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Machtspiele

Katachresen der gerechten Herrschaft im modernen Geschichtsdrama

von Tomislav Zelić (Autor:in)
©2016 Monographie 281 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch untersucht eine Auswahl von poetischen Geschichtsdramen aus der Geschichte der modernen deutschsprachigen Literatur vom frühen 19. bis zum späten 20. Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt des Machtspiels. Dabei analysiert der Autor die subjektiven, objektiven und absoluten Ironien, die Katachresen der gerechten Macht und Herrschaft sowie die logischen Paradoxien der absoluten Souveränität.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Paradoxien der absoluten Souveränität
  • 1.2 Die Unverfügbarkeit der Geschichte
  • 1.3 Rhetorik und Theatralik
  • 1.4 Methodologie
  • 1.5 Poetik
  • 2. Die barocken Katachresen der Kaiserherrschaft
  • 3. Die mythologischen Katachresen der absoluten Souveränität
  • 3.1 Simulation und Dissimulation
  • 3.2 Die mythologische Katachrese der Demokratie
  • 3.3 Die Katachresen der gerechten Macht und Herrschaft im totalen Krieg gegen den absoluten Feind
  • 3.4 Das mythologische Phantasma der absoluten Souveränität
  • 3.5 Rezeption und Kritik
  • 4. Die romantischen Katachresen der Fürstenherrschaft
  • 4.1 Die Antinomien der romantischen Subjektivität und absoluten Souveränität
  • 4.2 Der Chiasmus der romantischen Subjektivität und absoluten Souveränität
  • 4.3 Die Apotheose der romantischen Subjektivität und absoluten Souveränität
  • 5. Die Wiedergänger der absoluten Souveränität
  • 5.1 Die bourbonischen und orléanischen Katachresen der Monarchie
  • 5.2 Die jakobinischen Katachresen der Demokratie
  • 5.3 Die napoleonischen Katachresen der Kaiserherrschaft in der politischen Arena
  • 5.4 … und auf dem Schlachtendrama
  • 5.5 Die preußische Katachrese der absoluten Souveränität
  • 6. Die Katachresen der Demokratie in der Französischen Revolution
  • 6.1 Antinomien und Aporien des Jakobinismus und Dantonismus
  • 6.2 Metahistorische Selbstreflexionen
  • 6.3 Das Guillotinetheater als Katachrese der Demokratie
  • 6.4 Der untragische Held
  • 7. Die nationalsozialistischen Katachresen der absoluten Souveränität
  • 7.1 „Über die Theatralik des Faschismus“
  • 7.2 Doppelverfremdung
  • 7.3 Die Montage der nationalsozialistischen Rhetorik und Thetralik
  • 7.4 Die nationalsozialistischen Katachresen der Demokratie
  • 8. Exkurs: Die Souveränität des poetischen Geschichtsdramas über die Geschichte
  • 9. Exkurs: Die stalinistischen Katachresen der absoluten Souveränität
  • 9.1 Die Maßnahme
  • 9.2 Mauser
  • 10. Die Katachresen der sozialen und sexuellen Revolution
  • 10.1 Die Antinomien und Aporien des Jakobinismus und Sadismus
  • 10.2 Die napoleonische Katachrese der gerechten Macht und Herrschaft
  • 10.3 Die Antinomien und Aporien des postmodernen Neoavantgardismus
  • 11. Die Katachresen der Demokratie im geteilten Deutschland
  • 11.1 Die nationalsozialistische Katachrese der absoluten Souveränität
  • 11.2 Die Gründung der Bundesrepublik
  • 11.3 Die Gründung der DDR
  • 11.4 Die friderizianische Katachrese der Demokratie
  • 11.5 Der „Held der Arbeit“
  • 11.6 Der Volksaufstand
  • 11.7 Das „Arbeiterdenkmal“
  • 12. Schlussfolgerung
  • Bibliographie
  • Nachweise

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Vorwort

Die vorliegende Studie versucht eine Auswahl von poetischen Geschichtsdramen aus der Geschichte der modernen deutschsprachigen Literatur vom frühen 19. bis zum späten 20. Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt des Machtspiels zu lesen und dabei die subjektiven, objektiven und absoluten Ironien, Katachresen der gerechten Macht und Herrschaft, Freiheit und Unterwerfung sowie die logischen Paradoxien der absoluten Souveränität herauszustellen. Zu diesem Zwecke ist die literaturwissenschaftliche Methodologie, die als Theorie und Geschichte der Literatur gleichermaßen der poststruktralistischen Dekonstruktion1 und dem alten deutschen Historismus und dem angelsächsischen New Historicism2 verplichtet ist, im Rückgriff auf die Theorie der Souveränität im Staatsrecht durch die kultur- und theaterwissenschaftlichen Theorie der Theatralität und die Poetik und Rhetorik der Tropen Ironie und Katachrese sowie die Logik der Paradoxie, Aporie und Antinomie zu ergänzen.


1 Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1972. Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt a.M. 1989. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität. Frankfurt. a.M. 1991. Paul de Man: Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt a.M. 1993. Karl Heinz Bohrer (Hg.): Ästhetik und Rhetorik. Lektüren zu Paul de Man. Frankfurt a.M. 1993. Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Frankfurt a.M. 2000. Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt a.M. 2003. Werner Hamacher: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a.M. 1998. Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul DeMan. Frankfurt a.M. 2000, insb. S. 257–337.

2 Clifford Geertz: Interpretation of Culture. Selected Essays. New York 1973. In dt. Übers. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 2002. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley 1989. In dt. Übers. Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt a.M. 2000. Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen 1995.

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1. Einleitung

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde das Ende des Kalten Kriges und der Beginn eine neuen Weltordnung verkündet. Nach der Wende von 1989/90 gingen manche davon aus, der moderne Nationalstaat könne seine exponierte Stellung angesichts der Globalisierung und verstärkten internationalen Zusammenarbeit und Reglementierung allmählich verlieren. In der Tat sind die innere und äußere Souveränität des traditionellen Nationalstaates zwar angesichts der politischen und wirtschaftlichen Wechselabhängigkeiten in der Weltgesellschaft geschwächt. Dennoch sind heute angesichts der anhaltenden Dauerkrisen mehr denn je Zweifel angebracht, ob wir tatsächlich in einer „postnationalen“3 geschweige denn ‚postsouveränen‘4 Weltordnung angekommen sind. Die politische Kultur hat die Partikularismen und Idiosynkrasien der nationalen Identität, Tradition und Geschichte nicht überwunden, ja es ist fraglich, ob dies erstrebenswert ist. Unter der Annahme, nation-building meine die Errichtung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie, der rechtsstaatlichen Macht und Herrschaft und der freien und sozialen Marktwirtschaft sowie der Zivilgesellschaft, setzen all diese Errungenschaften nationalstaatliche Souveränität allererst voraus.5 Seit der Jahrtausendewende büßten die Problematik der nationalstaatlichen Souveränität und die Grundfrage nach Liberalismus, Republikanismus oder Totalitarismus ihre Aktualität, Relevanz und Brisanz keineswegs ein. So äußerte der italienische Philosoph Giorgio Agamben (geb. 1942) Befürchtungen, dass „die verfassungsmäßige Diktatur zum herrschenden Paradigma des Regierens wird“, während Bürgerrechte schwinden und die Macht der Regierung ← 11 | 12 → wächst.6 Die Macht des Parlaments in der repräsentativen Demokratie sei durch Zersetzung bedroht, sobald die Regierung als absoluter Souverän im auf Dauer gestellten Ausnahmezustand mittels Dekrete und zeitweiliger Suspendierung der dreigliedrigen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative herrscht. Die Frage sei dahingestellt, ob solcherlei Alarmismus berechtigt ist. Der Artikel 48 der Weimarer Verfassung fand aus triftigen Gründen nicht Eingang in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Das Modell der repräsentativen Demokratie mit verfassungsmäßigen Bürger- und Menschenrechten begründet sich auf der asymmetrischen Differenz zwischen Macht, Herrschaft und Unterwerfung und entfaltet unter dem Eindruck der modernen Dauerkrisen die Aporien und Antinomien der Freiheit und Gleichheit, die sich zugleich wechselseitig bedingen und begrenzen.

Die deutsche Geschichte von der Französischen Revolution bis zur Wiedervereinigung beinhaltet zahlreiche halbherzig versuchte, bescheiden erfolgreiche und katastrophal fehlgeschlagene Neugründungen des deutschen Nationalstaats. Allein im 20. Jahrhundert existierten fünf deutsche Nationalstaaten: das Wilhelminische Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Bundesrepublik und die Demokratische Republik, oder genauer genommen, sechs, wenn die wiedervereinigte Berliner Republik als neuer Nationalstaat hinzuzählen ist. Es verwundert daher nicht, dass die deutsche Literaturgeschichte zahlreiche poetische Geschichtsdramen aufzuweisen hat, die nationalstaatliche Souveränität problematisieren. Die dabei aus individuellen oder kollektiven Ansprüchen auf absolute Souveränität unausweichlich entstehenden, geschichtlichen, politischen, logischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, moralischen und ethischen Gegensätze und Widersprüche sind Gegenstand der vorliegenden Studie. Zunächst aber gilt es einige systematisch-theoretische und begriffsgeschichtliche Anmerkungen zu der staatsrechtlichen Problematik der absoluten Souveränität, deren Poetik, Rhetorik und Theatralik sowie der Methodologie vorauszuschicken.

1.1 Paradoxien der absoluten Souveränität

Das Barbier-Paradox dient als anschauliches Beispiel für ein Problem in der logischen Mengenlehre. Es wurde nach dem britischen Philosophen und Mathematiker Bertrand Russell (1872–1970) auch „Russelsche Antinomie“ benannt, nachdem er es 1903 erstmals beschrieb.7 Es lautet wie folgt: der Barbier sei ← 12 | 13 → jemand, der all diejenigen rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Bei dem Versuch zur Beantwortung der Frage, ob der Barbier sich selbst rasiere oder nicht, entsteht eine Aporie. Unter der Annahme, der Barbier rasiere sich selbst, gehört er der Menge derjenigen an, die er nicht rasiert, was der Annahme widerspricht. Unter der Gegenannahme, er rasiere sich selbst nicht, gehört er der Menge derjenigen an, die er selbst rasiert, was der Gegenannahme widerspricht. Russell gelang es, auf dem Wege der Negation der Gegenaussage unter Berücksichtigung der impliziten Existenz- und Allquantifikationen sowie Transformation der Quantoren zu dem folgenden Lösungsvorschlag: Es gibt denjenigen, der diejenigen rasiert, die sich nicht selbst rasieren, nicht. Die logische Bestimmung des Barbiers erzeugt demnach eine leere Menge. In Anwendung auf die moderne Staatstheorie würde dies bedeuten, dass die topologische Position der absoluten Souveränität eine Leerstelle kennzeichnet. Daraus stellt sich in Bezug auf die Figur des absoluten Souveräns die Frage, ob es sich dabei lediglich um eine juristische Fiktion oder ein ideologiepolitisches Phantasma handelt.

Die Geschichten der modernen Nationalstaaten sind vorwiegend Kriegsgeschichten. Der absolut souveräne Akt der Staatsgründung, der mit einigen wenigen Ausnahmen zumeist gewaltsam vonstatten geht, kann an sich weder als rechtmäßig noch als unrechtmäßig gelten, insofern durch ihn die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht allererst in Kraft tritt.8 Spätestens seit der Renaissance diskutieren Juristen und Staatsrechtler dieses Problem unter dem Begriff der Souveränität.9 Die allgemein anerkannte Jurisprudenz bestimmt Souveränität als rechtliche Selbstbestimmung und versteht darunter das Vermögen einer natürlichen oder rechtlichen Person sich selbst rechtlich zu bestimmen. Die rechtliche Selbstbestimmung des Nationalstaates ist dafür das Paradebeispiel schlechthin. Die herkömmliche Theorie des internationalen Rechts unterscheidet darüber hinaus innere und äußere Souveränität. Mit innerer Souveränität ist die Selbstbestimmung des Nationalstaates im Hinblick auf dessen Regierungs- und Verwaltungsform, Rechts- und Gesetzesordnung gemeint und mit äußerer Souveränität die Unabhängigkeit eines Nationalstaates von allen anderen Nationalstaaten. Die ← 13 | 14 → Psychologie verwendet den Begriff der Souveränität eher vage auf das selbstbestimmte Verhalten einer Person.

Die staatsrechtlichen Theorie der Souveränität geht auf den französischen Juristen Jean Bodin (1530–1596) zurück, der Souveränität als höchste Entscheidungsgewalt bestimmt und für allein auf die rechtliche Person des Königs übertragbar hält. Vor dem geschichtlichen Hintergrund der Hugenottenkriege 1562–1598 sollte diese monarchistische Rechtsnorm den absolut souveränen Machthaber und Herrscher zwecks Bewahrung der Rechts- und Gesetzesordnung dazu berechtigen, Recht und Gesetz gegen den Willen der Untertaten durchzusetzen, nötigenfalls gewaltsam. Der absolute Monarch versammelt die politische Macht und Herrschaft auf sich selbst und führt Gestezgebung und -vollstreckung durch. Er ist berechtigt die höchsten Staatsämter zu besetzen und abzusetzen, Kriegs- und Friedenserklärungen zu verkünden, Recht zu sprechen, Strafen zu mildern und Begnadigungen zu gewähren. Obwohl all diese und andere Rechte und Befugnisse absolute Souveränität hinreichend zum Ausdruck bringen, stellt allerdings keines davon das notwendige Attribut der absoluten Souveränität dar. Als Personifikation des Staates übt der absolute Monarch absolute Souveränität einseitig aus – bei inneren Angelegenheiten gegenüber seinen Untertanen und bei äußeren Angelegenheiten gegenüber anderen Staatsoberhäuptern. Dabei ist er von allen inneren und äußeren Entitäten unabhängig, einschließlich von Papst und Kaiser. Der altrömische Grundsatz der Vertragtreue, unterbestimmte Natur- und Moralgesetze sowie das persönliche Gewissen stellen die alleinigen Begrenzungen für die absolute Souveränität des Königs nach Bodin dar.10

Die staatsrechtliche Theorie der Souveränität des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679) begründet den absoluten Monarchismus vor dem Hintergrund der englischen Bürgerkriege 1642–49.11 Der König ist demnach als absoluter Monarch keine der beteiligten Parteien, sondern er ist vielmehr der alleinige Nutznießer des Gesellschaftsvertrages zwischen den Untertanen. Diese verpflichten sich dabei gegenseitig, das Nauturrecht aller auf alles im Naturzustand aufzugeben und Amt und Titel der absoluten Souveränität gemäß dem Gesellschaftsvertrag auf ihn zu übertragen. Im Unterschied zu den Untertanen behält ausschließlich er das unbegrenzte Naturrecht auf alles, dass allein im Naturzustand alle genießen. Im Gesellschaftszustand ist er den Gesetzen, die er über seine Untertanen in Kraft setzt, selbst nicht unterworfen. Er ist allein ← 14 | 15 → den Naturgesetzen unterworfen und ausschließlich dem persönlichen Gewissen und dem altrömischen Grundsatz der Vertagestreue verpflichtet, um den Rückfall in den Naturzustand zu verhindern und mittels Gesetzesgebung und -vollstreckung Frieden, Sicherheit und Selbsterhaltung des Staates und Volkes zu gewährleisten. Allerdings besteht keine höhere Instanz, wo Untertanten gegen mögliche Verletzungen des Naturrechts durch den absoluten Monarchen Klage einreichen, geschweige denn Bestrafungen solcher Vergehen erwirken könnten. Widerstand gegen die Staatsgewalt ist ausgeschlossen. Allein der absolute Monarch hat das einseitige Recht auf die Kündigung des Gesellschaftsvertages. Das bedeutet jedoch Bürgerkrieg. Die Untertanen haben das Gesetz, dass der absolute Monarch in Kraft setzt, widerstandslos zu befolgen. Der absolute Monarch ist von den Gesetzen ausgenommen, die er in Kraft setzt. Es ist ausgeschlossen, dass er eine Ungerechtigkeit begehen könnte. Despotismus und Tyrannei sind dem Naturzustand gemäß Hobbes vorzuziehen.

Die herkömmliche Staatsrechtstheorie der absoluten Souveränität überspielt die logischen Paradoxien der absoluten Souveränität in der Regel mit juristischen und theologischen Fiktionen.12 Nach einer mittelalterlichen Denkfigur besteht es darin, dass der physische Körper des absoluten Monarchen als Metonymie und Metapher oder Symbol und Allegorie die politischen Körperschaft des Staates darstellt, diese repräsentitive Verkörperung jedoch zugleich eine metaphysische Einheit zwischen der natürlichen Person und dem politischen Amt bildet.13 Die ← 15 | 16 → Herkunft der Theorie der absoluten Souveränität aus der Jurisprudenz und Theologie der Renaissance ist daran unverkennbar, dass die „politische Theologie“14 den absolutistischen Monarchen jedoch zugleich als funktional äquivalent und strukturell analog als quasi religiöse Transzendenz jenseits der politischen Immanenz postuliert.15 Die hierin behandelten poetischen Geschichtsdramen spielen mit der ironischen und satirischen Travestie und Parodie auf die politischen Theologie der absoluten Souveränität.

Üblicherweise wird das von Agamben so genannte ‚topographische‘ oder ‚topologische‘ Modell bemüht, um die logischen Paradoxien der absoluten Souveränität auf den Punkt zu bringen.16 Demnach steht die Regierung zugleich über und unter dem Gesetz oder innerhalb und außerhalb der Rechtsordnung. So ist bei Carl Schmitt (1888–1985) zu lesen: „Der Souverän steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann.“17 Im Anschluss daran bestimmt Agamben die logischen Paradoxien der absoluten Souveränität‚topologisch‘: „Außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: das ist die topologische Struktur des Ausnahmezustands, und insofern der Souverän, der über die Ausnahme entscheidet, in seinem Sein durch diese Struktur logisch bestimmt ist, kann er auch durch das Oxymoron einer Ekstase-Zugehörigkeit charakterisiert werden.“18 Um sich selbst zu legitimieren, muss sich der Machthaber und Herrscher an Gesetze binden und derart seine absolute Souveränität paradoxerweise beschränken. Um sich selbst zu erhalten und absolute Souveränität zu wahren, bricht er jedoch im Ausnahmezustand das Gesetz, das er selbst in Kraft setzt.

In krisenhaften Ausnahmezuständen wie Belagerungszuständen, Besatzungs- und Befreiungskriegen, der jakobinischen Schreckensherrschaft oder der napoleonischen Herrschaft während der Französischen Revolution, wenn nicht nur die ← 16 | 17 → Rechtsstaatlichkeit sondern die Existenz des Staates selbst bedroht ist, erscheint die logische Paradoxie der absolute Souveränität besonders deutlich. Laut einer anderen einprägsamen Begriffsbestimmung von Schmitt ist „souverän, wer über die Ausnahme entscheidet“,19 das heißt, derjenige, der den Ausnahmezustand verhängt und Notstandsgesetze erlässt. Der Souverän, sei es ein Monarch, Despot oder Tyrann, Herrscher, Diktator oder Autokrat, sei es die Nation, das Volk, die Volksmenge oder die Masse, ermächtigt sich selbst legitimer oder illegitimer Weise dazu, die bestehende Rechts- und Gesetzesordnung teils oder ganz außer Kraft zu setzen, geltende Gesetze zu brechen, unrechtliche oder außerrechtliche Maßnahmen zu ergreifen.20 Für einen Augenblick ist der Souverän dabei zugleich innerhalb und außerhalb der Rechtsordnung. „Der Ausnahmezustand ist keine Diktatur, sondern ein rechtsfreier Raum, eine Zone der Anomie, in der alle rechtlichen Bestimmungen […] deaktiviert sind. […] Der Notstand ist kein Rechtszustand, sondern ein Raum ohne Recht […]. Dieser rechtsfreie Raum scheint für die Rechtsordnung so wesentlich zu sein, daß diese mit allen Mitteln versuchen muß, mit ihm eine Beziehung aufrecht zu erhalten […].“21 Die logische Paradoxie der absoluten Souveränität entfaltet sich in prekären Konfliktsituationen im Spannungsfeld zwischen reiner Macht und Herrschaft und bloßem Recht und Gesetz, Vollstreckung und Rechtfertigung, Legitimität und Legalität.22

Im Zuge des frühneuzeitlichen Paradigmenwechsels von der Fürsten- zur Volksherrschaft bei dem englischen Philosophen John Locke (1632–1704), dem französischen Philosophen Jean Jacques Rousseau (1721–1768) und dem deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) blieben die logischen Paradoxien der absoluten Souveränität ungelöst, ja die Vieldeutigkeit der politischen Selbst- und Fremdbezüglichkeit der Macht und Herrschaft, Freiheit und Unterwerfung, Vernunft und Unvernunft wurde seit dem Zeitalter der Aufklärung verschärft.23 Von nun an konkurrierten verschiedene Kandidaten um Recht und Titel der absoluten Souveränität: metaphysische Essenzen und historische Subjekte gleichermaßen, der allmächtige Gott, die Nation, das Volk oder die Masse, die universelle ← 17 | 18 → Vernunft, das Moralgesetz oder Naturrecht, das Gewissen, die öffentliche Meinung oder die Rechtsordnung. Diese Frage wird weiterhin lebhaft diskutiert.24 Im Allgemeinen ist die Staatshoheit nach Rousseau zwar an und für sich ‚unveräußerlich‘ und ‚unteilbar‘.25 Der Gesellschaftvertrag sieht dennoch vor, dass das Volkes das politische Mandat an repräsentative Machthaber und Herrscher erteilt, und dabei den demokratischen Grundsätzen der Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition folgt. Die logische Paradoxie der Volkssouveränität im Besonderen besteht laut Rousseau darin, dass das Volk zugleich Autor und Adressat der Gesetze, das Subjekt und Objekt der politischen Macht und Herrschaft, Freiheit und Unterwerfung, konstituierende und konstituierte Rechtsperson der staatlichen Körperschaft darstellt.26 Diese logische Paradoxie ist in den derzeit geltenden Staatsverfassungen der repräsentativen parlamentarischen Demokratie in den USA, Frankreich und Bundesrepublik Deutschland verankert.27 So schreibt das bundesdeutsche Grundgesetz ← 18 | 19 → zwar einerseits fest: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“28 Es steht jedoch andererseits außer Frage, dass die Staatsgewalt unter Recht und Gesetz über das Volk herrscht. Zum Zwecke der vorliegenden Untersuchung ist es nötig den Begriff der absoluten Souveränität in Abwendung von der Theorie der Autonomie neu zu bestimmen, insofern absolute Souveränität nicht nur das bloß individuelle oder kollektive Vermögen der transzendentalen Subjektivität zur rechtlichen Selbstbestimmung umfasst, sondern darüber hinaus das paradoxale Vermögen selbstbestimmte Regeln bei Bedarf zu verletzen.29

1.2 Die Unverfügbarkeit der Geschichte

Die logische Paradoxie der absoluten Souveränität besteht unter anderem auch in der individuellen und kollektiven Unverfügbarkeit der Geschichte. Den idealistischen Geschichtsphilosophien von Friedrich Schiller (1759–1805) und G.W.F. Hegel (1779–1831) über Friedrich Nietzsche (1844–1900) zu Theodor Mommsen (1817–1903) und Heinrich von Treitschke (1834–1896) ist gemein, dass sie den großen Persönlichkeiten von weltgeschichtlicher Bedeutsamkeit die Macht und Kraft zu sprechen, wortwörtlich und sinnbildlich Geschichte zu schreiben.30 Dasselbe gilt unter umgekehrtem Vorzeichen für die materialistische Geschichtsphilosophie im Anschluss an Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895), die dem Proletariat als revolutionärem Kollektivsubjekt strukturell analoge Macht und Kraft zuweisen.31 Idealistischen und materialistischen Geschichtsphilosophien ist gemein, dass sie der Geschichte eine metaphysische Teleologie unterlegen, mit der sie die unbeugsame Macht und Herrschaft der radikalen Kontingenz verdecken. Die individuellen oder kollektiven Handlungsträger erscheinen zwar einerseits in genau dem Maße als autonome Subjekte der ← 19 | 20 → Geschichte, wie sie ihnen verfügbar ist, andererseits sind sie jedoch zugleich heteronome Objekte der anonymen Geschichtsprozesse, die ihnen unverfügbar bleiben.32 Reinhart Koselleck behandelt die geschichtliche Paradoxie der absoluten Souveränität unter dem Begriff der „Heterogenie der Zwecke“ und bestimmt diese näher als „Inkommensurabilität zwischen Absicht und Ereignis“.33 Koselleck greift zwar einerseits auf Hegels Auffasung zurücke, dass die „Geschäftsführer des Weltgeistes“34 entgegen ihren subjektiven Absichten durch die „List der Vernunft“35 dennoch den objektiven Zweck der „Weltgeschichte“ erfüllen, das heißt „Forschritt im Bewusstsein der Freiheit“36 erzielen. Laut Hegel entwickeln Komödie und Tragödie unter der Herrschaft der dramatischen Ironie an dem komischen und tragischen Charakter „die einfache Dialektik“, dass „das Entgegengesetzte dessen geschieht, was er bezweckte.“37 Und frei nach Wilhelm Busch gilt bekanntlich: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Im Unterschied zu Hegel verzichtet Koselleck jedoch andererseits auf „geschichtsphilosophische Rückversicherungen“.38 Die Stärke und Schwäche der geschichtlichen Theorie von Koselleck besteht darin, dass er die Unverfügbarkeit der Geschichte nicht politisch, rechtlich, wirtschaftlich, gesellschaftlich und ethisch entfaltet.

In diesem Sinne veranschaulichen die hierin behandelten Geschichtsdramen, dass die individuellen und kollektiven Subjekte der Geschichte, die mitunter Objekte der Geschichte sind, nicht über die willkürliche Macht und Herrschaft über die Geschichte verfügen. Die subjektiven, objektiven und absoluten Ironien, Katachren der gerechten Macht und Herrschaft, Freiheit und Unterwerfung, Vernunft und Unvernunft sowie die logischen Paradoxien der absoluten Souveränität folgen aus der ‚Heterogenie der Zwecke‘, das heißt, der ‚Inkommensurabilität von Absicht und Ergebnis‘ einer Handlung und der unverfügbaren Verfügbarkeit und verfügbaren Unverfügbarkeit der Geschichte. Die großen Persönlichkeiten von weltgeschichtlicher Bedeutsamkeit zeigen ein janusköpfiges Doppelantlitz. So führten ← 20 | 21 → König Friedrich II. von Preußen oder Napoleon nicht nur wichtige Reformen durch, sondern sie führten auch Angriffskriege gegen Nachbarstaaten. Josef Stalin ging nicht nur als Sieger über den deutschen Nationalsozialismus aus dem Zweiten Weltkrieg hervor, sondern er begründete auch das totalitäre Sowjetregime. Die poetischen Geschichtsdramen entlarven die idealistischen und materialistischen Geschichtsphilosophien ideologiekritisch.

In Übereinstimmung mit den geschichtlichen Beobachtungen von Reinhart Koselleck entwickelt die Systemtheorie von Niklas Luhmann die logische Paradoxie der absoluten Souveränität in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Der Begriff der absoluten Souveränität stammt demnach aus den „Selbstbeschreibungen“ des politischen Systems.39 In Hinsicht auf die Fürstenherrschaft beobachtet Luhmann, „die Paradoxie der Beschränktheit einer Willkür, die keine Beschränkungen akzeptieren kann und als Souveränität bezeichnet wird.“40 Sie besteht darin, dass „vom Souverän verlangt werde, sich selbst an das Recht zu binden.41 In Hinsicht auf die Volksherrschaft beobachtet Luhmann, „die Paradoxie der Herrschaftsausübung durch die Beherrschten.“42 Sie besteht darin, dass verfassungsmäßige Grundrechte wie Freiheit und Gleichheit zugleich erteilt und beschränkt werden.43 In Wahrheit sei nichts und niemand absolut souverän, weder soziale Systeme noch Gruppen, geschweige denn Individuen. Kein Teilsystem auch nicht die Politik besetzt die semantische und strukturelle Zentralposition.44 Der traditionelle Begriff der absoluten Souveränität wird für Semantik und Struktur der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft problematisch, sobald sich der Staat nicht mehr in einer physischen oder metaphysischen Einheit verkörpern lässt. In den politischen Programmen kommunizieren staatliche Amtsträger paradoxerweise weiterhin unter der juristischen Fiktion, der Staat sei in der Tat absolut souverän. Außerdem übernimmt das politische System die äußere Unterscheidung zwischen Freund und Feind in den verfassungsmäßig bestimmten Strukturen und Prozeduren der inneren Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition.45 Die Selbstunterscheidung der Souveränität an der Spitze des Staates soll die Vielfalt unterschiedlichter Sichtweisen in der modernen ← 21 | 22 → Gesellschaft darstellen. Dieser Pluralismus lässt sich nicht auf den allgemeinen Willen des Volkes oder die öffentliche Meinung als geheimen Souverän zurückführen. Paradoxerweise bestimmt er gerade die neue Gestalt der Souveränität, anstatt sie zu bedrohen. Souveränität konstituiert sich in der verfassungsmäßigen Demokratie als „Geltung ohne Bedeutung“46 – einer strukturellen und semantischen Leerstelle. Die repräsentative Demokratie ist jedoch inadäquat für die Repräsentation des Pluralismus in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft und erfordert daher im politischen System immer wieder Änderungen von Parteiprogrammen oder Neugründungen von Parteien. Die normative Bestimmung der Souveränität in der repräsentativen Demokratie lautet: souverän ist, wer gleichzetig unter Androhung von und Verzicht auf Sanktionen bei Ungehorsam, Nichteinhaltung oder Zuwiderhandlung zwar Macht und Herrschaft ausübt und dabei dennoch Gerechtigkeit schafft. Die Frage, ob in der Tat Gerechtigkeit herrscht, bleibt dabei stets offen.47

1.3 Rhetorik und Theatralik

Das topologische Modell der absoluten Souveränität, das auf räumlichen Verschiebungen und zeitlichen Verdichtungen beruht, mag zwar mit Eleganz und Präzision bestechen. Es ist jedoch für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung unzureichend. Die logische Paradoxie der absoluten Souveränität lässt sich sowohl in sprachlichen als auch nichtsprachlichen Akten beobachten. Die paradoxale Poetik der absoluten Souveränität lässt sich daher in Rhetorik und Theatralik unterteilen. Zwei Beispiele aus der Geschichte der Französischen Revolution mögen an dieser Stelle angebracht sein. Es handelt sich dabei einerseits um die Unabhängigkeitserklärung der nationalen Generalversammlung vom Königtum und andererseits um die historische Legende über die kaiserliche Selbstkrönung von Napoleon Bonaparte. Laut einer Anekdote von Heinrich von Kleist (1777–1811) soll der Marquis de Mirabeau (1749–1791) in seinem Amt als Abgeordneter und Anführer des dritten Standes dem königlichen Zeremonienmeister, der soeben den königlichen Befehl zur Räumung der Generalstände in Versailles 1789 überbrachte, den folgenden „Donnerkeil“ entgegnet haben: ← 22 | 23 →

Der Geschichtsdramatiker zeigt Interesse an der sprachlichen Struktur dieser Verkündung, die die konstitutive Paradoxie der Volkherrschaft gleichzeitig rhetorisch und theatralisch verschleiert sowie poetisch und logisch zum Ausdruck bringt. Ebenso veranschaulicht die kaiserliche Selbstkrönung von Napoleon, dass in diesem deklarativen Akt die konstituierende und konstituierte Macht der Kaiserherrschaft identisch sind.

Details

Seiten
281
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653059717
ISBN (ePUB)
9783653958010
ISBN (MOBI)
9783653958003
ISBN (Hardcover)
9783631668085
DOI
10.3726/978-3-653-05971-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Geschichtsdrama Ironie Macht und Herrschaft Souveränität
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 281 S.

Biographische Angaben

Tomislav Zelić (Autor:in)

Tomislav Zelić ist Universitätsdozent für Geschichte und Theorie der Literatur am Lehrstuhl für deutsche Literatur der Abteilung für Germanistik der Universität Zadar in Kroatien. Zu seinen Forschungsgebieten zählt die deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

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Titel: Machtspiele
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