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Askese als Verhaltensrevolte

von Konstanze Caysa (Autor:in)
©2015 Monographie 264 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch stellt eine umfassende Philosophie der Askese dar und befasst sich mit dem Problem der Autoevolution des Menschen. Zugleich enthält es eine Philosophie der Stimmungen und Gefühle. Askese galt einst als Ausstiegsstrategie der Protestanten aus dem Katholizismus. Heute steht sie für eine perfekte Anpassung an den digitalen Kapitalismus, für Geschwindigkeit, Innovation, Flexibilität. Asketen gelten als apollinische Karrieristen, die mit ihrer ständigen Verfügbarkeit den Sozialstaat abschaffen wollen. Der Mensch ist ein Askesewesen, dessen Begierde durch die Sublimierung dionysischer Energie gehemmt wird. De facto ist die heutige Askese eine Art der Verhaltensrevolte gegenüber dem modernen Konsumismus, die auf einer modernen «Ökonomie des Heils» und einer «Ökonomie des Gehorsams» basiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • 0. Einleitung
  • 1. Autoevolution im Spannungsfeld von Subjekt- und Projektsein
  • 2. Autoevolution als transhumanistische Lebensanschauung
  • 3. Autoevolution und Körperkonservatismus
  • 3.1 Was aber ist überhaupt Ressentiment?
  • 3.2 Affekt und Ressentiment
  • 3.3 Logik und Logos
  • 3.4 Was ist Genie?
  • 4. Das Maß der Autoevolution nach Nietzsche
  • 5. Die neue Wertsetzung der Autoevolution
  • 6. Einübung in die Autoevolution – Asketismus
  • 6.1 Askese als Herrschaft und Knechtschaft
  • 6.2 Askese als rauschhafte Selbstunterwerfung – Vom Unterworfen-Sein
  • 6.3 Askese als rauschhafte Selbstbeherrschung – Vom Beherrscht-Sein
  • 6.4 Askese als Rausch der Freiheit
  • 6.5 Askese als Funktionslust – Vom Ereignis
  • 6.5.1 Empraxis und Wiederholung
  • 6.5.2 Funktionslust
  • 6.5.3 Biotechnologie und Selbsttechniken
  • 6.6 Askese als Buße
  • 7. Das ästhetische Medium der Autoevolution – Zeugung im Schönen
  • 8. Die Perspektive der asketischen Autoevolution – Der schöne Körper
  • 9. Sehnsuchtskörper
  • 9.1 Ahnung
  • 9.2 Instinkt
  • 9.3 Trieb
  • 9.4 Angst
  • 9.5 „Vom Schnee“
  • 10. Die Große Sehnsucht des Dromosophen
  • 11. Literatur

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Vorwort

Das hier vorliegende Buch ist entstanden durch den Versuch einer not-wendigen, an der Zeit seienden, Weiterführung meiner empraktischen Rauschphilosophie.1 Der Rausch kann, wird er bis ins Letzte maßlos ausgelebt, zum absoluten Schweigen führen, in den Tod. Soll er aber doch der Lebensintensivierung weiter dienen, bedarf er einer Explikation. Explikation ist Reflexion, Protrahierbarkeit: maßvolle Askese.

Auf der Suche nach einer wahrhaft rauschhaft verfassten, existenziell gelebten Eigenwelt des Künstlerphilosophen haben mich meine Studien weiter in die Erforschung der Metatropie getrieben, die einen gezügelten selbstbeherrschten Eigenwillen des Einzelnen zur Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz hat. Die Fähigkeit des Einzelnen sich in sein Leben einzuüben, asketisch nach eigenen, selbst gesetzten Regeln leben zu lernen und so Herr seiner Selbst zu werden: Künstlerphilosoph – Metatropist zu sein auf einer, durch eine Verhaltensrevolte hervorgebrachten, Eigen-Insel des Lebens.

Auch in sehr schwierigen Situationen während des Prozesses des Schreibens haben meine Eltern, Sieglinde und Joachim Schwarzwald, stets zu mir gehalten, womit sie mir halfen, nicht ganz „den Kopf zu verlieren“. Dafür bin ich ihnen außerordentlich dankbar.

Ich bedanke mich außerdem sehr bei Harko Benkert, der mich bei den Korrekturen des Buches stark unterstützt hat.

Mein größter Dank gilt meinem Mann, Volker Caysa, der mir bei dem existenziellen Schritt, gelebter Askese Ausdruck zu verleihen, um sie selbst auch aushalten zu können, mehr als auf die Sprünge geholfen hat. Er war und ist für mich das Rettende in den großen Gefahren, die das Leben bereitzuhalten im Stande ist. Ihm sei dieses Buch – gerade in seiner lebenskünstlerischen Radikalität – gewidmet.

Potsdam und Leipzig, im Frühjahr 2015

Konstanze Caysa

1 Siehe: Schwarzwald, K.: Sehnsüchtige Körper – Eine Metatropie. Berlin/Münster 2011.

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0. Einleitung

Askese galt einst als Ausstiegsstrategie der Protestanten aus dem Katholizismus. Heute gilt sie als perfekte Anpassung an den digitalen Kapitalismus. Askese ist heute Geschwindigkeit, Innovation, Flexibilität.2 Asketen gelten als „apollinische Karrieristen“, die mit ihrer ständigen Verfügbarkeit den Sozialstaat abschaffen wollen. Es gibt Askese nicht ohne Luxus. Genauso wie es Workoholismus nicht ohne Funkultur gibt. Nicht bloß Entsagung, sondern Verschwendung, Luxus charakterisiert die Moderne.

Der Mensch ist ein Askesewesen. Seine dionysischen Antriebe werden durch Apollonisierung bzw. Stilisierung verstetigt. Dazu gehört wesentlich die Sublimierung dionysischer Energie, indem die Begierde gehemmt wird. Der dionysische „Antriebsüberschuss“3 muss durch Askese stilisiert werden. Dadurch wird die dionysische Antriebskraft geformt.

Askese ist „sachliche Sinnlichkeit“4. Askese bedeutet In-Form-Kommen und In-Form-Bleiben. Dafür scheint paradigmatisch der Athlet zu stehen. Als Asket ist der Athlet der homo futurus. Askese erscheint als „Devotio moderna“5. De facto ist sie aber eine Art der Verhaltensrevolte gegenüber dem modernen Konsumismus, die auf einer modernen „Ökonomie des Heils“ und einer „Ökonomie des Gehorsams“6 basiert. Disziplin ist nicht vom Gehorsam zu trennen, Gehorsam schließt ein, auf jemanden zu hören – auf den Lehrer, auf den Trainer. Offensichtlich ist Disziplin nicht von Züchtigungsphantasien zu trennen, die in jeder Art von Training offenbar werden. Aber was ist gegen die Züchtigung der Sinnlichkeit zu sagen in einer entgrenzten hedonistischen Gesellschaft? Der moderne Mensch ist ein homo sportivus. Er vergegenständlicht seine Bewegungsfantasien: „Das Sichvergegenständlichen, Einsetzen und Führen von Bewegungen ist im sensomotorischen Bereich der Übergang von unwillkürlichen zu gewollten Handlungen, von Abläufen zu Vollzügen. Wollen ist also Führungsleistung oder das geführte, fantasiemäßig vorentworfene Vollziehen von ‚Bewegungen‘“.7 Dadurch ← 9 | 10 → werden Bewegungsfantasien kontrolliert wiederholbar, aus einem dionysischen Antrieb wird ein geregeltes Können, das im Wettkampf, der körperlich und geistig zu verstehen ist, zu einer befriedeten Konkurrenz wird, durch die kriegerische Spannungen, die immer auch in modernen Gesellschaften anwesend sind, zivilisiert werden.

Der Wettkampf ist die Konzentration auf das Ereignis, das erwartet wird, aber nicht vollständig geplant werden kann. Dieses Hinausgehen in die Arena, auf das Podium, auf die Bühne hat etwas Mystisches. Es ist der Gang in das Ungewisse, das nur teilweise geplant, aber unvorhersehbar gelingen kann: ereignishaft. Im Wettkampf zählt nur das Jetzt, die Gegenwart allein. Der Augenblick kann nur im Jetzt und Hier ergriffen werden. Zweifel zählen nicht. Nutze Deine Versuche! Die anscheinende Vergänglichkeit des Augenblicks kann Ewigkeit bedeuten. Gelingen tut Not. Man wird nur einmal geboren. Versagen ist Tod. Das gilt aber nicht nur für den Sport, sondern für die gesamte Unterhaltungsindustrie, in der der Sport nur ein Segment ist.

Was Menschen im intellektuell-körperlichen Wettkampf sind, sind sie durch harte Arbeit an sich selbst geworden. Im Wettkampf zeigen sich die Grenzen der körperlichen Verfügungsgewalt, die Grenzen unserer planbaren Leistungsfähigkeit.

Intellektuelle Körperlichkeit ist ein Mittel zur Erlangung asketischer Ausgewähltheit, die über die Rangordnung der Subjekte entscheidet. Dabei ist der Erfolg wichtiger als die Gesinnung oder moralische Intention des Handelnden. Von dorther ist auch erklärbar, warum es im Sport immer wieder Doping geben wird, wie in der Kunstszene, wo Drogen Gang und Gäbe sind und Enhancement immer mehr darüber entscheidet, wer Erfolg haben wird und wer nicht. Doping, Drogen und Enhancement sind in diesem Kontext Ausdruck des Willens zur Herrschaft. Deshalb werden gesundheitlich gefährliche Nebeneffekte in Kauf genommen, um den Erfolg zu garantieren. Moral hin und her: Es gibt keine Erfolge ohne gefährliche Nebeneffekte. Es stellt sich hier die Frage, ob Doping bzw. Enhancement eine unkalkulierbare Selbstgefährdungstechnologie ist oder ob es nur der Vorläufer einer kontrollierbaren Selbsttechnik ist, die sich heute Enhancement nennt.8

Jeder Virtuose braucht anscheinend Einsamkeit und Enthaltsamkeit, um sich auf das Ereignis im Wettkampf konzentrieren zu können. Wie der große Athlet ist der große Künstler das Genie, ein asketisches Selbst, indem in seiner ← 10 | 11 → intellektuellen und körperlichen Bewegungsfähigkeit apollinisch seine dionysischen Energien zum Ausdruck kommen.

Sportler denken anscheinend mit den Muskeln wie Affen mit dem Bauch.9 Das ist kein Makel, sondern vielleicht sogar ihre Stärke, wie die großen Künstler des 20. Jahrhunderts es schon längst erkannt haben.

In der sportiven Askese geht es streng genommen um ein traditionelles Thema der antiken Philosophie. Es geht nämlich nicht um die Vernichtung der Körperlichkeit und Identität, sondern um deren Um-Bildung. Das soll in dieser Arbeit thematisiert werden. Schon Nietzsche konstatierte, dass zu einem Asketismus „eine harte und heitere Entsagsamkeit besten Willens“, die „zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen“ gehört.10 Das gilt aber nicht nur für die Geistigkeit, sondern auch für die Körperlichkeit und Affektivität.

Nach Nietzsche muss man im Grunde von einer Geburt der Philosophie aus dem Geiste des Asketismus sprechen, sodass sich historisch gesehen das „Band zwischen asketischem Ideal und Philosophie als noch viel enger und strenger“ erweist, als man es wahrhaben will, sodass man sagen könnte, „dass erst am Gängelbande dieses Ideals die Philosophie überhaupt gelernt habe, ihre ersten Schritte und Schrittchen auf Erden zu machen“.11

Die Askese wird auch hier thematisiert als Weg zum Wesentlichen, als Weg zur Selbstveredlung, zur Selbstwürde, zur Selbstmacht.

Askese wird als eine Ein-Übung in die positive Askese und nicht nur negative Askese verstanden.12 Darunter kann auch unter anderem vorsätzliche Enthaltsamkeit fallen; nämlich: Entsagung vom Überflüssigen, Schädigendem, von all dem, das uns von einem bejahenswerten Leben abhält. Auch Verzicht kann darunter fallen als eine mögliche Askesetechnik.(Hier stellt sich das Problem was ← 11 | 12 → unter natürlicher Leistungssteigerung intellektuell und körperlich zu verstehen ist.) Askese ist die Abwahl dessen, was uns von der Essenz der Existenz abhält. Askese ist also durchaus positiv zu sehen, im Sinne radikaler Enthaltsamkeit und nicht nur als negative Askese. Sie ist nicht nur eine Mortifikation der Seele oder des Körpers, sondern sie kann auch Ausdruck des Willens zum Leben sein. Die Askese selbst kann ein Rausch sein. Die Verdrängung des Rausches in der Askese kann selbst rauschhaft sein. Der Rausch wird in der Askese nicht absolut negiert, sondern er wird sublimiert. Askese ist also nicht einfacher Verzicht auf Lustmöglichkeiten, sondern auch eine Rauschmöglichkeit. Der Verzicht selbst kann ein rauschhafter Grenzgang sein. Die Askese als Selbsttechnik ist nicht einfach Selbstverzicht, sondern Einübung in neue Selbstmächtigkeit, die so erscheinen kann, dass der Höhepunkt der Lust als Freisein von aller Lust erscheint; Askese ist keine Selbsttötung, sondern eine Einübung in das Mögliche. Asketen sind keine fundamentalistischen Nein-Sager, sondern heitere Ja-Sager. Askese macht nicht sterben, sie ist nicht der Tod, sondern in ihr wird das Leben in der Form heiterer Gelassenheit wiedergeboren.

Askese bedeutet also nicht nur einfach Entwertung des Lebens, ein Wille zum Nichts, eine Schwächung der Lebenskraft, sondern sie ist ein Mittel zur Beherrschung der Sinnlichkeit. Erfolgreiche Athleten erleben ein Gefühl der Macht, wenn sie siegen. Das aber setzt voraus, dass sie etwas ertragen können, dass sie geduldig sind, dass sie diszipliniert sind, dass sie ein Ziel haben, dass sie nicht Nichts wollen, sondern sich selbst perspektivieren mit Hilfe des Lehrers. Es kann keine Höchstleistung geben ohne Asketismus. Askese ist also eine Art „Gymnastik des Willens“13. Sie ist Mittel die Begierden zu zentrieren wozu Maßhalten notwendig ist.

So paradox es scheint, Askese ist ein Selbstwiderspruch: sie kann sogar im Maßhalten ekstatisch sein. Die Askese ist das „Freiwerden für die Ekstase“14: „Das geläufigste Modell ist der Sinnenrausch, der seine ekstatische Intensität erst gewinnt durch vorausgegangene Askese, und der schwindelerregend erst wird, wenn er den Exzeß immer wieder hinauszögert, also durch Askese in der Ekstase.“15

Aber warum suchen wir in einer Hochzivilisation wie der unseren die Ekstase? Weil wir in einer Gesellschaft der kontrollierten Funktionalität Zwischenräume, Metatropien, Verhaltensrevolten suchen. Man verstößt gegen die Grenzen, gegen ← 12 | 13 → die Regeln, weil alles reguliert ist. Es kommt zu einer systematischen Zuwiderhandlung16 – Hooligans betragen sich wie es sich nicht gehört. Sie praktizieren ein Gegenverhalten als Gewalt.

Askese kann ein Außer-sich-Sein sein, indem die Körper sich apollinisch verkörpern, entkörpern sie sich. Man verschwendet sich kalkuliert in der Kopflosigkeit von Begierden. Askese wird zur Verkörperung des Exzesses. In der Verkörperung findet eine apollinische Entkörperung des Eigen-Seins statt.

Man muss unterscheiden zwischen einer dionysischen und einer apollinischen Ekstase. In der apollinischen Ekstase wird der dionysisch unkontrollierte Zustand positiv: Wir gewinnen Vertrauen in die Unkontrollierbarkeit des Geschehens. Virtuose Ekstase ist kontrollierte Unkontrolliertheit.

Gerade im Sport, in der Kunst und der Wissenschaft zeigt sich, dass Ekstase in unserer apollinischen Kultur auf der Basis der Kultur der Kontrolle, der Disziplinierung, der Selbstbeherrschung funktioniert. Wir nennen das Zivilisation. Die Ekstase wird per Askese normalisiert.

Lust, ursprünglich eine Auszeit aus der Normalgesellschaft, ist nun Bestandteil der asketischen Kontrollgesellschaft. Man nennt das Erlebnisgesellschaft: Das Event muss funktionieren. Das allein zählt. Alles muss unter Kontrolle gehalten werden, selbst das lustvolle Jetzt. Die Ekstase wird normalisiert in der Funsportkultur ebenso wie in der Unterhaltungsindustrie. Schöne Unterhaltung – das ist die Losung. Was Leistung war ist nun Wellness. Die Arbeit am Körper hat sich transformiert hin zum Angenehmen, das zum machbaren Muss wird, zur zu erbringenden Leistung.

Ekstatik ist nur möglich durch Askese. Es gibt nur echte Askese durch Hinauszögerung. Nur durch Hinauszögerung wird die Ekstase ermöglicht. So paradox es erscheinen mag, Ekstase ist nur möglich durch sinnvolle und in diesem Sinne vernünftige17 Abstinenz.

Die Fähigkeit der Lustherauszögerung erscheint gerade im asketischen Training18 des Einzelnen an sich selbst als Bedingung der Möglichkeit des Erfolges. ← 13 | 14 → Es ist Resultat des nun möglichen Außer-sich-Seins im Exzess des Sieges eines sportlichen Wettkampfes beispielsweise durch die Fähigkeit des In-sich-Seins.

In Kunst und Wissenschaft, wie auch im Sport gibt es eine lange Geschichte der Lust an der Askese; man könnte im Grunde von der Geburt der Kultur aus dem Geiste der Askese sprechen.19

Askese ist immer Arbeit an sich selbst, sie verlangt nicht nur Selbstveränderung, sondern Selbstbeherrschung, Disziplin. Askese erweist sich als Motor der Selbsterkenntnis, der Selbst-Bildung, der Selbstmacht, der Selbstregierung durch Selbstdisziplinierung: „Stellen wir uns einmal ein Wesen vor, das keine äußeren Grenzen kennt, einen Despoten, der allmächtiger ist als alle, die wir aus der Geschichte kennen, einen Despoten, den keine äußere Macht zurückhält und mäßigt. Die Wünsche eines solchen Wesens wären unersättlich. Könnten wir sagen, er wäre allmächtig? Gewiß nicht, denn er selbst kann ihnen nicht widerstehen. Sie wären seine Herren, wie über alle anderen Dinge. Er muss sich ihnen unterwerfen; er beherrscht sie nicht. Mit einem Wort: Wenn unsere Neigungen keinem Maß mehr unterworfen sind, wenn nichts sie mehr begrenzt, so werden sie ihrerseits tyrannisch, und ihr erster Sklave ist der Mensch selbst, der sie empfindet […]. Er ist nicht Herr seiner selbst. Die Selbstherrschaft ist die erste Bedingung einer jeden wirklichen Macht, einer jeden Freiheit, die dieses Namens würdig ist. Aber man kann nicht sein Herr sein, wenn man Kräfte in sich trägt, die im wahrsten Sinn nicht beherrscht werden können.“20

Der Asket erschafft sich in Akten der Selbstdisziplinierung. Das bedeutet aber nicht von der Tortour loszukommen, sondern sich maßvoll in sie einzuüben. Askese als Einübung ist immer mit Maßhalten verbunden. Maßhalten aber ist nicht mit Mittelmäßigkeit zu verwechseln. Im Gegenteil: der Einzelne muss sein je eigenes Maß finden. Askese erweist sich als maßvoller Grenzgang; als existenzielle Lebenskunst.

Der Grenzgang in der Normalisierungsgesellschaft verbirgt ein existenzielles Bedürfnis: MAN spielt Schicksal, weil man das Leben erst an der Grenze erfährt. Dazu bedarf es eines affektiven Gefälles, indem das Ich, vermittelt durch die Physis, seine Grenze erfährt. Dahinter steckt ein utopisches Bedürfnis: nämlich die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, die Sehnsucht nach Mehr als dem, was ist, was angeblich ist. ← 14 | 15 →

Durch diesen Mechanismus funktioniert die Event-Gesellschafft, wofür die Unterhaltungsindustrie mittlerweile klassisch steht – frei nach dem Motto von Ödon von Horvath: Wir sind eigentlich ganz anders – kommen aber nur selten dazu. Man sucht also das kleine Abenteuer in der Arena. Das erklärt auch die Hooligans, die übrigens nicht aus den unteren Schichten der Gesellschaft kommen – paradigmatisch dafür ist der Film „Fight-Club“. Regelgerecht suchen sie, junge gutbürgerliche Männer, nach dem Extrem und sie selbst haben Regeln, die Grenze zu überschreiten. Es geht um eine regelgerechte Suche nach dem Extrem. In diesem Abenteuerspiel sind alle Seiten nicht nur frustriert, sondern haben auch eine Menge Spaß daran.

Details

Seiten
264
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653059564
ISBN (ePUB)
9783653950977
ISBN (MOBI)
9783653950960
ISBN (Hardcover)
9783631666371
DOI
10.3726/978-3-653-05956-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Philosophie der Gefühle Utopie Verhaltensrevolte digitaler Kapitalismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 264 S.

Biographische Angaben

Konstanze Caysa (Autor:in)

Konstanze Caysa studierte Philosophie und wurde mit einer Arbeit über das Thema Technokultur promoviert. Derzeit lehrt sie Philosophie an der Universität Leipzig.

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Titel: Askese als Verhaltensrevolte
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