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Grammatik und Ideologie

Feminisierungsstrategien im Russischen und Polnischen aus Sicht der Wissenschaft und Gesellschaft

von Dennis Scheller-Boltz (Band-Herausgeber:in)
©2020 Monographie 622 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch beleuchtet das Verhältnis von Grammatik und Ideologie im Russischen und Polnischen. Anhand der Regeln und Normen, die die sprachliche Darstellung von Geschlecht – insbesondere des weiblichen Geschlechts – bestimmen, illustriert der Autor, wie Sprachnormen durch Autoritäten festgesetzt werden, wie Sprachnormen über die Gesellschaft hinweg bestehen bleiben, aber auch wie Sprachnormen durch die Gesellschaft verändert werden können. Im Fokus stehen dabei die Fragen: Wie weit ist die Feminisierung des Russischen und Polnischen fortgeschritten? Welche sprachpolitischen und sprachplanerischen Maßnahmen werden gegenwärtig zur Gewährleistung einer geschlechtergerechten Sprache erhoben? Ist die russische und polnische Gesellschaft überhaupt offen für eine Feminisierung der Sprache? Es zeigt sich: Der Gebrauch sowie die Ablehnung von Feminativa beruhen auf Ideologien – ein Phänomen, dem für gewöhnlich sehr vorsichtig begegnet wird und das im Zusammenhang mit den in einer Gesellschaft vorherrschenden Standpunkten und Bewertungen diskutiert werden muss. Dabei spielen Feminativa im Russischen und Polnischen eine wesentlich größere Rolle als in der Regel gedacht. Feminativa sind auch nicht so ungewöhnlich, wie gemeinhin behauptet. Vielmehr lässt sich feststellen: Ideologien wirken sich auf die Normierung von Sprache und damit auf die Möglichkeiten aus, wie Sprache geschlechtergerecht gestaltet wird – oder eben nicht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titelseite
  • Impressum
  • Widmung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 0 Motivation
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Vorüberlegungen: Geschlecht in Sprachsystem und Sprachgebrauch
  • 1.2 Untersuchungsgegenstand: Fragen, Ziele, Methoden
  • 1.2.1 Leitfragen, Untersuchungsziele, Aufbau der Arbeit
  • 1.2.2 Methodische Grundlagen: Zu Diskurs und kritischer Diskursanalyse
  • 1.2.2.1 Diskurs und Diskursanalyse
  • 1.2.2.2 Kritische Diskursanalyse
  • 1.2.2.3 Kritische Diskursanalyse im Geschlechterkontext
  • 1.3 Einige Anmerkungen zu Sprache und Formulierungsweisen
  • I: Thematische Einführung und allgemeine Grundlagen
  • 1 Ideologie oder: der Mythos von Norm und Normalität
  • 1.1 Ideologie
  • 1.2 Geschlechterideologie
  • 1.2.1 Geschlechterstereotype
  • 1.2.2 Heteronormativität
  • 1.3 Sprachideologie
  • 1.4 Sprachideologien im Geschlechterkontext
  • 1.5 Norm – Tendenz – Usus: Sprachwandel in der Diskussion
  • 1.5.1 Sprachnormen: Sprache zwischen Objektivität und Ideologie
  • 1.5.2 Tendenz: Sprache in der Entwicklung
  • 1.5.3 Usus: Sprache im variablen Gebrauch
  • 1.6 Sprachwandel: Warum Sprache feminisiert wird
  • 2 Geschlecht in und durch Sprache: Der Mythos der Zweigeschlechtlichkeit
  • 2.1 Geschlecht / Sexus: zur Konstruktion des „biologischen“ Geschlechts
  • 2.2 Geschlecht / Genus: zum Verhältnis von Genus und Semantik
  • 2.3 Geschlecht / Gender: zum Prinzip des Doing und Undoing Gender
  • 3 Sprachfunktion
  • 3.1 Kommunikation, Weltbild, Diskurs: Sprachfunktionen im Überblick
  • 3.2 Wirklichkeitskonstruktion als immanente Sprachfunktion
  • 3.3 Identifikation als wirklichkeitsbezogene Sprachfunktion
  • 4 Identität und Sprache
  • 4.1 Identität: zwischen Selbstkonstruktion und Fremdwahrnehmung
  • 4.2 Identität: zur (Ir)Relevanz des Sexus
  • 4.3 Sprache als Medium zur Sichtbarmachung von Identität
  • 5 Sprachpolitik: Politische Korrektheit, Antidiskriminierung, Antisexismus
  • 5.1 Politische Korrektheit: Was Sprache leisten muss
  • 5.2 Antisexismus: zum negativen Frauenbild in und durch Sprache
  • 5.3 Politische Korrektkeit: Ein Blick auf postsozialistische Staaten
  • 5.3.1 Politische Korrektkeit und Antisexismus: Ein Blick auf Russland
  • 5.3.2 Politische Korrektkeit und Antisexismus: Ein Blick auf Polen
  • 5.4 Sprache anpassen: Antisexistische Sprachpolitik und Sprachplanung
  • 5.4.1 Antisexistische Sprachpolitik und Sprachplanung in Russland
  • 5.4.2 Antisexistische Sprachpolitik und Sprachplanung in Polen
  • 6 Gesellschaft und Identität in Russland und Polen
  • 6.1 Die russische Gesellschaft: zwischen Tradition und Moderne
  • 6.2 Die polnische Gesellschaft: zwischen Tradition und Moderne
  • II: Grammatikschreibung im Russischen und Polnischen
  • 1 Einleitung: Zu Grammatikschreibung und Grammatikwerken
  • 2 Analyse von Grammatikwerken unter genderlinguistischem Aspekt
  • 2.1 Viktor V. Vinogradov (1960): Grammatika russkogo jazyka. Moskva.
  • 2.1.1 Allgemeine Informationen: Vorwort
  • 2.1.2 Genus – Sexus – Gender
  • 2.1.3 Maskuline Personenbenennung und ihre generische Funktion
  • 2.1.4 Feminativa: zwischen Neutralität und stilistischer Markierung
  • 2.1.5 Morphosyntaktische Regeln und Kongruenzverhalten
  • 2.1.6 Pronomina
  • 2.1.6.1 kto: zur Kongruenz im Interrogativ- und Relativsatz
  • 2.1.6.2 Indefinitpronomina
  • 2.1.6.3 Negationspronomen никто
  • 2.2 Stanisław Szober (1953): Gramatyka języka polskiego. Warszawa.
  • 2.2.1 Allgemeine Informationen: Vorwort
  • 2.2.2 Genus – Sexus – Gender
  • 2.2.3 Personenbenennung: maskuline Dominanz und movierte Normalität
  • 2.2.3.1 Familienbenennungen
  • 2.2.3.2 Movierung
  • 2.2.3.2.1 Bezugsfeminativa
  • 2.2.3.2.2 Feminativa
  • 2.2.4 Pronomina
  • 2.2.4.1 Interrogativpronomina
  • 2.2.4.2 Relativpronomina
  • 2.2.4.3 Indefinitpronomina
  • 2.2.5 Morphosyntaktische Strukturen und Kongruenzverhalten
  • 2.3 Natalija Ju. Švedova (1980): Russkaja Grammatik. Moskva.
  • 2.3.1 Allgemeine Informationen: Vorwort
  • 2.3.2 Genus – Sexus – Gender
  • 2.3.3 Personenbenennung und Movierung
  • 2.3.4 Pronomina
  • 2.3.5 Morphosyntaktische Strukturen und Kongruenzverhalten
  • 2.3.6 Abschließende Bemerkungen
  • 2.4 Grzegorczykowa u.a. (1984): Morfologia. Warszawa.
  • 2.4.1 Allgemeine Informationen: Vorwort
  • 2.4.2 Genus – Sexus – Gender
  • 2.4.3 Personenbenennungen: maskuline Dominanz und neutrale Movierung
  • 2.4.4 Weiblichkeit: Morphosyntaktische Spezifika und Kongruenzverhalten
  • 2.4.5 Pronomina
  • 2.5 Pavel Lekant (2009): Sovremennyj russkij literaturnyj jazyk. Moskva.
  • 2.5.1 Allgemeine Informationen: Vorwort
  • 2.5.2 Genus – Sexus – Gender
  • 2.5.3 Sprache und Sprachentwicklung im Geschlechterkontext
  • 2.6 Alicja Nagórko (2012): Podręczna gramatyka języka polskiego. Warszawa.
  • 2.6.1 Allgemeine Informationen: Vorwort
  • 2.6.2 Nagórkos Grammatik zu Strukturalismus und Poststrukturalismus
  • 2.6.3 Genus – Sexus – Gender
  • 2.6.4 Personenbenennungen: Feminativa mit steigender Frequenz
  • 2.6.5 Morphosyntaktische Strukturen und Kongruenzverhalten
  • 2.6.6 Pronomina
  • 3 Zusammenfassung, Deutung, Diskussion
  • III: Gender und Sprachgebrauch
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Umfragen: Die Gesellschaft zu Sprache und Geschlecht
  • 1.2 Beschreiben und bewerten: Die Forschung zu Sprache und Geschlecht
  • 1.2.1 Feminativa und generische Maskulina: ein Jahrhundertüberblick
  • 1.2.2 Von Männerberufen und fehlenden Feminativa
  • 2 Wissenschaftliche Sprachbetrachtung und Sprachbewertung
  • 2.1 Sprache und Geschlecht von ca. 1900 bis ca. 1945
  • 2.2 Sprache und Geschlecht von ca. 1940 bis ca. 1990
  • 2.3 Sprache und Geschlecht nach 1990
  • 2.4 Kongruenzverhalten
  • 2.4.1 Kongruenzverhalten bis ca. 1990
  • 2.4.2 Kongruenzverhalten nach 1990
  • 2.4.3 Ausgewählte Pronomina im Geschlechterkontext
  • 2.5 Diskussion
  • 3 Gesellschaftliche Sprachbetrachtung und Sprachbewertung
  • 3.1 Pilotstudie: Polnisch I
  • 3.2 Pilotstudie: Polnisch II
  • 3.3 Umfragen: Geschlechterwahrnehmung und Sprachbewertung
  • 3.3.1 Umfrage Polnisch I
  • 3.3.2 Umfrage Polnisch II
  • 3.3.3 Umfrage Polnisch III
  • 3.3.4 Umfrage Polnisch IV
  • 3.3.5 Umfrage Polnisch V
  • 3.3.6 Umfrage Russisch
  • Schlussbemerkungen
  • Bibliografie
  • Sekundärliteratur
  • Internetquellen
  • Pressematerialien
  • Backmatter

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0 Motivation

Um 18.00 Uhr beginnt das festliche Abendessen.
Dafür wollen sich unsere Frauen schick machen.
Ich werde meinen Vortrag daher aus Zeitgründen schnell vorlesen
.

(Hörbeleg von einer Konferenz)

Gott sei Dank gibt es Frauen auf dieser Welt.
Die haben immer Taschentücher dabei
.

(Hörbeleg von einer Konferenz)

Die Gründe, die zu einer näheren Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex rund um Sprache und Geschlecht, Geschlechtlichkeit, Geschlechtsidentität, Geschlechterbilder, Geschlechterrollen, Geschlechterdiskurs … – kurzum gesagt: mit Genderlinguistik – führten und die auch für die Entstehung der vorliegenden Arbeit verantwortlich waren, basieren auf alltäglichen Eindrücken, beruflichen Erfahrungen und meinen Beobachtungen in Lehrveranstaltungen. Stets vor dem Hintergrund meiner gesellschaftlichen und individuellen, ganz persönlichen Sozialisation im deutschen Kulturraum, dabei maßgeblich geprägt vom vermittelten Welt- und Gesellschaftsbild einerseits, sowie unausweichlich unter dem Einfluss meines eigenen Sprachbewusstseins, dabei wiederum geprägt von etablierten deutschen Sprachgebrauchsnormen andererseits, fragte ich mich als Russist und Polonist lange Zeit auf anfänglich recht profan konfrontative Weise, welches Geschlechterbild, insb. welches Frauenbild heute in Russland und Polen vorherrscht und im Allgemeinen als gültig oder, unreflektiert gesagt, als „normal“ postuliert wird. Denn wenn das Russische und Polnische rein sprachlich betrachtet werden, wobei es in diesem Zusammenhang unerheblich ist, ob Sprache nun als wirklichkeitsabbildendes oder wirklichkeitsschaffendes Medium fungiert, dann zeigt sich doch recht deutlich, dass beide Slawinen bis in die Gegenwart sowohl in ihrem System als auch in ihrer Verwendung ziemlich patriarchalmännlich ausgerichtet sind und folglich auf ein sehr traditionelles Geschlechterbild und klassisches Rollenverständnis in der Gesellschaft rückschließen lassen bzw. ein solches Bild und Verständnis in sprachlicher Hinsicht aufrechterhalten. Eine Wende hin zu einem gegenderten Sprachgebrauch, wie sie bspw. in Deutschland in den 1980er Jahren einsetzte und deren Ergebnisse sich heute im Deutschen merklich beobachten lassen, blieb für das Russische und Polnische größtenteils aus bzw. hat nicht zu derart markanten Änderungen geführt.

Die Frage nach dem Bild und der Stellung der Frau im heutigen Russland und Polen weckte zudem meine Neugier nach den sich gegenwärtig in beiden Ländern generell abzeichnenden und gelebten Geschlechternormen sowie nach den angenommenen und gelebten Geschlechtsidentitäten (Scheller-Boltz 2017a). In diesem Zusammenhang drängte sich die Frage auf, ob bzw. inwieweit sich die in der Öffentlichkeit etablierten und erzeugten, dabei im Laufe der jüngsten Zeit ←13 | 14→vielleicht auch veränderten Vorstellungen von Geschlechternorm und Geschlechtsidentität sprachlich äußern. Oder anders gefragt: Lässt sich heute im Russischen und Polnischen vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschafts- und sozialpolitischer Reformen und Veränderungen ein veränderter Sprachgebrauch und ein verändertes Sprachbewusstsein beobachten, wodurch ebendiesen Vorstellungen von Geschlechternorm und Geschlechtsidentität sprachlich Rechnung getragen wird?

Nun wird weder ein modernes Mann-Frau-Rollenbild noch ein aktuelles Verständnis von Geschlecht und Geschlechtsidentität ausschließlich sprachlich-linguistisch erschlossen und geschaffen. Ein aktuelles, dabei ganzheitliches Bild rund um das Thema Geschlecht ergibt sich ja erst, wenn politische, rechtliche, wirtschaftliche und sozial-gesellschaftliche Sachverhalte in die Betrachtung einfließen. Dennoch ist der sprachliche bzw. linguistische Ansatz nicht weniger interessant und vielversprechend: Einerseits haben politische, rechtliche, wirtschaftliche, sozial-gesellschaftliche und (sozio)kulturelle Maßnahmen stets einen Einfluss auf Sprache, weil Sprache durch Versprachlichungsprozesse auf diese reagiert bzw. reagieren sollte. In Bezug auf die Abbildung von Geschlecht drängen sich in diesem Punkt die Fragen auf, wie Sprache auf die Existenz von Geschlecht reagiert bzw. ob Sprache diesbezüglich überhaupt reagiert und welche Rückschlüsse bislang erfolgte oder ausgebliebene sprachliche Gendering-Prozesse auf die russische und polnische Gesellschaft zulassen.

Andererseits wirkt Sprache aber sowohl im allgemeinen Gesellschaftskontext als auch speziell im Geschlechterkontext immer identitätsstiftend, sodass vereinfacht und ein wenig provokant behauptet werden könnte: Wer oder was nicht benannt wird, existiert nicht oder muss aufgrund geringer Bedeutung und Wertigkeit nicht benannt werden, weshalb logischerweise auch keine Identifizierung erfolgen, ergo keine Identität angenommen werden kann.

Denn Sprache ist wesentliches Medium zur Herstellung sowie zum Ausdruck von Identität. Sprache schafft Identität – sich selbst zu benennen ist Grundbedingung für die Herausbildung selbstbestimmter Identität (Reiss 2007: 25).

Die Herstellung von Selbstidentität erfolgt durch Selbst(be)nennung. Die Herstellung von Fremdidentität geschieht durch Fremd(be)nennung, wenn durch Sprache eine Person benannt und genannt, also, mit den Worten von Judith Butler (1998), „angerufen“ wird (vgl. Halliday 1978: 15). Aktive und passive Identitätsbildung kann jedoch immer nur erfolgen, wenn dafür die notwendigen sprachlichen Mittel und Möglichkeiten vorliegen und v. a. genutzt werden.

Die jüngsten politischen Ereignisse in Russland und Polen sowie die sich herausbildenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse lassen gegenwärtig nicht nur im Gesellschaftskontext die Frage nach Geschlechtsidentität(en) interessant erscheinen. Auch für die Sprache als identitätsstiftendes Medium bedarf ←14 | 15→es Untersuchungen, wie die Abbildung von Geschlechtsidentität erfolgt und bewertet wird und welche Faktoren die sprachliche Identitätsbildung beeinflussen oder womöglich auch begrenzen. Die nähere Auseinandersetzung mit diesen Fragen gewinnt u.a. deshalb an Bedeutung, da im Russischen und Polnischen die weibliche Identität immer noch sehr stark von der männlichen Identität beeinflusst, ja gar abhängig zu sein scheint, wodurch eine eigene Identitätsbildung von vornherein ausgeschlossen oder auf bestimmte, ausgewählte Kontexte beschränkt ist. Zugleich wird jedoch ein Sprachgebrauch, der unterschiedliche Geschlechtsidentitäten abbildet und sichtbar macht, sowohl von Sprachträgern als auch von Sprachträgerinnen häufig abgelehnt oder zumindest skeptisch beäugt.

Als Einstieg in diesen Fragen- und Themenkomplex seien im Folgenden zur Illustration drei authentische Fallbeispiele angeführt, wodurch meine bisher eher abstrakten Überlegungen an Konkretheit gewinnen sollen.

Fallbeispiel 1: Maskuline Dominanz im Sprachsystem

In einem Übersetzungsseminar im kasachischen Almaty stellte ich den Seminarteilnehmerinnen – es nahmen ausschließlich Frauen teil – die folgende Frage: „А кто из вас вчера говорила, что в пятницу нужно пораньше заканчивать?“1. Einige Teilnehmerinnen reagierten sofort und geboten der von mir benutzten femininen Verbform unverzüglich Einhalt. Ihre Erklärung stellte mich jedoch weniger zufrieden: кто sei geschlechtsneutral, bezöge sich sowohl auf Männer als auch auf Frauen, könne aber niemals mit einer femininen Verbform kombiniert werden. Das sprachsystemisch begründete Plädoyer der geschlechtsneutralen Maskulinität schien mir wenig plausibel, insb. in Hinblick auf den gegebenen ausschließlich weiblichen Kontext. Ich stellte mir deshalb die Frage, was geschlechtsneutral eigentlich bedeutet und wie Geschlechtsneutralität in der Sprache überhaupt ausgedrückt werden könnte (Scheller-Boltz 2017e, 2013a). Andere Teilnehmerinnen meldeten sich dagegen verhaltener, teilweise gar etwas nachdenklicher zu Wort und begannen das Paradoxon des geschlechtsneutralen Maskulinums zu hinterfragen. Thematisiert wurde dabei u.a. der interessante Aspekt, ob geschlechtsneutral immer auch geschlechtsneutral aufgefasst wird.

Ich begann mich mit dem Thema Sprache und Geschlecht näher zu beschäftigen. Meine Überlegungen gingen von der Feststellung aus, dass das Russische und Polnische flektierende Genussprachen sind. Folglich wird in diesen Sprachen kontinuierlich Geschlecht produziert, und zwar zunächst durch sprachsystemisch festgelegte Normen. Interessant ist nun allerdings, wie Geschlecht produziert und daraufhin im Sprachgebrauch angewandt und womöglich auch instrumentalisiert wird. Die Generizität und die sprachsystemisch vorgesehenen Geschlechtsmarkierungen spielen in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rol←15 | 16→le. Zudem stellt sich unweigerlich die Frage nach der Wahrnehmung und Interpretation des produzierten Geschlechts. Diskussionswürdig erscheint daher bspw. das allgemeine Postulat, dass die im grammatikalischen Bereich festgelegte Maskulinität häufig nicht maskulin, sondern geschlechtsübergreifend verwandt und in der Konsequenz auch nicht maskulin, sondern geschlechtsabstrahierend aufgefasst wird. Diese normativ begründete Behauptung, die sich auch im vorstehenden Beispiel widerspiegelt, trägt meines Erachtens eher pauschalisierenden Charakter und bedarf einer Hinterfragung.

Fallbeispiel 2: Maskuline Dominanz im Sprachgebrauch

Das primär sprachsystemisch verankerte Beispiel 1 ist sehr eng an die folgende Begebenheit gekoppelt: „Zmieniłam kierunek studiów. Teraz jestem studentem slawistyki“2, sagte mir einst eine polnische Studentin. Nun erscheint die Selbstreferenz in maskuliner Form aus der Perspektive des Deutschen doch ein wenig ungewöhnlich. Dass Frauen im deutschsprachigen Raum mit einer maskulinen Form auf sich referieren, ist zwar heute nicht unmöglich, jedoch bei Weitem nicht mehr ganz so verbreitet. Ich bin eine Slawistikstudentin ist wohl in Deutschland oder Österreich die gängige und auch am ehesten nachvollziehbare Variante (vgl. Heinrich u.a. 2008, Schröter u.a. 2012). In Russland und Polen zeichnet sich gegenwärtig immer noch ein anderes Bild. In Russland und Polen von weiblichen Personen ausgestellte und / oder unterzeichnete Dokumente weisen in der Regel maskuline Berufsbezeichnungen aus (russ: главный бухгалтер ‘leitender Buchhalter’, секретарь комиссии ‘Sekretär der Kommission’, заведующий отделом ‘Abteilungsleiter’, исполнитель ‘Auftragnehmer’, нотариус ‘Notar’; poln: zastępca ‘Vertreter’, prezydent miasta ‘Stadtpräsident’, psycholog ‘Psychologe’, referent ‘Sachbearbeiter’, dyrektor ‘Direktor’). Auf Namensschildern steht die Funktion der entsprechenden Person in maskuliner Form (russ: контролер-кассир ‘Kassierer’, продавец ‘Verkäufer’, менеджер по продаже ‘Einzelhandelskaufmann’ (auch: ῾Verkäufer᾿); poln: lekarz ‘Arzt’, menedżer ‘Manager’, sprzedawca ‘Verkäufer’). Anreden erfolgen häufig auch ohne explizite Erwähnung des weiblichen Geschlechts (z.B. russ: дорогие студенты ‘liebe Studenten’, дорогие коллеги ‘liebe Kollegen’, дорогие москвичи ‘liebe Moskauer’; poln: moi drodzy ‘meine [mask]Lieben’, drodzy studenci ‘liebe Studenten’, drodzy polacy ‘liebe Polen’, drodzy rodacy ‘liebe Mitbürger’). Dabei liegen in den meisten Fällen kodifizierte feminine Formen vor (z.B. russ: москвичмосквичка ‘Moskauer – Moskauerin’; poln: sprzedawcasprzedawczyni ‘Verkäufer – Verkäuferin’) bzw. feminine Formen könn(t)en mit vorhandenen morphologischen Mitteln durchaus gebildet werden. Dieses Verfahren ist allerdings nicht unumstritten. Während bspw. bei einigen Frauen die bislang von ver←16 | 17→einzelten polnischen Zeitschriften forcierte Verwendung von Motionssuffixen (z.B. -lożka: psycholożka, biolożka; -ka: profesorka, dyrektorka, rektorka) auf Verständnis und Befürwortung stößt, lehnen viele diese Tendenz vehement ab und sehen hierin eine Geringschätzung, Verachtung, mitunter sogar eine Abqualifizierung.

Der Sprachgebrauch wird maßgeblich vom Sprachsystem geprägt, weicht jedoch häufig auch von sprachsystemischen Normen ab. Der Sprachgebrauch als tatsächliche, häufig spontane Sprachrealisierung richtet sich nicht immer nach oktroyierten Regeln. In Bezug auf die Movierung oder generell auf die Sichtbarmachung des weiblichen Geschlechts hält allerdings auch der Sprachgebrauch größtenteils, so scheint es zumindest, an den klassischen sprachsystemischen Regeln fest bzw. ein heute wesentlich zeitgemäßer erscheinender geschlechtsspezifischer Sprachgebrauch wird von vielen Sprachträgerinnen (und auch Sprachträgern) abgelehnt und kritisiert. Die maskuline Generizität ist weiterhin der sprachliche Bezeichnungsmaßstab, denn generische Formen schließen Frauen unmittelbar mit ein – ein Standpunkt, der lange Zeit auch in der Germanistik diskutiert und dabei scharf kritisiert wurde. Denn dieser Standpunkt gerät unmittelbar ins Wanken, wenn eine konkrete Begründung für den Gebrauch und die Akzeptanz der Generizität in maskuliner Form erfragt wird. Häufig werden Fragen hierzu einfach mit Unverständnis quittiert, nicht selten begleitet von einem resignierten Verweis auf das Sprachsystem. Dabei stellt sich auch für das Russische und Polnische die Frage, ob diese Einstellung heute noch zeitgemäß erscheint.

Fallbeispiel 3: Diskursiv geprägtes Geschlechterbild

Ich erinnere mich an eine polnische Studentin, die mich im Sommersemester 2009 über ihre Schwangerschaft in Kenntnis setzte. In einem ungezwungenen Gespräch über Kinder und Erziehung offenbarte sich mir dann ziemlich schnell ihr Familienmodell mit einer sehr traditionellen Rollenverteilung. Die junge Studentin positionierte sich als Frau ganz eindeutig und überzeugt in der polnischen Gesellschaft, nämlich in erster Linie als haushütende und kinderversorgende Person. Den Höhepunkt fand das Gespräch, als sie meine Frage nach der Elternzeit in einer fast selbstlosen Weise kommentierte: „Wissen Sie, ich bin doch die Frau. Ich muss mich also auch um das Kind kümmern. Mein Mann kann das natürlich auch und mich dadurch etwas entlasten.“ Die diskursiv geprägte Erzählform der Studentin, v.a. die Wahl ihrer Modalverben, machte mich stutzig: Die Frau muss und der Mann kann sich um das Kind kümmern. Dies ist natürlich eine persönliche Haltung, allerdings bei Weitem keine individuelle Einstellung. Denn sprachlich wurde in dem Gespräch auf ganz persönliche Weise ein Mann-Frau-Bild gezeichnet und transportiert, welches sich aus dem alltäglichen Geschlechter- und Familiendiskurs ergibt. Das in Polen bis heute immer noch weit verbreitete Ge←17 | 18→sellschaftsmodell mit einer klassischen Auffassung von Mann und Frau (dabei auch innerhalb einer Familie) floss hier lediglich in sprachliche Bahnen.

Zu dieser Arbeit und zum Vorwurf der Ideologie

Die Geschlechterforschung, egal in welcher Disziplin sie betrieben wird, ist keineswegs mehr als Modethema zu stigmatisieren oder als populäre Gegenwartswissenschaft aufzufassen, denn sie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten akademisch-wissenschaftlich durchgesetzt und bis heute nicht an Aktualität verloren. Maßgeblich beeinflusst von US-amerikanischen und westeuropäischen Studien ist die Geschlechterforschung heute ebenfalls in Russland und Polen etabliert, wobei sich seit einigen Jahren auch Arbeiten mit genderlinguistischem Fokus stark mehren.

Die vorliegende Arbeit knüpft an bislang angestellte genderlinguistische Überlegungen an. Sie möchte genderlinguistische Fragen unterschiedlicher Art aufgreifen und weiterdenken, mit ihrem ganz individuellen und spezifischen Blick jedoch die russistische und polonistische Genderlinguistik in wesentlichen Punkten bereichern: Eine Analyse des russischen und polnischen Sprachsystems durch Konsultation von Grammatiken sowie ein Abgleich sprachsystemischer Normen mit dem Sprachgebrauch mittels empirischer Erhebung versprechen aus genderlinguistischer Perspektive neue Erkenntnisse, führen zu neuen Fragen und eröffnen neue Untersuchungsansätze. Interessante Ergebnisse lassen sich dabei nicht nur für das Sprachsystem und somit für die Grammatik ablesen. Interessante Aspekte offenbaren sich ferner für die Semantik und Pragmatik sowie nicht zuletzt aus soziolinguistischer und kognitiver Perspektive. Diskursive Zusammenhänge und kulturell-gesellschaftliche Bezüge sollen das Bild komplettieren, damit die Beobachtungen zu Sprache die hierfür erforderliche soziokulturelle Kontextualisierung und Einbettung erfahren.

Dennoch ist die Genderlinguistik bis heute trotz ihrer Relevanz und Berechtigung als linguistische Teildisziplin ein nicht ganz unumstrittenes Forschungsgebiet, was sicherlich in gewissem Maße aus der mitunter geäußerten Kritik an den Gender Studies generell resultiert. Denn sowohl in den Medien als auch im wissenschaftlichen Diskurs – dies über die russischen und polnischen Grenzen hinaus (vgl. Dobrovol’skij 2000, Duda 2016, Garstenauer 2010, Heinrich u.a. 2008, Hof 1995a, Łaziński 2015, Nikolaeva 2008b, Ohnheiser 2015, Posch 2011, Wawrowski 2015) – wird diese Forschungsrichtung in ihrer Gesamtheit, also ohne disziplinäre und thematische Unterscheidung, vereinzelt – dabei teilweise in stark polemischer Weise – als unwissenschaftlich dargestellt, ihre wissenschaftliche Ausrichtung und Tragfähigkeit damit angezweifelt.

Nie będę posiłkował się żadnymi badaniami naukowymi, bo dyskusja o gender z definicji nie może mieć charakteru naukowego (o.A. 2016: 19).

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Dieser Vorwurf ergeht primär aus der Auffassung, dass Geschlechterforschung zu rein ideologischen Zwecken betrieben würde, um eigene (gesellschafts)politische Ziele zu erreichen, individuelle Weltanschauungen durchzusetzen und um letztendlich Gesellschaftskritik zu üben (Frey u.a. 2013, Rosenbrock 2012, Wawrowski 2015). Fraser merkt in diesem Zusammenhang treffend an:

Es ist heutzutage üblich, politisches Engagement und akademische Tätigkeit voneinander zu trennen. Die Neokonservativen meinen, es komme einem Verrat an professionellen Prinzipien gleich, Kritik zu üben, während man bei einer Bildungseinrichtung beschäftigt ist. Auf der anderen Seite beharren unabhängige, linksgerichtete Intellektuelle darauf, daß Lehrer oder Professor zu werden die Imperative der Kritik zu verraten heiße. Und schließlich zweifeln viele politisch Aktive außerhalb der Universität am Engagement und der Verläßlichkeit der Akademiker (Fraser 1994: 9).

Und in eben einem solchen Spannungsfeld befindet sich die Geschlechterforschung. Der Geschlechterforschung wird nicht selten nachgesagt, dass sie bei vorgegebener Objektivität häufig von wissenschaftlich unangemessener Subjektivität geprägt und aufgrund einer voreingenommenen Haltung und Herangehensweise nicht wertungsfrei sei. Zudem würden in einer Reihe von Arbeiten naturgegebene Unterschiede, z.B. Genitalien, Anatomien oder Hormone, häufig, wie bei Butler (1997, 1991), ausgeblendet oder eher intentional interpretiert. Die Genderlinguistik unterliegt ferner der Kritik, dass in historisch bedingte sprachsystemische Strukturen eigenwillig eingegriffen werde resp. Pauschalurteile gefällt oder Ergebnisse subjektiv ausgewertet, interpretiert und verwandt würden. So sprach sich bspw. das Österreichische Normungsinstitut Austrian Standards im März 2014 in der sog. Binnen-I-Debatte sehr negativ über die zur Gewährleistung einer geschlechtergerechten Sprache heute unterschiedlich möglichen und weit verbreiteten Anrede- und Schreibformen aus und legte einen Entwurf für Richtlinien für die Textgestaltung (Ö-Norm A 1080) vor, in dem u.a. die Verwendung des generischen Maskulinums erneut zur Norm erhoben werden sollte (Ohnheiser 2015, Posch 2015). In ähnlicher Weise erhitzte ein offener Briefwechsel in ZEIT Campus die Gemüter. Ein Redakteur von ZEIT Campus ersetzte im Text einer Autorin das Wort Studierende durch Studenten, woraufhin es zu einer öffentlich-medialen Streitkorrespondenz kam.3 Dabei sind nicht nur die im Mailwechsel angeführten Argumente von Redakteur und Autorin interessant, sondern v.a. die Kommentare, die die gesellschaftliche Gespaltenheit in Hinblick auf geschlechtergerechte Sprache offenlegen und häufig sehr pauschale und unreflektierte Aussagen enthalten. Cameron hält in diesem Zusammenhang dagegen allzu pauschale Urteile und die in Gender-Untersuchungen häufig abgeleiteten Generalisierungen in jeder Hinsicht für fraglich und wenig zweckdienlich:

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‘Men do this, women do that’ is not only overgeneralised and stereotypical, it fails utterly to address the question of where ‘men’ and ‘women’ come from (Cameron 1995b: 42)

und plädiert nachdrücklich für neue Ansätze, da bspw. althergebrachte, heute jedoch teils obsolet erscheinende feministische Theorien und Ansätze für eine weitere und innovative Entwicklung der Genderlinguistik nicht ausreichend seien, v.a. aber ausgeschöpft scheinten, da diese in erster Linie die Faktoren Dominanz, Unterdrückung und Differenz (Lakoff 1975, Tannen 1997, 1990) in den Vordergrund stellten.

Although I find the difference approach particularly problematic, I do not think we can simply return to the good old days of the dominance approach. Both dominance and difference represented particular moments in feminism: dominance was the moment of feminist outrage, of bearing witness to oppression in all aspects of women’s lives, while difference was the moment of feminist celebration, reclaiming and revaluing women’s distinctive cultural traditions. It would be foolish to suggest that these responses are no longer necessary. But I do think the theories which underpinned them are no longer sufficient. Their moments have passed. And if feminist scholarship does not develop new theoretical positions in response to new conditions, it risks falling into obsolescence or hardening into reaction. That is what has happened to feminist linguistics: the monolithic notion of (male) power that informed early dominance work is now more or less obsolete, while the blithe assertion of women’s difference now seems either so essentialist or else so depoliticised as to be reactionary (Cameron 1995b: 39).

Die den Gender Studies – und dadurch auch der Genderlinguistik – entgegengebrachten kritischen Vorbehalte müssen und sollen an dieser Stelle explizit Erwähnung finden. Zum einen gilt ihre Beachtung als Zeichen, dass kritische Positionen beim Abfassen der vorliegenden Arbeit keineswegs ignoriert oder als irrelevant abgetan werden. Eine sachliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Argumenten dürfte nämlich für die Untersuchung nur hilfreich sein. Zum anderen dient das Wissen um kritische Stimmen als eine implizite Aufforderung, sich genderlinguistischen Themen gut durchdacht und behutsam zu nähern. Allerdings muss an dieser Stelle bereits kurz auf den Ideologie-Begriff eingegangen werden. Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass unser gesamtes Denken ideologisch geprägt ist, sodass Meinungen immer auf einem ideologischen Grundsatz fußen (Eagleton 1991: 1-5). Folglich ist auch die Beurteilung von falsch oder nicht angemessen auf Ideologie zurückzuführen (Dijk 1998a: 19).

Thus, it has been pointed out that the history of science clearly shows how much scientific knowledge and methods themselves may be based on ideologies that are in the interest of the elites, if only in the interest of scholars themselves (Dijk 1998a: 108).

Wie ich feststelle, ist auch das, was gemeinhin als neutral oder wertfrei gedeutet wird, immer auch das Resultat ideologischer Vorstellungen (Scheller-Boltz ←20 | 21→2017b, 2017c). So dürfen Gender Studies und genderlinguistische Forschung nicht als ideologisch geleitete „Pseudowissenschaft“ abgestempelt werden, da – wie in Ungarn jüngst geschehen – die Ablehnung solcher Disziplinen und z.B. das Plädieren für das generische Maskulinum ebenso ideologisch begründet sind und damit einem bestimmten Weltbild und einer bestimmten Überzeugung entspringen. Keine Überzeugung ist wertfrei. Aus diesem Grunde darf das generische Maskulinum auch nicht außerhalb jeglicher Ideologie angesiedelt und begriffen werden (Scheller-Boltz 2018a, 2017d, 2013a). D.h. einerseits,

we know that feminists, socialists, and so on ‘hold’ or ‘stand’ for a number of beliefs, beliefs about what is true or false […], and what they ‘find’ good or bad […] and what should be done about it (Dijk 1998a: 26)

andererseits bedeutet es aber auch, dass das Festhalten an der maskulinen Generizität und am androzentrischen Weltbild auch eine bestimmte Sichtweise offenlegt, was oftmals jedoch nicht zur Kenntnis genommen oder gar ignoriert wird.

Für mein Forschungsvorhaben werden die im Einzelnen verfolgten Teilziele thematisch exakt abgesteckt und aufeinander abgestimmt, um so dem Forschungsziel unter Wahrung von Objektivität und Konkretheit näherzukommen, ohne dabei politisch und aktivistisch zu wirken oder gar zu sein. Es ist durchaus legitim, sich mit dem Verhältnis von Sprache und Geschlecht zu beschäftigen. Für das Russische und Polnische erscheint es insb. vor dem sprachlichen und gesellschaftlichen Wandel seit dem Zusammenbruch des Sozialismus an der Schwelle der 1990er Jahre relevant und sinnvoll zu hinterfragen, warum diese Sprachen – bis heute – so sind, wie sie sind. Hierbei müssen notwendigerweise die Prinzipien der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der Akzeptanz von Sprache einbezogen werden, um zu beleuchten, welchen gesellschaftlichen Stellenwert Sprache, Sprachstrukturen und Sprachgebrauch gegenwärtig innehaben. Einige Phänomene und Optionen bedürfen heute nämlich aufgrund des sich wandelnden Gesellschafts- und Geschlechterbildes sicherlich einer eingehenderen Diskussion. Angemessene Methoden und klar definierte Vorgehensweisen vermeiden dabei subjektive Ansätze und subjektiv interpretierte Ergebnisse. Die vorliegende Arbeit folgt weder dem Kriterium der Präskriptivität noch will sie normsetzend sein. Sie fußt durchgehend auf einer objektiv-deskriptiven Betrachtungsweise und beschreibt Sprachstrukturen und Sprachgebrauch im Geschlechterkontext. Es erscheint jedoch berechtigt, beobachtete Phänomene kritisch zu hinterfragen und gegenderte Sprachmöglichkeiten zur Diskussion zu stellen, nicht zuletzt da ich das Thematisieren sprachlich variabler Möglichkeiten für eine allgeschlechtliche Inklusion zum gegenwärtigen Zeitpunkt ob starker sprachlicher Globalisierungsprozesse als untersuchungswürdig und schlussendlich geradezu notwendig erachte.

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1 Übers.: Wer von Ihnen meinte [Verbform im Russischen mit femininer Endung] gestern, dass wir am Freitag etwas früher aufhören müssen?

2 Übers.: Ich habe meine Studienrichtung geändert. Ich bin jetzt Slawistikstudent.

3 Online unter: www.zeit.de/2016/24/sprache-gender-studenten-streit-studierende?page=2#comments [Zugriff: 20.06.2016].

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1 Einleitung

Die Geschlechterforschung ist heute aufgrund ihrer interdisziplinären Einflüsse und Interdependenzen, mithin durch ihren interdisziplinären Charakter in vielen wissenschaftlichen Disziplinen beheimatet (Braun / Stephan 2009). Ein jeweils disziplinär anvisiertes Gender-Thema kann niemals isoliert betrachtet werden, da sich stets interdisziplinäre Fragestellungen ergeben und andere Disziplinen in die entsprechenden Analysen einfließen müssen (Bauer / Neissl 2002: 8f). Gender Studies zeichnen sich dabei weniger durch eine Methode aus. Gender ist vielmehr ein Fokus, eine Sichtweise, ein Objektiv oder eine grundlegende Idee, weshalb ich im Laufe dieser Arbeit des Öfteren auch von „Arbeiten mit Gender-Fokus“ spreche. Gender Studies nehmen Themen, Fragestellungen und Probleme rund um die Geschlechterwelt auf und setzen sich in Hinblick auf die Geschlechterordnung mit verschiedenen Aspekten und Fragen auseinander. Die Geschlechterforschung ist also

keine eigene Disziplin, sondern ein gegenstandszentrierter Forschungsbereich, der davon ausgeht, dass der eigene Gegenstand sowohl durch verschiedene Disziplinen geprägt als auch nur mit Hilfe verschiedener Disziplinen zu untersuchen ist (Scheele 2013: 32).

Gender-Untersuchungen gehen von der Annahme aus, dass Sexus als biologisches Geschlecht und Gender als soziokulturelle Geschlechtsidentität konstruiert werden bzw. sind, und fokussieren die Frage, wie diese Konstruktion erfolgt und welche Auswirkungen die geschlechtliche Konstruktion nach sich zieht. Häufig schließt sich daran die Frage an,

wie die Überstülpungen des Geschlechts durch Zwänge, Performance und Zuordnungspraxis Menschen innerhalb einer Mainstreamgesellschaft (des Anthrozentrismus [sic!] – der Vormachtstellung des Männlichen)[4] diskriminieren (Schneider 2011: 7).

Die Beschäftigung mit der Kategorie Geschlecht in einem interdisziplinären Kontext wurde schlussendlich auf sprachlicher Ebene interessant und notwendig, sodass Geschlechterfragen jedweder Art sukzessiv auch im Rahmen der Linguistik behandelt wurden und sich die Genderlinguistik als sprachwissenschaftlicher Teilbereich allmählich etablieren konnte. Denn Fragen nach geschlechterbedingter Diskriminierung, maskuliner Dominanz und (oktroyierter) Geschlechterzuweisung sind ohne Zweifel auch für die Linguistik von Interesse. In der Germanistik sind bspw. genderlinguistische Untersuchungen seit den 1980er Jahren etabliert, da die vorstehenden Themen recht frühzeitig, nämlich bereits gegen Ende der 1970er Jahre aufgegriffen wurden. Dabei ging es zunächst um sprachsyste←23 | 24→misch verankerte Normen, wie z.B. um Konstruktionen mit man (Germann 2007: 27, Pusch 1984: 86ff) oder derjenige, der …, um Syntagmen nach dem Muster wer zuletzt geht, der macht das Licht aus (Pusch 1984: 89ff) oder um Phraseme, wie sie ist nicht mehr Herr ihrer Sinne, den letzten beißen die Hunde, wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben (vgl. anschaulich Piirainen 2001, 1999). Daran schlossen sich Analysen zum aktuellen Sprachgebrauch an. Ins Zentrum rückte der geschlechtergerechte und geschlechtsneutrale sowie allgemein nicht-diskriminierende und nicht-sexistische Sprachgebrauch (Kirilina 1999d), sodass genderlinguistische Untersuchungen in den Bereich der politischen Korrektheit und der Sprachkritik übergehen (Kapitzky 2000, Mayer 2002, Wierlemann 2002, vgl. auch Baker 2008, Mills 2008, Pauwels 2010, Talbot 2010 und hierzu kritisch Dusini / Edlinger 2012). Scharf kritisiert und angeprangert wurden das häufig verwandte generische Maskulinum, darin eingeschlossen der generische Gebrauch von Pronomina (z.B. die Menstruation ist bei jedem ein bißchen anders – Pusch 1984: 149), sowie die diskriminierende Verwendung von Fräulein. Dass das Wort Fräulein als Anrede und Titulierung heute in Deutschland keine Verwendung mehr findet und bspw. Studenten durch Studierende ersetzt wurde (vgl. auch Studierendensekretariat, Studierendenwohnheim, Studierendenausweis), resultiert aus den Debatten, die um das Thema Sprache und Geschlecht geführt wurden (Jäger / Jäger 1988). Heute hat sich die germanistische Genderlinguistik thematisch-inhaltlich weiterentwickelt und widmet sich u.a. Themen, wie Geschlecht und Diskurs (Diskurslinguistik), Geschlecht und Gesellschaft (Soziolinguistik), Geschlecht in Gespräch und Konversation (Gesprächs-, Konversationsund Interaktionsanalyse) oder auch Geschlechterkonstruktion in Medien und Werbung (Jaffé / Riedel 2011, Motschenbacher 2006, Pittner 2014, Romaine 1999). Zudem etabliert sich sukzessiv die Queer-Linguistik, welche, basierend auf den Gender- und Queer-Studies, aus der Genderlinguistik hervorgegangen ist (Motschenbacher 2011, 2010a).

„Diese Welt hat immer den Männern gehört, alle Gründe aber, die man dafür angeführt hat, scheinen uns unzureichend“ – diese im Jahre 1949 von Simone de Beauvoir (hier: 1990: 69) niedergeschriebene soziologische Beobachtung lässt sich unmittelbar auf den Bereich der Sprache übertragen, gilt sie hier doch ohne Einwand in gleicher Weise. Und wie eben in vielen anderen Sprachen, so lässt sich auch im Sprachsystem und v. a. im Sprachgebrauch des Russischen und Polnischen merklich eine maskuline Dominanz beobachten, die auf eine androzentrisch strukturierte Gesellschaft zurückzuführen ist – ein Phänomen, welches im Allgemeinen unreflektiert hingenommen und kaum hinterfragt wird. Unter der Annahme, dass Gesellschaftsstrukturen und Rollenbilder sprachlich in Erscheinung treten und dass Sprache wiederum diese Strukturen und Bilder widerspiegelt, transportiert und aufrechterhält, erscheinen jedoch für beide Slawinen einige Aspekte aus genderlinguistischer Sicht durchaus diskussionswürdig. So geht ←24 | 25→es nicht nur um die Frage, ob Sprache Diskriminierung erzeugt und sowohl die Herausbildung als auch die Annahme von Identität hemmt. Von Relevanz ist ferner, ob beim Sprechen über Männer und Frauen und bei der sprachlichen Darstellung von Männern und Frauen, mithin bei der Abbildung von Sexus, auf Geschlechtertypisierungen und Geschlechterstereotype zurückgegriffen wird.

1.1 Vorüberlegungen: Geschlecht in Sprachsystem und Sprachgebrauch

In der russistischen und polonistischen Linguistik entsteht seit einiger Zeit eine Vielzahl an Arbeiten mit Gender-Fokus. Dabei sind einige Untersuchungen auf der parole-Ebene angesiedelt und beziehen sich auf den Sprachgebrauch in seinen unterschiedlichen Facetten und Vorkommensarten. So werden bspw. im Rahmen der Gesprächsanalyse das Sprechverhalten und die Kommunikationsstrategien von Männern und Frauen analysiert, wobei die meisten Arbeiten streng genommen eher der Pragmatik und Soziolinguistik zuzuordnen sind, da sie nicht die etablierten und erforderlichen gesprächsanalytischen Methoden erkennen lassen (z.B. Bilut-Homplewicz 2001, Handke 1992, Thielemann 2010, 2009, Zemskaja 1983, 1973b, Zemskaja u.a. 1993). Andere Arbeiten wenden sich dem Diskurs zu und untersuchen die gegenwärtige Darstellung und das aktuelle Verständnis von Geschlecht, Geschlechterbild und Geschlechtsidentität (z.B. Baj 2015, Graf 2015, Kirilina 2015, 2005a, 2005b, 2004, Łaziński 2015, Majnusz-Stadnik 2015, Scheller-Boltz 2017a, 2017d, 2016, 2015b, vgl. auch Scheller-Boltz 2015a, 2014), wobei hier Diskurs sehr unterschiedlich begriffen und teilweise auch synonym zu Konversation verwandt wird (Kiklewicz 2015, Kiklewicz / Uchwanowa-Szmygowa 2015, Witosz 2010, Witosz u.a. 2016). Viele Untersuchungen sind jedoch – wie bereits in den Jahrzehnten vor 1990 – auf der langue-Ebene angesiedelt und betrachten – auch weiterhin – sprachsystemische Normen und Richtlinien im Lichte der Geschlechterdichotomie. Auf diese Arbeiten wird im Laufe dieser Untersuchung detailliert eingegangen, sodass zu diesem Zeitpunkt eine Auswahlbibliografie nicht notwendig erscheint.

Die vorliegende genderlinguistische Untersuchung ist anders geartet. Es geht zunächst einmal um das schlichte Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten, d.h., das, was das Sprachsystem des Russischen und Polnischen vorgibt und was dann im – dem Sprachsystem konvergenten oder divergenten – Sprachgebrauch produziert und geäußert wird, soll nicht einfach nur als gegeben und etabliert hingenommen werden, eine Einstellung, die von vielen Sprachträger_innen an den Tag gelegt wird. „Es ist halt so“ gleicht eher einer resignierten, unreflektierten Auffassung von Sprache und zeugt nicht wirklich von sprachlicher Sensibilität. Nicht zuletzt ist diese, grundsätzlich auf ideologischen Vorstellungen und Wertungen basierende Erklärung im Beauvoirschen Sinne schlichtweg „unzureichend“. Denn einige sprachsystemische Vorgaben sind aus genderlinguisti←25 | 26→scher Perspektive aufgrund ihres diskriminierenden Potenzials und ihrer nur scheinbar geschlechtsneutralen Ausrichtung kritisch zu beleuchten und zu diskutieren. Insb. vor dem Hintergrund, dass die Sowjetunion und die Volksrepublik Polen im 20. Jahrhundert eine komplette Gleichstellungspolitik einschlugen und mithin Frauen und Männer im sozial-gesellschaftlichen Leben gleich behandelten oder zumindest deren Gleichbehandlung und Gleichstellung propagierten, lässt sich diskutieren, ob die Gleichstellungspolitik ihren Niederschlag auch im Sprachsystem und Sprachgebrauch gefunden hat, sodass ebenso von einer Geschlechtergleichstellung auf sprachlicher Ebene die Rede sein kann. Mit Blick auf die historischen Ereignisse, darin eingeschlossen die jüngsten Demokratisierungs- und Emanzipationsprozesse in beiden Ländern, knüpft hieran aus heutiger Sicht unmittelbar die Frage nach dem aktuellen Bild von Mann und Frau sowie ihrer womöglich veränderten Stellung innerhalb der Gesellschaft an. Bezogen auf Sprache bedeutet dies wiederum, das aktuelle sprachliche Abbild von Geschlecht zu untersuchen, um zu erfahren, ob das Sprachsystem und der Sprachgebrauch über die Jahrzehnte hinweg Veränderungen unterlagen, ausgelöst durch den Wandel der Geschlechterbilder und Geschlechterverhältnisse. Besonderes Interesse gilt demnach auch der Frage nach den (intra- und extralinguistischen) Faktoren, die einen sprachlichen Wandel auslös(t)en oder aber verhinder(te)n, somit also die sprachliche Abbildung von Geschlecht und Identität ermöglichen resp. nicht ermöglichen.

Als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit diesem Fragen- und Themenkomplex dient die Annahme, dass Sprache ein bifunktionales Medium ist (Weedon 1991). Auf der einen Seite fungiert Sprache als wirklichkeitsabbildendes Medium. Sprache trägt die Vorstellung von Welt und Gesellschaft in sich, sodass Anschauungen und Idealbilder einer Gemeinschaft in ihrer Sprache verankert sind, d.h. abgebildet werden. Die Wirklichkeitsabbildung lässt sich dabei primär im Sprachsystem verorten, da dieses unsere Vorstellungen von Welt und Gesellschaft in sich vereint bzw. da dem Sprachsystem zu entnehmen ist, wie unsere Wirklichkeit eigentlich gedacht wird (vgl. Kusterle 2011: 33f). Auf der anderen Seite fungiert Sprache als wirklichkeitsschaffendes oder wirklichkeitsstiftendes Medium. Es darf davon ausgegangen werden, dass im Falle der Aktivierung oder des Gebrauchs von Sprache stets eine Vorstellung von Welt und Gesellschaft erzeugt und wiedergegeben, also reproduziert wird. Anschauungen und Idealbilder einer Gemeinschaft werden durch den Gebrauch ihrer Sprache geschaffen und aufrechterhalten, sodass unser Denken und Handeln sprachlich an die Öffentlichkeit gelangt (Lakoff 1971). Folglich ist die Wirklichkeitsschaffung primär im Sprachgebrauch verankert, wobei dieser auf das Sprachsystem rekurriert. Denn das Sprachsystem hält Richtlinien und Konventionen bereit, die den Gebrauch von Sprache erst möglich machen. Das Sprachsystem und der Sprachgebrauch stellen demzufolge einen „Wahrheitsanspruch, mit eigenen ←26 | 27→Werten und Bedeutungen“ (Wodak 1989: 80). Durch die in ihnen herrschenden Ideologien erzeugen sie eine „sekundäre Realität und damit auch eine gesellschaftliche Praxis, tabuisieren und verdrängen die bisherige Wirklichkeit“ (Wodak 1989: 80).

Für eine Analyse der Stellung von Frau und Mann in der Sprache sowie der sprachlichen Abbildung und Konstruktion von Geschlechterbildern müssen folgerichtig das Sprachsystem und der Sprachgebrauch gleichermaßen untersucht und ihre gegenseitigen Einflüsse eruiert werden, denn beide Bereiche stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander. Dieser Umstand lässt aus genderlinguistischer Perspektive die Fragen aufkommen,

a)wie Geschlecht in seinen unterschiedlichen Konzeptionen in Sprachsystem und Sprachgebrauch dargestellt und produziert wird,

b)wie mit Geschlechterbildern und Geschlechtsidentitäten sprachlich umgegangen wird und

c)ob im Sprachsystem und Sprachgebrauch überhaupt eine geschlechtergerechte und geschlechterorientierte, ergo eine gegenderte Sprache angestrebt und schlussendlich auch erzeugt wird bzw. werden kann.

Aufschlussreich gestaltet sich in diesem Zusammenhang ein konfrontativer Zugang, inwieweit nämlich langue-immanente Normen und Konventionen sowie parole-spezifische Äußerungen einander beeinflussen und wie konvergent oder divergent beide Bereiche bezüglich der Abbildung von Sexus als biologischem Geschlecht und Gender als soziokulturell konstruierter Geschlechtsidentität vorgehen. Hierzu sollen zunächst ein paar grundlegende Anmerkungen angeführt werden:

Das Sprachsystem (langue) besteht aus sprachlichen Einheiten, die den Wortschatz einer Sprache formieren. Dabei kommt den einzelnen Einheiten nach allgemeiner Auffassung jeweils eine durch Arbitrarität und Konventionalität geregelte und letztendlich überindividuell festgelegte lexikalische und / oder grammatikalische Bedeutung zu, die kontextlose Gültigkeit besitzt (Usualität) und lexikografisch erfasst ist bzw. erfasst werden kann. Folglich steuert das Sprachsystem den Einsatz, das Verstehen und die Beurteilung sprachlicher Einheiten und reguliert die Möglichkeiten, Bedeutungen auszuloten, festzulegen und letztendlich in bestimmter Weise zu verwenden. Darüber hinaus ist das Sprachsystem ein Konglomerat aus Regeln, Vorschriften und Hinweisen primär zur Grammatik, also zur „Lehre von den morphologischen und syntaktischen Regularitäten einer natürlichen Sprache“ (Bußmann 1990: 287), die eine Sprachgemeinschaft dazu anhalten sollen, die in einer Sprache vorhandenen sprachlichen Einheiten grammatikalisch richtig zu gebrauchen und abzuwandeln (Morphologie) und in korrekter Weise miteinander zu längeren syntaktischen Einheiten zu kombinieren (Syntax / Morphosyntax). Das Sprachsystem trägt demgemäß einen stark normativ-präskriptiven und explizit wertenden Charakter und geht aufgrund sei←27 | 28→ner abstrakten Beschaffenheit und als vom Individuum abstrahierendes, also überindividuelles System stets von idealen Sprechenden aus, die alle ein gemeinsames Sprachwissen teilen. Das Sprachsystem gibt vor, welche Formen als richtig und falsch einzustufen sind, welche Kombinationen und Konstruktionen (auch potenziell) möglich und damit bildbar und welche unmöglich und damit unbildbar sind und verweist, v.a. bei Abweichungen oder Sonderfällen, häufig auf stilistische, konnotative und soziolinguistisch bedingte Markierungen. Das Sprachsystem lässt sich auf den ersten Blick als ein wenig flexibles System auffassen, da es sehr selten Veränderungen oder Abwandlungen erfährt. V.a. sind markante Wandlungsprozesse und einschneidende Änderungen auf sprachsystemischer Ebene nur vereinzelt zu beobachten. Dennoch ist das Sprachsystem kein gänzlich konstantes und hermetisch verschlossenes System, sodass sich im Sprachgebrauch produzierte Neuerungen mit kontinuierlichem Charakter durchaus im Sprachsystem verankern können, wenngleich sich dies als ein langwieriger und zögerlicher Prozess erweist.

Der Sprachgebrauch (parole) als konkrete, tatsächliche Realisierung des Sprachsystems ist dagegen der (mehr oder weniger) individuelle, von der Sprachgemeinschaft ausgehende Gebrauch, also die selbstständige, sprecherintendierte Anwendung der einzelnen sprachlichen Einheiten, des Wortschatzes insgesamt und ferner der sprachsystemisch festgelegten Richtlinien zur Produktion von Äußerungen sowie zur Herstellung und zum Vollzug von Kommunikation. Der Sprachgebrauch erfolgt im Wesentlichen auf der Grundlage des Sprachsystems, d.h., auf langue -Ebene festgesetzte und etablierte Vorgaben fließen direkt in den Sprachgebrauch ein und ermöglichen diesen erst. Allerdings lassen sich im Sprachgebrauch auch sprachsystemische Abweichungen beobachten, woraus der individuelle Charakter des Sprachgebrauchs resultiert.

Diese allgemeinbekannten und auf den ersten Blick wohl trivial wirkenden Auffassungen von Sprachsystem und Sprachgebrauch verdeutlichen zwei Tatsachen: Das Sprachsystem hat zum Ziel, Normen und Richtlinien aufzustellen, die einen problemlosen und korrekten Sprachgebrauch ermöglichen. Der Sprachgebrauch als eigentliche Realisierung dieser Normen und Richtlinien verdeutlicht wiederum, wie tatsächlich auf das Sprachsystem zurückgegriffen wird und wie sprachsystemische Vorgaben in der lebendigen Rede von Sprechenden umgesetzt werden. Für die vorliegende genderlinguistische Untersuchung sind dabei die folgenden Aspekte bedeutsam: Da das Russische und Polnische flektierende Genussprachen sind, findet auf sprachsystemischer Ebene nicht nur das existente biologische Geschlecht (Sexus) Berücksichtigung, sondern auch das grammatikalische Geschlecht (Genus) beeinflusst in hohem Maße das Sprachsystem. Denn das Sprachsystem legt grammatikalische Richtlinien fest und muss dafür sowohl auf das biologische als auch auf das grammatikalische Geschlecht zurückgreifen und diese in das System der russischen und polnischen Sprache ←28 | 29→integrieren bzw. miteinander in Einklang bringen. Dadurch werden grammatikalische Grundsätze, Richtlinien und Konstruktionen festgesetzt oder – im Butlerschen Sinne (1997, 1991) – produziert und aufgrund ihrer Wiederholbarkeit und Regelhaftigkeit tradiert. Interessant erscheint hier die Frage, in welchem Verhältnis Sexus und Genus erscheinen und welche diskursiven und damit ideologischen Momente die Geschlechtlichkeit grammatikalischer Strukturen beeinflussen. Dass dabei die Frage aufkommt, wie der sprachsystemisch vorgegebene Umgang mit Sexus und Genus in der aktuellen Rede zum Tragen kommt, darauf wurde vorstehend bereits verwiesen. Ergänzend hierzu erscheint jedoch interessant, wie Sprechende sprachsystemische Richtlinien einschätzen, auf welchen Bewertungskriterien und Vorstellungen diese Einschätzung basiert und wie sich sprachsystemische Normen auf semantische Decodierungsprozesse und allgemein kognitive Prozesse, somit auf Verstehen, Wahrnehmung und Interaktion auswirken.

Details

Seiten
622
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631810859
ISBN (ePUB)
9783631810866
ISBN (MOBI)
9783631810873
ISBN (Paperback)
9783631810507
DOI
10.3726/b16505
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Genderlinguistik Queerlinguistik Wortbildung Lexikologie Soziolinguistik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 622 S., 19 s/w Abb.

Biographische Angaben

Dennis Scheller-Boltz (Band-Herausgeber:in)

Dennis Scheller-Boltz ist Slawist, Translatologe und widmet sich zudem Fragen zur allgemeinen und angewandten Sprachwissenschaft. Er war als post-doc-Assistent an den Universitäten Opole, Innsbruck und an der Wirtschaftsuniversität Wien tätig und war zudem Gastdozent an den Universitäten in Edinburgh, Edmonton, Glasgow, Ljubljana, Mailand und Warschau. Er widmet sich Fragen zur slawischen Wortbildung, Lexikografie sowie Gender- und Queer-Linguistik und ist Autor zahlreicher Monografien, Herausgaben und Artikeln zu diesen Themen.

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Titel: Grammatik und Ideologie
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