Wäre ein wesentlicher Schritt dorthin nicht die Tatsache, in Deutschland eine Heimat zu haben? Die Frage nach der Bedeutung von Heimat älterer Migrant*innen wird somit eine Grundlage, aus deren Antworten sich wirksame Handlungsmethoden ← 19 | 20 → ableiten ließen, die wiederum sinnstiftend Menschen dazu verhelfen, ein gelingendes und gesundes Leben zu führen. Mein besonderer Fokus liegt dabei auf Handlungsmethoden und Konzepten der Sozialen Arbeit, die als Gesellschaftswissenschaft zu den Sozialwissenschaften gehört und sich handlungswissenschaftlich an der Lebenswelt ihrer Klient*innen orientiert (i. S. v. Thiersch 2005), so dass ich mich bei Methoden- und Konzeptbeispielen auch auf diese beziehe.

Da ich zu älteren Migrant*innen aus dem Iran einen leichteren Zugang habe, als zu Menschen aus anderen Kulturkreisen, konnte ich für die empirische Datenerhebung ältere Interviewpartner*innen in Münster, Hamburg und Kiel akquirieren und da ich des Weiteren eine Ausbildung in Logotherapie und Existenzanalyse absolvierte, kam mir diese erworbene Kompetenz während der Durchführung der Interviews dafür sehr zu gute.

Vor der empirischen Forschung werden jedoch die Begriffskomplexe von Heimat, Migration und Alter, die innerhalb der Frage nach der Bedeutung von Heimat für ältere Migrant*innen auftauchen, in Kapitel 2 der theoretischen Forschung aus multidisziplinären Perspektiven näher betrachtet. So werden Heimat und Migration analysiert und für eine sich anschließende Verbindung mit dem Begriff des Alters extrahiert. Sowohl Heimat als auch Migration sind Begriffe, für die es in jüngerer Forschung wiederholt zu neuen Forschungsansätzen kommt, da sie zunehmend in der deutschen Gesellschaft eine Rolle spielen. Sie müssen genau definiert werden, so dass sich aus ihnen Arbeitsgrundlagen ergeben, die für die sich anschließende Konzeptentwicklung z.B. im Bereich der Integration und im weiteren Verlauf für eine gelingende kultursensible Altenarbeit notwendig sind.

Heimat und Migration, die Grundbedürfnisse nach Verortung und Bewegung, werden aus den Perspektiven der Geschichte, Anthropologie, Soziologie, Psychologie und den Rechtswissenschaften beschrieben und Aspekte ihrer darin enthaltenden Annahmen, Kategorien, Konzepte und Ansätze dargestellt. Es werden Vergleichsmomente und Differenzen in diesen aufgeschlüsselt, so dass sich eine Essenz bildet, die dann mit der Bedeutung des Alters in Verbindung gebracht werden kann. Heimat ist dabei häufig wie eine Momentaufnahme zu verstehen, da sie etwas Statisches ist, das sich nicht laufend fortentwickelt und somit unverändert bleiben kann. Migration hingegen beschreibt eine aktive und bewusste Bewegung, so dass sich aus der Verbindung der Begriffe miteinander vielfältige Fragen ergeben, wie z.B. die nach dem Heimatverständnis im Alter, nach dem Altersempfinden als Migrant*in und – der Forschungsfrage – nach der Bedeutung von Heimat für ältere Migrant*innen. Dass jedoch nicht noch weitere Differenzkategorien im Rahmen der theoretischen Forschung explizit ← 20 | 21 → fokussiert werden, ist der Tatsache geschuldet, möglichst unvoreingenommen und frei an die Interviewpartner*innen herantreten zu wollen.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden somit Interviews geführt. Das Interview als eine Methode der qualitativen Sozialforschung sowie deren Auswertung und Fallanalysen werden in den anschießenden Kapiteln 3 und 4 erörtert. Die Wahl der Interviewform und die Wahl der Auswertungsmethode sind grundsätzliche Voraussetzung, um ein passgenaues Forschungsdesign fertigen zu können. Deshalb ist die exakte und folgerichtige Beschreibung des Forschungsfeldes mit der sich anschließenden Erhebungs- und Auswertungsmethode erforderlich (Kapitel 3).

Für die Forschungsfrage habe ich mich für eine Interviewmethode aus der qualitativen Forschung entschieden, da der Mensch in seinem individuellen Verständnis, resultierend aus seiner eigenen Biographie, nach der Bedeutung von Heimat befragt wird. Es geht dabei ausschließlich um individuelle Erlebnisse, Interpretationen, Eindrücke und Gefühlslagen des jeweiligen Gegenübers. Die einzelnen Interviews werden anschließend in Fallanalysen im Kapitel 4 ausgewertet, so dass die sich zeigenden Schlüsselkategorien die Grundlage für die Erkenntnis bilden, was für ältere Migrant*innen in ihrem Heimatbezug wichtig ist und zu einer besseren Lebensqualität beitragen kann. Diese werden dann in Kapitel 5 mit phänomenologischen Heimatkategorien und –dimensionen aus Soziologie und Psychologie verglichen. Ihre dargelegten Bedeutungen von Heimat führen letztlich zur Theoriegenerierung (Kapitel 6), auf deren Grundlage aufgezeigt wird, welcher Handlungsbedarf sich z.B. für die Soziale Arbeit im Bereich der kultursensiblen Altenarbeit ergibt. Dazu wird das Konzept der Transkulturalität vorgestellt. Es beleuchtet abschließend, ob und wie die eingangs gestellte Frage beantwortet wird, welche Denkanstöße sich ergeben haben und welche tatsächliche Umsetzung empfehlenswert sein könnte.

In Kapitel 7 stelle ich Konzeptbeispiele aus der Sozialen Arbeit in der Beratung, Pflege, Hilfe und Unterstützung älterer Migrant*innen vor. Soziale Benachteiligungen und Risiken, Potenziale und Ressourcen sowie politische und gesellschaftliche Handlungsbedarfe werden benannt und partizipative Ansätze als vielversprechende Praktiken mit bisherigen Projekten aufgezeigt. Des Weiteren wird der kultursensible Ansatz auf individueller und die interkulturelle Öffnung auf der gesellschaftlichen Ebene als Antwort auf den demographischen Wandel in der kultursensiblen Altenarbeit vorgestellt. Außerdem werden Grundlagen für eine Konzeptentwicklung dargelegt, die sich an die Logotherapie und Existenzanalyse von Viktor Frankl anlehnt. Frankls Menschen- und Werteverständnis ist geeignet, um älteren Migrant*innen nicht nur respektvoll begegnen ← 21 | 22 → zu können, sondern auch durch eine grundsätzliche Haltung den fruchtbaren Boden für ein gelingendes Konzept in der Begegnung mit älteren Migrant*innen zu liefern. Aus diesem Grund wird sodann verkürzt auf Frankls Logotherapie und Existenzanalyse eingegangen, woraus sich in der Konsequenz ein Ausblick auf einen Umgang mit den Bedürfnissen älterer Migrant*innen ergibt. Da die Logotherapie und Existenzanalyse ein großes Spektrum an Möglichkeiten bietet, wie diese gewinnbringend in Bereichen der Sozialen Arbeit in der Interaktion mit Klient*innen angewendet werden kann, ist es wichtig, eine dieser Möglichkeiten zu veranschaulichen. Kapitel 8 trägt wesentliche Ergebnisse der theoretischen und empirischen Forschung resümierend zusammen und zieht ein Fazit, da im Bereich der Sozialen Arbeit fortwährend Handlungsgrundlagen gebraucht werden, die durch Forschung und Wissenschaft validiert und verifiziert werden.

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2.  Theoretische Forschung zu Heimat, Migration und Alter

Ein Großteil älterer Migrant*innen lebt bereits länger als 30 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Sie sind Menschen, die einst als Ausländer*innen nach Deutschland kamen und somit eine eigene Migrationserfahrung haben. Sie kennen ein Leben sowohl im Herkunftsland, als auch eins in Deutschland. Was heißt das für sie? Welche Erfahrungen wurden gemacht, welche Entbehrungen erlebt und welche Hoffnungen halfen dabei, die eine Heimat zu verlassen und eventuell eine neue in Deutschland zu finden?

Diesen Fragen wird sich durch eine Auseinandersetzung mit den Themengebieten ‚Heimat‘, ‚Migration‘ und ‚Alter‘ genährt.

Es gibt viele Möglichkeiten den Begriff „Heimat“ zu verstehen1. „Heimat ist der Ursprung von Körper und Seele, der Mittelpunkt der Welt“ (Bota/Topçu/Pham 2012: 2), denn „jeder Mensch braucht einen Ort, an dem er sich geborgen, sicher und willkommen fühlt. Jeder Mensch sehnt sich nach einem Ort, an dem er ganz er selbst sein darf“ (Stahl 2015: 13). So bildet das Phänomen Heimat weder ein fertiges Produkt, noch stellt es eine objektive oder sogar natürliche Tatsache dar, sondern es fungiert als Interpretament, das sich sowohl emotional als auch gesellschaftlich-politisch und ideologisch ausdrücken kann (vgl. Seifert 2012: 21). Wesentlich ist, dass Heimat nicht von sich aus vorhanden, sondern als gelebter Raum von jedem einzelnen Menschen erst aktiv hervorgebracht wird (vgl. ebd.).

Das Wesen eines Menschen wird zunächst durch die Kultur in der er aufwächst, geprägt, wobei Kultur hier im explikativen und deskriptiven Sinne zu verstehen ist und das Verhalten der Menschen zueinander in Form von Tabus, Normen, Werten und Einstellungen sowie durch die Ausdrucksformen von Ritualen, Zeremonien, Sitten und Sozialstrukturen meint (vgl. Klockhohn/Kelly 1972: 73; siehe nähere Ausführungen in 2.2.2). Somit erhebt sich die Frage, was das für die, die in zwei Ländern und Kulturen aufwachsen, oder zumindest über viele Jahrzehnte hinweg dort leben, bedeuten könnte? Gilt nur die Prägung, die als ← 23 | 24 → Kind und Jugendlicher erfahren wurde, so dass letztlich nur die Verbundenheit und ein daraus resultierendes Heimatgefühl dem ursprünglichen Herkunftsland vorbehalten ist? Oder kann sich auch ein Heimatgefühl, ein intensiver positiv besetzter Bezug zu dem Ort, dem Umkreis, der Mentalität entwickeln, in der der Mensch viele Jahre, zum Teil bis ins hohe Alter lebt? Welche Bedeutung hat dann Heimat für ältere Migrant*innen? Sicher ist, dass mit dem Wort Heimat Erinnerungen hervorgerufen werden, die aufgeladen und erfüllt sind mit Sehnsüchten, Träumen, Bildern, Gefühlen, Geräuschen, Gerüchen und Geschmäckern, aber auch mit Schmerz, Leid, Verlust und Zerstörung (vgl. Vojvoda-Bongartz 2012: 234). Nach Vojvoda-Bongartz ist für die erste Generation von Migrant*innen vordergründig das Herkunftsland Heimat im Zusammenhang mit Familie und Kindheit sowie den heimatstiftenden Phänomenen der regionalen Identitäten bezüglich Landschaften, Orten und Sprache (vgl. ebd.: 241). Diejenigen allerdings, die sich bewusst verabschiedet haben, beschreiben unter anderem ihr Gefühl von Heimat als mobil, so, als wohne es der Person inne und sei an jeden Ort transportabel (vgl. ebd.), so dass Heimat auch dorthin getragen werden kann, in dem älteren Migrant*innen aktuell leben.

Regionale Identitäten und heimatliche Orientierung stehen immer stärker im Fokus wissenschaftlicher, publizistischer und politischer Diskurse, da „zum einen eine heimatliche Orientierung als Stabilitäts- und Identifikationsanker in der zunehmend globalisierten Welt verstanden wird und sich zum anderen wie eine Art Modernitätsbremse verhält, wenn beispielsweise Arbeitskräfte aus Heimatliebe vermeiden, zu Arbeitsplätzen abzuwandern“ (Schlink 2000: 22).

Verschiedene Disziplinen befassen sich mit dem breitgefächerten Themenfeld der Heimat, da gerade die steigenden Felixibilitäts- und Mobilitätserfordernisse an das Individuum das gesellschaftliche ‚Recht auf Heimat‘ in Frage stellen (vgl. Kühne/Spellerberg 2010: 13).

Fraglich wird dann, ob ein Verlust der Ortsgebundenheit eintritt, der bedingt wird durch immer stärker forcierte Individualisierungsprozesse, durch eine erhöhte Mobilität, durch globale Massenkommunikationsmedien sowie Internetkontakte. Die technische Beschleunigung von Transport, Kommunikation und Verkehr sowie die Beschleunigung des sozialen Wandels infolge der bewussten Lösung aus Traditionen und Konventionen und die permanente Steigerung des jeweiligen Lebenstempos sind verantwortlich dafür, dass Räume, Dinge und Menschen, die eine individuelle Umgebung bilden und die Welt definieren, sich in immer kürzeren Abständen verändern (vgl. Heinze/Quadflieg/Bührig 2006: 8). Diese soziale Beschleunigung transformiert daher auf fundamentale Art, wie der Mensch in die Welt gestellt ist (vgl. Rosa 2007: 21), da sie die Beziehung zum ← 24 | 25 → Raum, und somit zu den Dingen der objektiven Welt, zu den Menschen in der sozialen Welt und zur subjektiven Welt verändert. Meint Heimat die nicht zu hinterfragende Beziehung zur Welt, so ist sie für den modernen Menschen unerreichbar, und doch kann sie auch nur für diesen einen Sinn entwickeln und einen Wert haben, weshalb Rosa meint: „Heimat ist daher eine überaus paradoxe Idee“ (ebd.). Fraglich wird somit, wie sich das eigene Sein in der Welt durch diese neuzeitlichen Beschleunigungsprozesse verändert, da der Mensch ursprünglich einen apriorischen Platz in einer als gegeben erlebten Sozialordnung innehat. Mit der Moderne löst sich diese unverrückbare Bindung an Raum, Dinge und Menschen jedoch auf, so dass es zur Grundaufgabe des modernen Menschen wird, überhaupt einen Platz in der Welt zu finden, der dann ‚normal-biographisch‘ definiert wird, z.B. durch einen Beruf, eine eigene Familie, einen festen Wohnort und durch eine eigenständige religiöse sowie politische Positionierung (vgl. ebd.: 14). Dieser Auftrag wirkt sich durchaus ambivalent auf die Welterfahrung dahingehend aus, als dass die moderne Weltbeziehung als Verlust von Heimat im Sinne einer sicheren Weltverankerung verstanden werden kann, aber auch als Chance, den responsiven Ort zu finden (vgl. ebd.), wobei voraussetzend von zentraler Bedeutung für eine positive Grunderfahrung ist, dass die Welt, primär die unmittelbare Umwelt, dabei als weitgehend stabil wahrgenommen wird. Die moderne Welthaltung dagegen zielt letztlich auf die Vorstellung einer stabilen Identität a posteriori ab, d.h., dass nach der Selbstbestimmungskrise der Adoleszenz sich eine neue stabile Heimat insofern formt, als dass Beruf, Familie, Wohnort, Religion und politische Einstellung als dauerhaft und stabil gedacht und empfunden werden (vgl. ebd.). Selbstgewählte, dauerhafte Bindungen und stabile Beziehungen zu Räumen, Menschen und Dingen am richtigen, da responsiven, zum jeweiligen Individuum passenden Ort sind die Idealvorstellung der Moderne. Dynamisch bleibt diese Art des ‚In-die-Welt-Gestelltseins‘ vor allem in der Vorstellung fortwährenden Wachsens, Erweiterns und Entwickelns, da berufliche Fähigkeiten und Stellungen in der sogenannten ‚neuen Heimat‘ ständig verbessert werden (vgl. ebd.). Eine religiöse und politische Entwicklung wird angestrebt, so dass zunächst das Fremde und Neue, das sich durch die Dynamisierungsprozesse der Moderne unweigerlich ergibt, dann produktiv integriert werden kann. Neue Erfahrungen werden im Sinne der Horizonterweiterung auf der Basis einer stabilen Identität verarbeitet und vom Subjekt durch Intimisierung inkorporiert (vgl. ebd.). Dass dieser Prozess jedoch nicht gleichermaßen gelingt, da entweder die Ausgangsbedingungen nicht überwindbar und somit ungeeignet sind oder keine neue Heimat gefunden werden konnte, tut diesem normativen Ideal einer gelingenden Weltbeziehung allerdings keinen Abbruch ← 25 | 26 → (vgl. ebd.: 21). Fakt ist jedoch – und dies spätestens, seit die Digitalisierung Ende der 1980er Jahre deutlich an Ausmaß zugenommen hat -, dass die soziale Welt sich nicht mehr im Wandlungstempo einer jeweiligen Generation verändert – einem Tempo, das jeder Generation erlaubt, eine eigene, aber stabile Heimat zu definieren. Es wird sogar inzwischen eine „intragenerationale Veränderungsgeschwindigkeit“ (ebd.) erreicht, die die Idee einer stabilen Heimat, bedingt durch Alltagserfahrung, immer implausibler erscheinen lässt. Das hohe Tempo des sozialen Lebens der Moderne führt also tendenziell zu Entfremdung, was somit die Gefahr bergen kann, dass sich „die Welt in eine kalte, starre, indifferente Oberfläche verwandelt, dass sie uns dauerhaft zu tausend Wüsten, stumm und kalt wird, weil nichts mehr zur Heimat in dem Sinne gerinnt, dass es identitätsstiftende Bedeutung erlangt“ (ebd.: 21).

Die Tatsache, dass Nähe und Ferne heute Begriffe sind, die ihren Bezug zum Raum verloren haben, hat zur Folge, dass Migration zum Lebensmodell für die Zukunft wird (vgl. Wehle 2005: 170). Dieser soziale Wandel führt dann zu den Fragen, ob nach Deutschland kommende Migrant*innen die Chance erhalten, hier eine Heimat zu finden und wie es sich mit beruflich bedingten Ortswechseln verhält – führen diese zur zweiten oder sogar dritten Heimat(en) oder zum Verlust der eigenen Heimat? Ist der Kindheitsort nur Heimat für die Gebliebenen und wie verhält es sich dann für die, die gegangen sind oder ist es heute sogar überflüssig, eine Heimat zu haben? Offensichtlich nicht, da sowohl Forschung als auch Literatur sich zunehmend diesem Thema widmen. Positionen zum Thema ‚Heimat‘ reichen von einer unhinterfragten und vermehrt kritiklosen Affirmation des Heimatlichen als einem anzustrebenden Wert an sich, bis hin zu einer völligen Ablehnung regionaler Identitäten als Mittel zur Ausgrenzung Fremder (vgl. ebd.), die derzeit vermehrt durch Flüchtlingsbewegungen und Migrationsnotwendigkeiten nach Deutschland kommen und so die bisherigen sozialen Gefüge und Strukturen in Deutschland nachhaltig verändern werden. Die Zahl der in Deutschland lebenden älteren Migrant*innen wird somit in den nächsten Jahren überproportional steigen. Diese Gruppe ist dabei sehr heterogen und umfasst ein weites Spektrum von Lebenslagen und -formen, da sowohl z.B. Religion, kultureller Hintergrund, Bildungsniveau, Alter und Geschlecht relevant sein können, wenn eine eigene Bedeutung von Heimat definiert wird. Dieser Diversitätsansatz wird im Folgenden beschrieben und es werden zur Grundlagenbildung die Deutungen und Begriffsbeschreibungen von ‚Heimat‘ aus den folgenden multidisziplinären Perspektiven vorgestellt: ← 26 | 27 →

  1. Geschichte, um die stete Veränderung des Heimatbezuges im Laufe von Generationen zu zeigen;
  2. Anthropologie, um die Bedeutung eines Heimatbewusstseins und die Verankerung innerhalb einer Heimat als ein Grundbedürfnis des menschlichen Wesens an sich zu beschreiben;
  3. Soziologie, um die strukturellen Gesellschaftsformen bezüglich einer Heimatdeutung und dem Bemühen, Heimat zu schaffen, zu definieren;
  4. Psychologie, um das individuelle Verständnis, Verhalten und gegebenenfalls das Bedürfnis nach einem Heimatgefühl zu begreifen sowie die Auswirkungen bei auftretendem Heimweh zu analysieren und
  5. Rechtswissenschaften, um festzustellen, ob es überhaupt einen Rechtsanspruch auf Heimat gibt.

Weiterhin wird auch die Migration unter diesen Gesichtspunkten untersucht, um so die beiden Begriffe von Heimat und Migration miteinander verknüpfen zu können, da diese zunächst widersprüchlich zu sein scheinen. Gerade in der heutigen Zeit mit einer ständig zunehmenden Zahl an Menschen aus anderen Nationen, verschiedenen Ethnien und Religionen, die nach Deutschland kommen und hier leben werden, ist der Blick auf eine vielperspektivische Beschreibung des Begriffs Migration wichtig, da besonders aktuell. Im Rahmen des Familiennachzuges ist weiterhin damit zu rechnen, dass zukünftig auch vermehrt ältere Menschen fluchtbedingt versuchen werden, hier eine Heimat zu finden. Um diesen Menschen ein größeres Verständnis entgegenzubringen und ihre Nöte und Bedürfnisse besser verstehen zu können, bedarf es eines Wissens, das nur die besitzen, die bereits in ähnlicher Lebenslage waren und sich ein Leben in Deutschland aufgebaut haben, zum Teil aufbauen mussten. Nur durch eine Sensibilisierung im Bereich der sozialen Teilhabe für ältere Migrant*innen kann der Gefahr bevorstehender sozialer Isolation entgegengewirkt und somit vielleicht Wege eröffnet werden, diesen Menschen eine gelingende Integration in Deutschland zu ermöglichen. Es ist jedoch auch davon auszugehen, dass sich vielfältige Ressourcen zeigen werden und Copingstrategien entwickelt wurden, von denen relativ unerfahrene ältere Migrant*innen lernen könnten. Das Wissen um Heimatbezüge älterer Migrant*innen gewinnt dadurch für die Soziale Arbeit an Bedeutung.

Die Wahl der beschriebenen Disziplinen für eine multidisziplinären Perspektiven liegt darin begründet, dass sie Bezugsdiziplinen der Sozialen Arbeit sind und diese sich auf deren Grundlage handlungswissenschaftlich zu einer eigenen Disziplin entwickelt hat.

Auch wenn die Perspektiven von Heimat und Migration multidisziplinär sind, kann es zu Überschneidungen und Verzahnungen kommen, da keine ← 27 | 28 → wissenschaftliche Disziplin völlig unabhängig von mindestens einer anderen gesehen werden kann (vgl. Stichweh 1994: 17ff): Kritik an einer universellen disziplinären Ordnung und damit verbunden auch an einer universellen Erkenntnistheorie bestehen darin, dass wissenschaftliche Disziplinen als konstruiert und als Formen sozialer Institutionalisierung betrachtet werden, weshalb deren Abgrenzung voneinander vergleichsweise unklar ist (vgl. ebd.). Eine mögliche Unterscheidung von wissenschaftlichen Disziplinen lässt sich vor allem auf historische und praktische Gründe zurückführen, da wissenschaftliche Disziplinen eine notwendige „Reduktion eines Erkenntnisganzen“ (Balsiger 2005: 57) sind (vgl. Stichweh 1994: 17) und als historisch gewachsene Reproduktion gemeinsamer Tätigkeit subsumiert werden können (vgl. Gutmann 2005: 63).

Der geschichtliche Rahmen von Heimat und Migration ist wichtig, wenn verschiedene Epochen verschiedene Interpretationen und Auswirkungen von Heimat und Migration veranschaulichen, wobei die jeweilige politische und demzufolge rechtliche Situation Deutschlands eine maßgebliche Rolle spielt, so dass folglich eine Disziplinüberschneidung offensichtlich wird. Die Anthropologie als Wissenschaft vom Wesen des Menschen hingegen zeigt auf, dass der Mensch stets ein Bedürfnis nach einer Verortung hat – bezüglich des Heimatbegriffs explizit innerhalb der Kultur in Form von beispielsweise Werten, Normen, Sitten, Riten und Einstellungen. Andererseits ist auch die Bewegung im Wesen des Menschen verankert, weshalb die Migration auch anthropologisch fokussiert wird. Die Anthropologie begibt sich, ähnlich wie die Soziologie, auf eine Metaebene und betrachtet den Menschen an sich. Die Wissenschaft vom gesellschaftlichen Zusammenleben zeigt generelle Interaktionen zwischen Menschen einer Gesellschaft auf und versucht bezüglich der Begriffe von Heimat und Migration Entwicklungen nachzuzeichnen, die je nach rechtlichen Rahmenbedingungen entsprechend ausfallen, wodurch auch hier eine Verzahnung der Disziplinen dargestellt werden kann. In der Psychologie wird menschliches Erleben und Verhalten beschrieben und erklärt; das Individuum steht mit seiner Entwicklung im Laufe des Lebens sowie alle dafür maßgeblichen inneren und äußeren Ursachen oder Bedingungen im Mittelpunkt, so dass sich in der Wahl der Disziplinen ein immer konkreter werdender Bezug zum Individuum ergibt. Auch innerhalb der Psychologie spielt z.B. die soziologische Verankerung sowie Geschichte und Kultur der jeweiligen Nation eine Rolle. Die Rechtswissenschaften zeigen dann auf, welche Rechtsgrundlagen der Mensch in der Bundesrepublik Deutschland hat. Auch diese Disziplin ist eng verzahnt mit geschichtlichen und soziologischen Entwicklungen und Aspekten des Landes, die wiederum durch politische Gegebenheiten mitbestimmt werden. Historische Aspekte und Rechtsgrundlagen ← 28 | 29 → bilden somit die Rahmenbedingungen innerhalb derer Heimat und Migration stattfinden können.

Eine wesentliche Bezugsdisziplin der Sozialen Arbeit ist die Pädagogik. Da diese jedoch in den meisten Fällen Kinder und Jugendliche fokussiert (und meistens die unmittelbare Interaktion zwischen mindestens zwei Personen darstellt), wird sie nicht explizit in die multidisziplinäre Perspektive von Heimat und Migration aufgenommen. Trotzdem, und das erscheint sehr wichtig, kann es auch hier zu wesentlichen Überschneidungen und Ergänzungen kommen, wenn sich Pädagog*innen zu Themen der Heimat und Migration positionieren. Pädagogik hat die Erziehung und Bildung als Schwerpunkte, die in der Frage nach der Bedeutung von Heimat älterer Migrant*innen keine vordergründige Rolle spielen. Die sich daraus ergebenden Machtverhältnisse sind dann jedoch innerhalb der Mandatschaft der Sozialen Arbeit wiederum wichtig zu erkennen und zu klären, so dass Pädagog*innen zitiert, ggf. unter die beschriebenen Disziplinen subsumiert werden, um auf diese Fallstricke hinzuweisen. Folglich ist eine (sozial-)pädagogische Perspektive im Erarbeiten von Konzepten im Bereich der Sozialen Arbeit wichtig und wird entsprechend dezidiert dargestellt.

Anschließend werden verschiedene Definitionen von Alter fokussiert, was in sofern wesentlich ist, als dass das Alter, als ein naturgegebener und transistorischer Zustand, immer wieder eine Vorbedingung bzw. Ursache dafür ist, wie individuelle Lebenserfahrungen und generelle Weltanschauungen die Sicht auf die Bedeutung von Heimat beeinflussen. Durch die Intersektionalität von Migration und Alter wird ein differenzierter Blick auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe eröffnet, die in ihrer Heterogenität gewürdigt werden muss. In den Veröffentlichungen der letzten Jahre zeigen sich zunehmend kritische Betrachtungsweisen, da Fachdiskussionen häufig von stark vereinfachten, stereotypen Bildern älterer Migrant*innen und ihren Herkunftskulturen geprägt sind sowie einer oft unrealistischen Einschätzung ihrer Lebenssituation im Einwanderungsland (vgl. Hahn 2011: 34). Kritisiert werden zwei vorherrschende Sichtweisen auf ältere und alte Migrant*innen:

Details

Seiten
416
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631777299
ISBN (ePUB)
9783631777305
ISBN (MOBI)
9783631777312
ISBN (Paperback)
9783631777329
DOI
10.3726/b15050
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Migration Sozialforschung Transkulturalität Grounded Theory Partizipation
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 416 S., 12 Tab.

Biographische Angaben

Juliane Köchling-Farahwaran (Autor:in)

Juliane Köchling-Farahwaran wurde nach einem Master-Abschluss in Sozialer Arbeit an der Europa-Universität Flensburg promoviert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interdisziplinäre Genderforschung und Diversity an der FH Kiel in verschiedenen Projekten und Logotherapeutin.

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Titel: Zur Bedeutung von Heimat für ältere Migrantinnen und Migranten
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