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Spuren von Flucht und Asyl in Zweitsprachbiografien

von Barbara Thiel (Autor:in)
©2020 Dissertation 366 Seiten

Zusammenfassung

Es geht um die Frage, welche Aneignungsprozesse der deutschen Sprache sich bei Geflüchteten im jungen Erwachsenenalter rekonstruieren lassen. Der Beantwortung liegt eine soziokulturelle Auffassung von Sprachaneignung zugrunde, die den Lebens- und Lernkontext als konstitutiv für den Spracherwerb erachtet. Datengrundlage sind biografisch-narrative Interviews mit Geflüchteten an Berufsschulen, die narrationsanalytisch ausgewertet wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Aneignung des Deutschen eng mit weiteren biografischen Entwicklungen verknüpft ist, wie dem Zugang zu beruflicher Bildung. Zudem wird deutlich, dass ein Leben vor dem Hintergrund von Flucht und Asyl Auswirkungen auf die Zweitsprachbiografie hat. Aus den Forschungserkenntnissen lassen sich Ansätze zur Unterstützung von Sprachaneignungsprozessen bei Geflüchteten in der beruflichen Bildung und darüber hinaus ableiten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Ausgangssituation und Gesetzeslage
  • 1.1. Flucht und Asyl um das Jahr 2015 weltweit: ein knapper Überblick
  • 1.2. Flucht und Asyl um das Jahr 2015 mit Blick auf Deutschland
  • 1.2.1. Zahlenmäßiger Überblick
  • 1.2.2. Aufenthaltsrecht und der Zugang zum Arbeits- bzw. Ausbildungsmarkt
  • 1.2.3. Wohnsituation
  • 2. Berufsschulische Maßnahmen für neu Zugewanderte
  • 2.1. Berufsschulische Maßnahmen für neu Zugewanderte in Deutschland
  • 2.2. Berufsintegrationsklassen in Bayern
  • 2.2.1. Struktur der Berufsintegrationsklassen
  • 2.2.2. Verortung des Spracherwerbs Deutsch innerhalb des Curriculums
  • 2.2.3. Forschungsstand zu den Berufsintegrationsklassen
  • 3. Begriffsklärung: Geflüchtete*r
  • 3.1. Allgemeine Überlegungen zur Begriffsklärung
  • 3.2. Flüchtling als rechtlicher Status
  • 3.3. Flüchtling als Label und Ergebnis von Diskursen
  • 3.4. Zur Begrifflichkeit: Flüchtling oder Geflüchtete*r?
  • 3.5. Geflüchtete*r: Definition im Rahmen vorliegender Studie
  • 4. Zweitspracherwerbstheoretische Bezugspunkte
  • 4.1. Zweitspracherwerbsforschung: Verortung der soziokulturellen Theorie
  • 4.2. Benennungspraxis
  • 4.3. Zweitspracherwerb aus soziokultureller Perspektive im engeren Sinn
  • 4.3.1. Bezugnahme auf Lev Vygotskij
  • 4.3.2. Mediation, Zone der nächsten Entwicklung, Selbstregulation, Interiorisierung
  • 4.4. Zweitspracherwerb aus soziokultureller Perspektive im weiteren Sinn
  • 4.4.1. Lernen als Partizipation
  • 4.4.2. Lernen in sozialen Zusammenhängen
  • 4.4.3. Lernen mittels investements
  • 4.4.3.1. Ideologie
  • 4.4.3.2. Identität
  • 4.4.3.3. Positionierungen
  • 4.4.3.4. Kapital
  • 4.4.4. Lernen mittels agency
  • 4.4.5. Lernen in communities of practice
  • 5. Fragestellung und Zielsetzung
  • 6. Methodologische Einbettung
  • 6.1. Biografieforschung
  • 6.1.1. Grundlagen der Biografieforschung
  • 6.1.2. Biografisch-narrative Interviews
  • 6.1.2.1. Erhebungsinstrument
  • 6.1.2.2. Erzähltes gleicht Erlebtem?
  • 6.1.2.3. Erzählen als universale oder kulturell geprägte Kompetenz
  • 6.1.2.4. Narratives Interview als soziales Ereignis
  • 6.1.3. Narrationsanalyse
  • 6.2. Sprachbiografieforschung
  • 6.2.1. Parallelen zur Biografieforschung
  • 6.2.2. Sprachbiografien als wachsende Forschungslandschaft
  • 6.2.3. Vielfalt von Sprachbiografien hinsichtlich verschiedener Aspekte
  • 6.2.3.1. Funktion
  • 6.2.3.2. Protagonist*innen
  • 6.2.3.3. Spracherwerbskontext
  • 6.2.3.4. Erkenntnisinteresse und theoretische Bezugspunkte
  • 6.2.3.5. Erhebungsmethodik
  • 6.2.3.6. Auswertungsverfahren
  • 6.2.3.7. Benennung
  • 7. Konkretes forschungsmethodisches Vorgehen
  • 7.1. Vorbereitung der Studie
  • 7.2. Datenerhebung
  • 7.3. Aufbereitung der Daten
  • 7.4. Interviewsprache Deutsch
  • 7.5. Auswahl von drei Fällen und ihre Verortung im Feld
  • 7.6. Auswertung der Daten
  • 8. Reflexion methodischer Teilaspekte
  • 8.1. Interviewsprache Deutsch
  • 8.2. Narratives Interview als soziales Ereignis
  • 8.3. Narrationsanalyse
  • 9. Fallanalysen
  • 9.1. Alishah: „ich habe gedacht (.) ich weiß es noch nicht was=was geht aber ich komme wieder zurück“
  • 9.1.1. Einführende Worte zu Alishah
  • 9.1.2. Rekonstruierte biografische Stationen
  • 9.1.3. Deutschlernsituation in der Sammelunterkunft (ES 1)
  • 9.1.4. Deutschlernsituation in der Gemeinschaftsunterkunft (ES 2)
  • 9.1.5. Internet über Handy (ES 3)
  • 9.1.6. PC, Facebook (ES 4, NaS 1)
  • 9.1.7. Deutschkurs bei der Flüchtlingshilfe (ES 5)
  • 9.1.8. Erste Kontakte mit dem beruflichen Bildungssystem und der Berufsschule (ES 6)
  • 9.1.9. Erstes Praktikum als Kfz-Mechatroniker (ES 7)
  • 9.1.10. Ausbildungsplatzsuche zum Ende des ersten Schuljahres (ES 8)
  • 9.1.11. Zweites Praktikum als Kfz-Mechatroniker (ES 9)
  • 9.1.12. Kein Zeugnis nach dem ersten Schuljahr (ES 10)
  • 9.1.13. Praktikum als Dachdecker (ES 11)
  • 9.1.14. Drittes Praktikum als Kfz-Mechatroniker (ES 12)
  • 9.1.15. Zweites Schuljahr (ES 13)
  • 9.1.16. QA-Vorbereitung (ES 14)
  • 9.1.17. Deutsche Bekannte (ES 15, NaS 4)
  • 9.1.18. Kontakt zu deutschsprachigen Personen (NaS 3)
  • 9.1.19. Zweitsprachbiografische Gesamtformung
  • 9.2. Essam: „hab ich schon selbst die::=die problemen=mit meinem betreuer AUFgelöst“
  • 9.2.1. Einführende Worte zu Essam
  • 9.2.2. Rekonstruierte biografische Stationen
  • 9.2.3. Ankunft in Deutschland und die Anfänge des Zweitspracherwerb, Teil 1 (ES 1)
  • 9.2.4. Anfänge des Zweitspracherwerbs, Teil 2 (NaS 2)
  • 9.2.5. Umzug und an den heutigen Wohnort und Anfänge in der Berufsschule (ES 2)
  • 9.2.6. Berufsschule (NaS 3)
  • 9.2.7. Das Problem des ausgelacht-Werdens und seine Auflösung, Teil 1 (ES 3)
  • 9.2.8. Das Problem des ausgelacht-Werdens und seine Auflösung, Teil 2 (NaS 4)
  • 9.2.9. Lehrwerk und Wortschatz (ES 4)
  • 9.2.10. Wortschatzerwerb ohne Zuhilfenahme der Muttersprache, Teil 1 (ES 5)
  • 9.2.11. Wortschatzerwerb ohne Zuhilfenahme der Muttersprache, Teil 2 (NaS 12)
  • 9.2.12. Eigenbeurteilung seiner Sprachkenntnisse anhand eines Vergleich (ES 6)
  • 9.2.13. Lerntipps einer Lehrkraft aus der Heimat, Teil 1 und 2 (ES 7, NaS 1)
  • 9.2.14. Essams Lernzeiten, Teil 1 (ES 8)
  • 9.2.15. Kontakte zu anderen Praktikanten (ES 9)
  • 9.2.16. Bilanzierung und Essams Lernzeiten, Teil 2 (ES 10)
  • 9.2.17. Professionelles Betreuungsverhältnis (NaS 5)
  • 9.2.18. Näheres über die Betreuungssituation (NaS 6)
  • 9.2.19. Bedeutsamkeit von Kontakten für den Zweitspracherwerb (NaS 7)
  • 9.2.20. Entwicklung von Kontakten (NaS 8)
  • 9.2.21. Praktika (NaS 9)
  • 9.2.22. Telefonische Kontaktaufnahme (NaS 10)
  • 9.2.23. Anstehender Umzug in eine neue Wohnung (NaS 11)
  • 9.2.24. Bilanzierung der Zweitsprachbiografie (NaS 13)
  • 9.2.25. Angestrebte Deutschkompetenz (NaS 14)
  • 9.2.26. Gesprächsabschluss (NaS 15)
  • 9.2.27. Zweitsprachbiografische Gesamtformung
  • 9.3. Karim: „du musst alles rausschmeißen (.) wie eine müll ZACK“
  • 9.3.1. Einführende Worte zu Karim
  • 9.3.2. Rekonstruierte biografische Stationen
  • 9.3.3. Einjähriger Sprachkurs (ES 1)
  • 9.3.4. Situationsbeschreibung und Zukunftswünsche (ES 2)
  • 9.3.5. Berufsschule, Teil 1 (ES 3)
  • 9.3.6. Vom mangelnden Verstehen zur Selbstständigkeit (ES 4)
  • 9.3.7. Geplanter Bildungsweg (ES 5)
  • 9.3.8. Sprachliche Zukunftspläne (ES 6)
  • 9.3.9. Zwischenbilanz
  • 9.3.10. Ankunft in Deutschland (NaS 1)
  • 9.3.11. Wohnsituation in der Heimat (NaS 2)
  • 9.3.12. Anfängliche Sprachschwierigkeiten (NaS 3)
  • 9.3.13. Mangelnde Akzeptanz des Englischen (NaS 4)
  • 9.3.14. Wohnungssuche (NaS 6)
  • 9.3.15. Tagesablauf der Mutter (NaS 7)
  • 9.3.16. Bedingungen staatlicher Unterstützung (NaS 8)
  • 9.3.17. Integrationskurs (NaS 9)
  • 9.3.18. Berufsschule, Teil 2 (NaS 11)
  • 9.3.19. Lernbilanz gegenüber Personen in der Heimat (NaS 12)
  • 9.3.20. Probleme mit dem Deutschen (NaS 13)
  • 9.3.21. Wochen- und Tagesroutinen (NaS 14)
  • 9.3.22. Zwei Ex-Freundinnen (NaS 15)
  • 9.3.23. Kontakte zu Jungs in und aus der Heimat (NaS 17)
  • 9.3.24. Tod des Vaters und der Versuch des Vergessens (NaS 18)
  • 9.3.25. Visum für Deutschland (NaS 25)
  • 9.3.26. Bilanz des Zweitspracherwerbs (NaS 31)
  • 9.3.27. Ruheloser Kopf (NaS 36)
  • 9.3.28. Zweitsprachbiografische Gesamtformung
  • 10. Erkenntnisse
  • 10.1. Aneignungsprozesse der deutschen Sprache in verschiedenen Varianten
  • 10.1.1. Kampf um Agentivität
  • 10.1.1.1. Widerstand gegen eine drohende Verlaufskurve
  • 10.1.1.2. Kampf um Emanzipation
  • 10.1.2. Umgang mit Neuem
  • 10.1.2.1. Bedarf nach Informationen, Orientierung und Plausibilisierungen
  • 10.1.2.2. Zwischen Akzeptanz und Internalisierung
  • 10.1.3. Biografisch geprägtes (Un-)Vermögen zur Reflexion
  • 10.2. Zweitsprache Deutsch: zur Bedeutsamkeit, Geflüchteter zu sein
  • 10.2.1. Die Bedeutsamkeit des ungesicherten Aufenthalts
  • 10.2.2. Die Bedeutsamkeit der Lebenssituation als unbegleiteter Minderjähriger
  • 10.2.3. Die Bedeutsamkeit der individuellen Fluchtgeschichte
  • 10.3. Zur Rolle der Lebensumstände des jungen Erwachsenenalters für die Sprachaneignung
  • 10.3.1. Berufliche Integration
  • 10.3.2. Soziale Integration
  • 11. Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Anhang 1: Transkriptionskonventionen
  • Reihenübersicht

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Einleitung

– Sommer 2015 –

Welche spontanen Assoziationen haben Menschen, wenn sie diese Kombination aus Jahreszeit und Jahreszahl vernehmen? Vieles deutet daraufhin, dass der Sommer 2015 als der „lange Sommer der Migration“ (u. a. Hess et al. 2017) in das kollektive Gedächtnis der in Deutschland und Europa lebenden Bürger*innen1 eingehen wird. Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ (Bundesregierung 2015) mag hierfür prototypisch stehen und gilt manchen inzwischen als „Sprachdenkmal“ (Almstadt 2017, S. 195). Und so scheint sich „seit der Flüchtlingskrise“ zu einem stehenden Begriff zu entwickeln (Vertovec 2015, S. 10).

Migration im Sinne einer räumlichen Verlegung des Lebensmittelpunktes (BAMF 2016b, S. 27) ist kein neues Phänomen. Vielmehr verlassen Menschen seit jeher ihre Heimat, um anderenorts (temporär) sesshaft zu werden (Livi Bacci 2015). Die große Aufmerksamkeit für das Thema im Jahr 2015 mag jedoch daher rühren, dass die quantitative Dimension von Migration nach Deutschland im Vergleich zu den Vorjahren ungewöhnlich groß ist2 und unter den neu Zugewanderten viele Menschen sind, die in der Bundesrepublik Deutschland um Asyl bitten.3 Dass Migration im Kontext Flucht und Asyl mehr Aufmerksamkeit generiert als beispielsweise Zuwanderung im Rahmen der EU-Freizügigkeit zeigt die Tatsache, dass die sogenannte Flüchtlingskrise im Jahr 2015 sechs Monate lang das Thema mit den meisten Sendeminuten in den TV-Nachrichten deutscher Medien ist.4 Dabei stammen selbst im Jahr 2015 42,7 ←15 | 16→Prozent der Migrant*innen aus EU-Ländern wie Italien, Polen oder Rumänien (BAMF 2016b, S. 31f.). Sie erhalten jedoch mitnichten auch nur annähernd so viel mediale Beachtung wie Geflüchtete.

Der Zugang zu Bildung und die Ausgestaltung konkreter Maßnahmen ist im Falle erwachsener Migrant*innen auf Bundesebene geregelt. Für den sprachlichen Bereich können die Integrationskurse als wesentliches Instrument genannt werden (BAMF 2016c). Für den Regelschulbetrieb sind hingegen die Bundesländer zuständig (vgl. z. B. Paiva Lareiro 2019). Jedes Bundesland legt eigenständig fest, bis zu welcher Altersgrenze junge Menschen der Schulpflicht unterliegen bzw. das Recht haben, eine Schule zu besuchen. In Bayern gilt für 16- bis 21-Jährige (in Ausnahmefällen auch 25-Jährige) eine gesetzlich vorgeschriebene Berufsschulpflicht (StMUK 2000). Für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen wurden hierzu Berufsintegrationsklassen eingerichtet (vgl. Kapitel 2.2). Die Vermittlung der deutschen Sprache auf Niveau A2.2 bzw. B1 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) ist curricular verankertes Ziel dieser Klassen (ISB 2016, 2017). Dabei lässt sich einerseits die Überlegung anstellen, inwiefern Sprachaneignung (ausschließlich) im Unterricht geschieht und ob sie andererseits nicht von weitaus mehr als von Lehrplanvorgaben und Unterrichtssettings beeinflusst ist.

Ein Teil der neu Zugewanderten in Berufsintegrationsklassen sind Geflüchtete. Dabei versteht vorliegende Arbeit unter einem*einer Geflüchteten eine Person, welche in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat oder deren Eltern dies in der Vergangenheit getan haben, unabhängig von der diesbezüglich getroffenen oder noch ausstehenden Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland. Die Arbeit widmet sich demnach nicht nur Menschen, denen auf Grundlage des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK) die sogenannte Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, sondern nimmt stattdessen eine breitere Definition vor und dabei die Perspektive der Schüler*innen ein. Als Geflüchtete gelten hier alle Schüler*innen, die sich selbst oder deren Eltern sich mittels eines Asylantrags in Deutschland als asylsuchend positionieren. Dazu gehören Personen mit positiv oder mit negativ beschiedenem Asylantrag ebenso wie Personen, die noch auf die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland warten. Zusätzlich werden hier auch Schüler*innen zur Gruppe der Geflüchteten gezählt, die im Rahmen des Familiennachzugs einreisen, nachdem die Eltern in der Vergangenheit auf Basis eines Asylantrags eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben.

Für die genannten Personengruppen gelten jedoch unterschiedliche Aufenthaltsregelungen. So ist der Zugang zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt, genauso wie die Wohnsituation vom Aufenthaltsstatus abhängig (vgl. Kapitel ←16 | 17→1.2.2 und 1.2.3). Es ist denkbar, dass dieser rechtliche Rahmen, die damit einhergehende konkrete Aufenthaltssituation, die sich (nicht) ergebenden Handlungsspielräume sowie – allgemeiner gesagt – der gesamte Lebenskontext Lernprozesse entscheidend prägen. Vorliegende Arbeit nimmt mit dem Spracherwerb Deutsch einen spezifischen Lernprozess in den Blick. Die Forschungsfrage lautet konkret:

Welche Aneignungsprozesse der deutschen Sprache lassen sich bei Geflüchteten im jungen Erwachsenenalter rekonstruieren?

Die Beantwortung der Forschungsfrage geschieht vor dem Hintergrund einer am soziokulturellen Paradigma ausgerichteten Zweitspracherwerbsforschung. Soziokulturelle Ansätze vertreten die Ansicht, dass Sprachaneignung ein soziales Ereignis ist, an Möglichkeiten zur Partizipation gebunden ist und sich nicht losgelöst von den Geschehnissen und Erfahrungen des gesamten Lebens sowie seinen Rahmenbedingungen betrachten lässt. Vielmehr muss es darum gehen, die Aneignung der deutschen Sprache und den Lebenskontext in ihrem Wechselverhältnis zu begreifen (vgl. z. B. Frawley und Lantolf 1985; Lantolf 2000b, 2005; Lantolf und Thorne 2006; Lantolf und Beckett 2009; Lantolf 2010).

So ist ein methodologisches Vorgehen notwendig, das Zweitsprachaneignung eingebunden in die gesamte Biografie mit all ihren Einflüssen untersucht. Datengrundlage zur Beantwortung der Forschungsfrage sind deshalb narrative Interviews, in deren Mittelpunkt die Zweitsprachbiografien von Geflüchteten im jungen Erwachsenenalter stehen. Die erhobenen Narrationen ermöglichen eine Rekonstruktion der emischen Perspektive der Betroffenen. Zudem ergibt sich die Möglichkeit, die schrittweise, prozesshafte Annäherung an die deutsche Sprache zu untersuchen. Die Studie geht der Frage nach, wie die Dinge gekommen sind und sich entwickelt haben. Nicht das Resultat des Lernprozesses, sondern vielmehr der Weg dorthin soll im Fokus stehen. Dabei wird sich zeigen, welche Rolle der Lebenskontext für die Aneignung der deutschen Sprache spielt und inwiefern die Zweitsprachbiografien Spuren von Flucht und Asyl aufweisen.

Insgesamt gliedert sich der Aufbau der Arbeit wie folgt:

In Kapitel 1 erfolgt eine Darstellung der Ausgangssituation und der bestehenden Gesetzeslage für Geflüchtete um das Jahr 2015. Danach werden in Kapitel 2 berufsschulische Maßnahmen für neu Zugewanderte vorgestellt. Der Fokus liegt hierbei auf den bayerischen Berufsintegrationsklassen. Kapitel 1 und 2 sind weniger als informative Hinführung auf die Empirie zu verstehen, sondern vielmehr als Darlegung von Aspekten, welche das Potenzial haben, Zweitsprachbiografien ←17 | 18→entscheidend zu prägen. In Kapitel 3 ist die zuvor bereits genannte Definition von Geflüchtete*r ausführlich darzulegen und mit anderen Auffassungen zu kontrastieren. Dabei wird auch begründet, weshalb mit dem Begriff des*der Geflüchtete*n gearbeitet wird, anstatt alternativ Flüchtling zu verwenden. Kapitel 4 stellt die zweitspracherwerbstheoretischen Bezugspunkte der Arbeit dar. Es ist dabei auf soziokulturelle Ansätze im engeren und weiteren Sinn einzugehen, denen gemein ist, dass sie Sprachaneignung als soziales, kontextsensitives Ereignis begreifen. Kapitel 5 erläutert die Forschungsfrage und Zielsetzung der Arbeit. Die methodologische Einbettung erfolgt in Kapitel 6, wobei sowohl die Biografieforschung als auch die Sprachbiografieforschung betrachtet werden. Im Anschluss wird das konkrete forschungsmethodische Vorgehen von der Vorbereitung der Studie bis zur Auswertung der Daten offengelegt (Kapitel 7) sowie eine Reflexion methodischer Teilaspekte vorgenommen (Kapitel 8). Drei von insgesamt 16 geführten Interviews werden schließlich mithilfe der Narrationsanalyse nach Schütze (1983) einer vertieften Auswertung unterzogen. Die Analysen der Zweitsprachbiografien von Alishah, Essam und Karim sind Gegenstand von Kapitel 9. Aus den Einzelfallauswertungen lassen sich letztlich in Kapitel 10 fallübergreifende Erkenntnisse ableiten. Die Arbeit schließt mit einem Fazit in Kapitel 11.


1 In dieser Arbeit wird mit Sternchen gegendert. Das Sternchen steht dabei für Frauen, Männer und alle Identitäten, die sich nicht mit einem dieser beiden Geschlechter identifizieren. Damit orientiert sich die Arbeit an den Empfehlungen der Stabsstelle Chancengleichheit der TU München, welche die Verwendung des generischen Maskulins für unangebracht hält (https://www.chancengleichheit.tum.de/links-downloads/gendergerechte-sprache-und-bildliche-darstellung/ [zuletzt geprüft am 15.09.2019]).

2 „Im Jahr 2015 wurden etwa 2,14 Millionen Zuzüge insgesamt registriert, ein Anstieg um 45,9% im Vergleich zum Vorjahr (1,46 Millionen). Dies stellt den höchsten Wert seit dem Beginn der Aufzeichnung der Statistik im Jahr 1950 dar“ (BAMF 2016b, S. 29).

3 So erreicht die Anzahl an eingereichten Asylanträgen im Jahr 2015 in der Bundesrepublik Deutschland „einen historischen Höchststand“ (BAMF 2016b, S. 92).

4 Das Institut für empirische Medienforschung informiert jeden Monat über die in der Tagesschau (ARD, 20 Uhr), heute (ZDF, 19 Uhr), RTL aktuell und den Sat. 1 Nachrichten quantitativ am ausführlichsten berichteten Themen (http://www.ifem.de/ [zuletzt geprüft am 03.10.2018]).

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1. Ausgangssituation und Gesetzeslage

Im Folgenden wird die Ausgangssituation der Forschungsarbeit beschrieben. Zunächst werden ausgewählte Eckpunkte zu Flucht und Asyl weltweit angesprochen (Kapitel 1.1). Danach steht im Speziellen die Situation Deutschlands im Fokus (Kapitel 1.2). Da im empirischen Teil der Arbeit mit Interviews aus dem Jahr 2015 gearbeitet werden wird, nehmen die folgenden Teilkapitel die Situation um 2015 in den Blick. Die Interviewten sind im Jahr 2012 bzw. 2013 nach Deutschland eingereist. Von daher ist es sinnvoll, insbesondere den Zeitraum 2012 bis 2015 zu beleuchten. Sofern es für das Verständnis der Ausgangslage wichtig erscheint, wird zudem auf Entwicklungen nach 2015 verwiesen.

1.1. Flucht und Asyl um das Jahr 2015 weltweit: ein knapper Überblick

Im Jahr 2015 sind mit weltweit 65,3 Millionen Menschen so viele Personen auf der Flucht wie noch nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen (UNHCR 2016).5 Pro Tag verlassen dabei 34.000 Personen ihre Heimat und somit 24 pro Minute. Das sind weniger Neuvertreibungen als im vorherigen Jahr, jedoch bedeutend mehr als noch vor zehn Jahren (ebd., S. 2). In den Jahren 2013, 2014 und 2015 stammen jeweils mehr als 50 Prozent der weltweit Geflüchteten aus nur drei Ländern: Syrien, Afghanistan und Somalia (UNHCR 2014, 2015, 2016). 2012 waren unter den gut 50 Prozent noch der Sudan sowie der Irak (UNHCR 2013, S. 13). Afghanistan stand mehr als drei Jahrzehnte an der Spitze, bevor Syrien das Land im Jahr 2014 von dieser Position verdrängte (UNHCR 2015, S. 13).

Ein Bruchteil der weltweit Geflüchteten stellt fern der Heimat einen Asylantrag. 2015 wird diesbezüglich mit weltweit 2,45 Millionen Asylgesuchen, die in verschiedenen Staaten der Welt oder alternativ beim UNHCR eingingen, ein Rekordhoch erzielt (UNHCR 2016, S. 37). Gleichzeitig erhält kein anderes Land so viele Asylanträge wie Deutschland. Die USA, Schweden, Russland, die Türkei ←19 | 20→und Österreich folgen mit weiten Abständen (ebd., S. 37ff.).6 Eine Betrachtung der Situation in der Zeitspanne 2012 bis 2015 macht besonders zwei Aspekte deutlich: Die Asylantragszahlen steigen zum einen stetig, ausgehend von 0,89 Millionen in 2012; zum anderen steht Deutschland weltweit jeweils an Platz eins oder zwei in der Statistik der Länder, bei denen am häufigsten Asylgesuche eingehen (UNHCR 2013, S. 25ff., 2014, S. 27ff., 2015, S. 27ff., 2016, S. 37ff.). Ein Ranking der Länder ist an dieser Stelle jedoch kritisch zu betrachten, unter anderem da es sich bei den aufnehmenden Ländern teils um in der Größe stark differierende Staaten mit unterschiedlicher Wirtschaftskraft handelt.

1.2. Flucht und Asyl um das Jahr 2015 mit Blick auf Deutschland

Die folgenden Teilkapitel geben einen zahlenmäßigen (Kapitel 1.2.1) und themenfokussierten Überblick über Flucht und Asyl um das Jahr 2015 mit Blick auf Deutschland. Dabei kommen unter den Stichworten Aufenthaltsrecht, Zugang zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt (Kapitel 1.2.2) sowie Wohnsituation (Kapitel 1.2.3), Aspekte zur Sprache, welche das Potential haben, sich für Zweitsprachbiografien von Geflüchteten als relevant zu erweisen.

1.2.1. Zahlenmäßiger Überblick

Wie im BAMF-Migrationsbericht festgehalten, kommen im Jahr 2015 890.000 Asylbegehrende nach Deutschland, registriert durch das EASY-System7 (BAMF 2016b). „Aufgrund der im Jahr 2015 stark gestiegenen Zahl an Asylsuchenden war die Annahme eines Asylantrags im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der erstmaligen Registrierung als Asylbegehrender (vor der persönlichen Antragstellung) im Berichtsjahr kaum möglich, so dass im Jahr 2015 eine Differenz zwischen den Registrierungszahlen des EASY-Systems und den Asylantragszahlen festzustellen war“ (ebd., S. 89). So können innerhalb der zwölf Monate des Jahres lediglich 441.899 Erstanträge gestellt werden und damit etwa halb so viele wie die Anzahl an Asylbegehren. Im Jahr 2016 kommt es als verspäteter Effekt zu besonders hohen Antragszahlen: Insgesamt gehen 722.370 ←20 | 21→Erstanträge ein und damit so viele wie noch nie seit Ende des Zweiten Weltkriegs (BAMF 2019). Die Jahre zuvor stellten demgegenüber eine noch völlig andere Situation dar: 2012 erhielt der deutsche Staat lediglich 64.539 Erstanträge, 2013 dann erstmals seit 1997 wieder über 100.000 und in 2014 kam es zu insgesamt 173.072 Antragsstellungen (ebd., S. 124).

Mit Blick auf alle Herkunftsländer sind 2015 29,4 Prozent der Erstantragstellenden zwischen 16 und 25 Jahre alt (BAMF 2016a, S. 21), 2014 waren es 27,1 Prozent (BAMF 2015a, S. 21) und 2013 befanden sich 24,8 Prozent in dieser Alterskohorte (BAMF 2014, S. 21). 2012 fiel der Prozentwert mit 23,9 nochmals geringfügig geringer aus (BAMF 2013, S. 21). Knapp ein Viertel bis knapp ein Drittel der neu Zugewanderten reist somit zu einem Lebenszeitpunkt ein, wo berufsschulische Angebote als Bildungs- und Integrationsmaßnahme in Frage kommen.

Die Bleibewahrscheinlichkeit der Asylbewerber*innen ist bzgl. der verschiedenen Herkunftsländer sehr unterschiedlich. Exemplarisch seien folgende Zahlen und Länder für den Zeitraum 2012 bis 2015 angeführt:8 Für Mali liegt die ←21 | 22→Schutzquote innerhalb dieser vier Jahre immer unter fünf Prozent, für den Irak hingegen über 50 Prozent. Zudem existieren Länder mit starken Schwankungen der Schutzquote innerhalb weniger Jahre, wie beispielsweise Eritrea. So werden 2014 55,2 Prozent der Asylanträge positiv beschieden, ein Jahr später sind es 92,1 Prozent. Dabei ist festzuhalten, dass eine nicht positive Entscheidung eines Asylantrags nicht automatisch mit einer Ablehnung gleichzusetzen ist, da auch sogenannte formelle Entscheidungen fallen. Damit ist vor allem gemeint, dass Deutschland sich für die Prüfung des Antrags nicht zuständig sieht, da der*die Asylbewerbende bereits in einem anderen EU-Staat registriert wurde und gemäß der Dublin Verordnungen somit dort die Entscheidung zu fallen hat.9 Dass diese Variante keine Ausnahme, sondern teilweise die Regel darstellt, zeigt exemplarisch der Fall Malis im Jahr 2015: In 78,6 Prozent der Fälle wurde ein Asylvorbringen nicht näher geprüft, sondern es wurde versucht, diese Aufgabe an einen anderen EU-Mitgliedsstaat zu übergeben.

Personen, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kommen, werden in deutschen Asylstatistiken oft nicht abgebildet.10 Sie selbst haben nie einen Asylantrag in Deutschland gestellt, sondern eine Einreise- und Aufenthaltserlaubnis erhalten, nachdem ein*e Familienangehörige*r im Vorfeld ein Asylverfahren positiv zum Abschluss bringen konnte. In vorliegender Arbeit zählen sie dennoch zur Gruppe der Geflüchteten, was in Kapitel 3.5 erläutert ist.

1.2.2. Aufenthaltsrecht und der Zugang zum Arbeits- bzw. Ausbildungsmarkt

In diesem Teilkapitel wird näher auf die aufenthaltsrechtliche Situation der Studienteilnehmer*innen eingegangen. So folgen Erläuterungen zur ←22 | 23→Aufenthaltsgestattung, zur Aufenthaltserlaubnis sowie zur Duldung.11 Da der Zugang zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt vom Aufenthaltsstatus abhängig ist, kommen auch diese Aspekte daran angeknüpft zur Sprache.

Tabelle 1: Gesetzesgrundlage zwischen 2012 und 2015 (eigene Darstellung)

Personen mit Aufenthaltsgestattung befinden sich im laufenden Asylverfahren, der Ausgang ist ungewiss. In ihren Fällen ist ein Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nicht pauschal gegeben, die Ausländerbehörde bringt in den Dokumenten einen entsprechenden Vermerk als Nebenbestimmung an. Eine Beschäftigungserlaubnis bedarf darüber hinaus der Zustimmung durch die Bundesagentur für Arbeit (AufenthG, § 4, Abs. 2), für eine Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf ist eine derartige Zustimmung nicht notwendig (AufenthG, § 4, Abs. 2; BeschV, § 32, Abs. 4).

Details

Seiten
366
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631830864
ISBN (ePUB)
9783631830871
ISBN (MOBI)
9783631830888
ISBN (Hardcover)
9783631827062
DOI
10.3726/b17272
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Flüchtling Geflüchteter Sprachbiografie Narrationsanalyse Soziokulturelle Theorie Zweitspracherwerb Soziokulturelle Perspektive Sprachaneignung Biografisch-narratives Interview Berufsintegrationsklasse
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 366 S., 14 s/w Abb., 6 Tab.

Biographische Angaben

Barbara Thiel (Autor:in)

Barbara Thiel war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Berufliche Bildung an der School of Education der TU München. Zuvor forschte und lehrte sie am Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln.

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Titel: Spuren von Flucht und Asyl in Zweitsprachbiografien
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