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Wie Songs erzählen

Eine computergestützte, intermediale Analyse der Narrativität

von Lena Modrow (Autor:in)
©2016 Dissertation 340 Seiten

Zusammenfassung

Im Zentrum dieser Arbeit steht eine transgenerische Anwendung erzähltheoretischer Narrativitätskonzepte in Kombination mit einem computergestützten Analyseverfahren. Anhand eines digitalen Korpus aus 78 kontemporären deutschen und englischen Songs untersucht die Autorin explorativ, wie narrativ kontemporäre Songtexte sind, welche Erzählstrukturen sich in ihnen finden lassen und wie diese durch die musikalische Komponente unterstützt werden können. Mit Hilfe der Auszeichnungen («Tagging») von narratologischen und musikalisch-diskursiven Kategorien im Korpus werden grundsätzliche Muster und Relationen verdeutlicht. Zudem entwickelt die Autorin als Beitrag zur Computational Narratology ein Modell, mit dem der Narrativitätswert von Texten und weiteren Medien ermittelt werden kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • 1 Einleitung
  • 2 Songtexte, Song und Lyrik
  • 2.1 Formale Übereinstimmungen: Song(texte) und Lyrik
  • 2.2 Songstruktur
  • 2.2.1 Makro-Struktur des Songs: Text- und Musiksegmente
  • 2.2.2 Mikro-Struktur des Songs: Elemente des musikalischen Diskurses
  • 2.3 Inhaltliche Übereinstimmungen: Songtexte und Lyrik
  • 2.4 Das Lyrische und das Narrative
  • 2.5 Erzählökonomie und Erzählspezifika von Lyrik
  • 3 Kommunikation und Vermittlung im Song
  • 3.1 Modell der Kommunikation in Erzählungen (nach Schmid)
  • 3.2 Die Übertragung des Kommunikationsmodells auf den Song
  • 3.3 Der Empfänger: Das „Du“ im Songtext
  • 4 Narrativität
  • 4.1 Erzählung und Narrativität
  • 4.2 Zustandsveränderungen
  • 4.2.1 Ontologischer Status von Zustandsveränderungen
  • 4.3 Aspekte skalarer Narrativität
  • 4.3.1 Sequenzialität
  • 4.3.2 Kohäsion und Kohärenz
  • 4.3.2.1 Temporalität
  • 4.3.2.2 Raum
  • 4.3.2.3 Kausalität
  • 4.3.3 Erzählwert
  • 4.3.3.1 Tellability
  • 4.3.3.2 Ereignishaftigkeit
  • 4.3.4 Deskription
  • 4.3.5 Mediation und Perspektive
  • 4.3.6 Nicht repräsentierte Zustandsveränderungen und Ereignisse
  • 4.3.7 „Narrativität“ der Musik
  • 5 Korpusauswahl
  • 5.1 Charts vs. Bestenlisten
  • 6 Computergestützte Textanalyse
  • 6.1 Die computergestützte Analyse mit dem Textanalysetool CATMA
  • 6.2 Tagsets
  • 6.2.1 Tagset „Narrativität“
  • 6.2.2 Tagset „Musikalischer Diskurs“
  • 6.2.2.1 Tagset „Makro-Songstruktur“
  • 6.2.2.2 Tagset „Mikro-Songstruktur“
  • 6.3 Annotation
  • 6.4 Abfragen
  • 6.4.1 Wortmaterial und einfache narratologische Parameter
  • 6.4.2 Textabschnitte
  • 6.4.3 Komplexe Phänomene
  • 6.4.4 Narrativität und ihre Konstituenten
  • 6.4.5 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 7 Narrative Typen der Songtexte
  • 7.1 Ermittlung des Narrativitätswerts
  • 7.1.1 Narrativitätstypen und Sprache des Songtexts
  • 7.1.2 Narrativitätstypen und musikalisches Genre sowie Geschlecht
  • 7.1.3 Narrativitätstypen und die Verteilung von narratologischen Kategorien
  • 7.2 Quasi-narrativ: Zombi (KANTE, 2004)
  • 7.3 Basis-narrativ: Leaving New York (REM, 2004) und Mädchen von Kasse 2 (THEES UHLMANN, 2012)
  • 7.4 Narrativ: Mülldeponie (STOPPOK, 1999)
  • 7.5 Super-narrativ: Haus am See (PETER FOX, 2008)
  • 8 Die Narrativität von deutschen und englischen Songtexten
  • 8.1 Zusammenfassung der Analysen: Wie erzählen Songtexte?
  • 8.2 Systematisierung: Ebenen der Zustandsveränderungen
  • 8.3 Narrativitätswert: Das modifizierte Schema
  • 8.4 Reflektion des Verfahrens
  • 8.5 Ausblick
  • 9 Literaturverzeichnis
  • 9.1 Das Songtexte-Korpus
  • 9.2 Weitere verwendete Songs
  • 9.3 Sekundärliteratur
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1 Einleitung

The introduction outlines the explorative design for the transgeneric, intermedial and computer-assisted analysis of narrativity in songs as a contribution to the so-called Computational Narratology.

Fragt man Freunde oder Verwandte, ob ihr Lieblingssong eine Geschichte erzählt, antworten diese meist ohne Zögern mit „Ja“. Die Lieder, das heißt, insbesondere ihre Texte, würden beispielsweise vom Ende einer Liebe handeln, den Geschehnissen auf einer langen Partynacht oder den Folgen sozialer Missstände – so lauten weitere Antworten. In der allgemeinen Wahrnehmung werden demnach Geschichten nicht nur in den einschlägig als erzählhaft bekannten Genres wie Romanen, Kurzgeschichten oder Novellen verortet, sondern auch im Songtext.

Doch dies wirft die Frage auf: Was macht einen Song bzw. einen Songtext abseits dieses intuitiven Verständnisses narrativ? Welche spezifischen Erzählformen nutzt er? Was bringt Hörer dazu, aus einem Song eine Geschichte zu rezipieren und aus einem anderen dagegen weniger? Die Frage nach der Narrativität oder auch Erzählhaftigkeit von Songs soll in dieser Arbeit anhand einer computergestützten, erzähltheoretischen Analyse eines Korpus an kontemporären deutschen und englischen Musiktiteln explorativ beantwortet werden. Neben einer Gesamtuntersuchung der narrativen Elemente des Korpus wird in Einzeluntersuchungen auch intermedial die musikalische Komponente der Songs beispielhaft hinsichtlich ihrer möglichen Unterstützung narrativer Textelemente betrachtet. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt jedoch auf der Analyse der Songtexte. Der Grund dafür ist, dass zum einen die Aufbereitung des Korpus für die narratologische Textanalyse schon sehr arbeitsintensiv ist. Zum anderen kann die musikalische Komponente keine eigenständige Narrativität in einem erzähltheoretischen Sinne besitzen, wie noch gezeigt werden wird. Weitere mögliche Komponenten und Kontexte, wie etwa das Musikvideo oder die Live-Performance, können aufgrund des thematischen Schwerpunkts ebenfalls nicht berücksichtigt werden – eine Betrachtung dieser Formen wäre jedoch anschlussfähig. Mit der in den Geisteswissenschaften noch wenig erprobten Methode der computergestützten Analyse, die an das Forschungsfeld der Digital Humanities – bzw. in diesem Fall insbesondere der Computational Narratology1 anschließt, ist es nicht nur ← 13 | 14 → möglich, ein größeres Korpus als in der ‚klassischen‘, hermeneutischen Analyse zu untersuchen. Sie führt auch dazu, dass der Forschungsgegenstand spezifiziert und operationalisiert werden muss und auf diese Weise auch für andere Disziplinen nutzbar gemacht werden kann.

Ob und inwiefern der Songtext bzw. der ganze Song als Werk mit Musik und Text einen narrativen Gehalt besitzen kann, ist bisher in der Forschung nur am Rande behandelt worden. Nur ein Aufsatz beschäftigt sich mit der erzähltheoretischen Analyse von Songs.2 Dieser stellt eine gute Einführung zu dem Thema dar, weil er die Problematik von Narrativität und Musik sehr differenziert darlegt. Seine Typisierung der fünf Formen, wie Narrativität im Popsong ausgeprägt sein kann,3 wird in 4.3.7 „Narrativität“ der Musik wieder aufgegriffen. Der Fokus des Aufsatzes liegt jedoch vor allem darauf, inwiefern die musikalische Ebene zur Narrativität des Songs beitragen kann; jedoch nicht so sehr darauf, wie dieser insgesamt erzählt.

Andere Aufsätze behandeln den Aspekt des Erzählens nur als Randnotiz oder nicht explizit unter erzähltheoretischen Aspekten.4 In den meisten monografischen Studien werden Songs und ihre Texte unter kulturwissenschaftlichen bzw. soziologischen Gesichtspunkten5 untersucht, andere betrachten vorwiegend semiotische6, diskurslinguistische7, musiktheoretische8 oder historische Prozesse9. Bisher gibt es also keine ausgewiesene narratologische Beschäftigung mit dem Thema, wie Songs bzw. Songtexte erzählen. Dabei durchdringen Songs und ihre ← 14 | 15 → Lyrics in ihrer Alltäglichkeit viele Lebenswelten;10 als „moderne Massenlyrik“11 ist der Songtext die derzeit am häufigsten rezipierte Textform in Versen. Die narratologische Analyse kann auch über diesen Erfolg ein Stück weit Aufschluss geben. Darüber hinaus ist der Ansatz, Songtexte mit einem computergestützten, zunächst quantitativen und schließlich qualitativen Verfahren narratologisch zu untersuchen, bisher noch nicht vorgenommen worden. Lediglich drei Studien befassen sich mit einer computergestützten Analyse, die jedoch den Schwerpunkt auf stilistische12, semantische13 bzw. diskurslinguistische14 Aspekte legen.15

Mit der Fokussierung auf Erzähltheorien wird in dieser Arbeit zunächst ein vorrangig text- bzw. songimmanenter Zugang gewählt, den man in erster Linie der ‚klassischen‘, strukturalistischen Narratologie zuordnen kann.16 Um gleichzeitig die ermittelten Erzählspezifika bewerten und einordnen zu können, werden die Ergebnisse dieser Analyse zudem im Zusammenhang mit den Gattungskonventionen bzw. -erwartungen des Songs betrachtet. Darüber hinaus werden aber weitere Kontexte (kulturelle, soziologische, genrespezifische oder etwa historische) nur in geringem Umfang Beachtung finden, da stärker die (narrative) Struktur der gewählten Werke selbst in den Vordergrund gerückt wird, was ein computergestütztes Verfahren unterstützt. Da sich die Erzähltheorie traditionell auf den geschriebenen Text konzentriert,17 muss die Betrachtung der musikalischen Ebene des Songs erst entsprechend in die Analyse integriert werden. Dies wird jedoch dadurch vereinfacht, dass sowohl Sprache als auch Musik zu der Gruppe der kinetischen, temporalen Medien zählen – im Gegensatz zu den unbewegten räumlichen Medien (wie etwa einem Gemälde).18 Aus diesem Grund ← 15 | 16 → bietet es sich an, in dem „two-channel“19 Medium Song (narrative) Korrespondenzen zwischen den beiden Kanälen Text und Ton zu untersuchen.

Die detailliertere methodische und inhaltliche Vorgehensweise dieser Arbeit wird im Folgenden anhand der Gliederung erklärt. Grundsätzlich folgt der Aufbau dem Arbeitsablauf der explorativen Datenanalyse, mit welcher in der Regel Daten betrachtet werden, über deren Zusammenhänge noch wenig Wissen besteht20 – wie eben auch über den Zusammenhang von Narrativität und Songs bzw. Songtexten. Das bedeutet, dass zunächst

(1) eine Forschungsfrage erstellt wird.

(2) Zu dieser werden als Grundlage für die weitere Bearbeitung bestehende Theorien und Zusammenhänge aus dem Gegenstandsbereich betrachtet, um diesen genau beschreiben zu können. Aus dieser Beschreibung ergeben sich konkrete Ansätze, welche Unteraspekte des Phänomens näher betrachtet werden müssen, um Hypothesen zur Beantwortung der Forschungsfrage erstellen zu können.

(3) Daraufhin wird ein digitales Korpus aus Texten des zu untersuchenden Phänomens erstellt, das als Anschauungsmaterial für die Analyse dienen soll,

(4) um anschließend ein systematisches Tagset an Auszeichnungskategorien auf Grundlage der theoretischen Überlegungen und der Beschreibung des Gegenstandsbereichs erstellen zu können.

(5) Mit diesen Kategorien des Tagsets wird das Korpus annotiert,

(6) um daraufhin Abfragen (Queries) zu stellen. In der Regel können auf der Basis der quantitativen Daten Korrelationen zwischen den Elementen des Gegenstands beobachtet werden, sodass

(7) daraus (qualitative) Hypothesen und Annahmen zur Forschungsfrage formuliert werden können.

In dieser Arbeit sind die genannten Arbeitsschritte konkret den Abschnitten der Gliederung wie folgt zugeordnet: ← 16 | 17 →

Arbeitsschritt Abschnitt der Arbeit
(1) Forschungsfrage 1 Einleitung
(2) Beschreibung des Gegenstands/ Darstellung der Theorie 2 Songtexte, Song und Lyrik
3 Kommunikation und Vermittlung im Song
4 Narrativität
(3) Korpuserstellung 5 Korpusauswahl
(4) Tagseterstellung 6 Computergestützte Textanalyse
(5) Annotation 6.3 Annotation
(6) Abfragen/Analyse 6.4 Abfragen
7 Narrative Typen der Songtexte
(7) Hypothesen/Annahmen 8 Die Narrativität von deutschen und englischen Songtexten

Mit diesem Arbeitsablauf wird zugleich das Design erstellt, um weitere Forschungsfragen im Bereich Narrativität und Songtexte oder Lyrik zu beantworten, die auf andere bzw. größere Korpora zurückgreifen. Wie bei dieser Vorgehensweise die Arbeit inhaltlich gestaltet ist, führe ich wie folgt aus.

Im zweiten Abschnitt (2 Songtexte, Song und Lyrik) wird zunächst die Gattungszugehörigkeit des Songs bzw. Songtexts zur Lyrik aufgrund von formalen und rezeptionsästhetischen Aspekten geklärt. Dafür werden zunächst die formalen Eigenschaften des Songs im Vergleich zur Lyrik dargestellt (2.1 Formale Übereinstimmungen: Song(texte) und Lyrik) und die Besonderheiten der Songstruktur vorgestellt (2.2 Songstruktur). Nachdem der Song bzw. der Songtext vor allem aus formal-inhaltlichen sowie historischen Gründen der Lyrik zugeordnet worden ist (2.3 Inhaltliche Übereinstimmungen: Songtexte und Lyrik), wird darauf eingegangen, unter welchen Bedingungen Lyrik Narrativität aufweist. Dass es Lyrik gibt, die auch außerhalb der Sonderform Ballade als erzählend eingestuft werden kann, ist schon untersucht worden,21 obwohl sich „lyrisch“ und „narrativ“ in der Geschichte der Gattungspoetiken lange Zeit ausgeschlossen haben. Darauf folgend werden Erzählspezifika von Lyrik vorgestellt, insbesondere die der Erzählökonomie, die sich aufgrund der Eigenheiten der Gattung ergeben (2.5 Erzählökonomie und Erzählspezifika von Lyrik).

Da an dieser Stelle schon eine Verbindung zwischen Lyrik und Erzählen hergestellt worden ist, folgt in 3 Kommunikation und Vermittlung im Song die ← 17 | 18 → Übertragung des Kommunikationsmodells von Erzähltexten auf den Song bzw. Songtext. Dafür wird zunächst das Modell nach Schmid vorgestellt (3.1 Modell der Kommunikation in Erzählungen (nach Schmid)) und für den Songtext modifiziert (3.2 Die Übertragung des Kommunikationsmodells auf den Song), um bei den späteren Analysen die verschiedenen Ebenen eindeutig benennen und songtextspezifische Kommunikationssituationen untersuchen zu können. Besonders im Songtext ausgeprägt ist die Du-Adressierung bzw. die Erzählung in der zweiten Person, weshalb diese noch eingehender betrachtet wird (3.3 Der Empfänger: Das „Du“ im Songtext). Auch diese beeinflusst mittelbar die Narrativität. Die narratologischen Parameter Erzähler und Adressat werden auch aus dem Grunde vorangestellt, weil in der Analyse untersucht werden soll, wie sie sich bei verschiedenen Graden an Narrativität möglicherweise verändern.

Was Narrativität überhaupt ist und wie sie zur Erzählung an sich steht, wird schließlich in Abschnitt 4 verhandelt. Auf Grundlage des Vergleichs verschiedener Ansätze zur Erzählhaftigkeit entwickle ich ein für die Analyse geeignetes Modell: das der Grundnarrativität und der skalaren Narrativität (4.1 Erzählung und Narrativität). Das bedeutet: Wenn ein Text eine Zustandsveränderung beinhaltet, ist er grundsätzlich narrativ (Grundnarrativität). Wenn er diese Bedingung der Narrativität erfüllt, können zudem weitere Faktoren die Erzählhaftigkeit des Textes beeinflussen bzw. erhöhen. Zunächst wird daher bestimmt, unter welchen Bedingungen eine Zustandsveränderung für die Grundnarrativität vorliegt (4.2 Zustandsveränderungen), um danach die Faktoren, welche die skalare Narrativität erhöhen oder in engem Zusammenhang mit ihr stehen könnten, vorzustellen (4.3 Aspekte skalarer Narrativität). Hier folgen zunächst Aspekte, die sich auf die Sequenzialität (Kapitel 4.3.1) sowie die eng damit zusammenhängende Kohäsion und Kohärenz (Kapitel 4.3.2) beziehen, in der auch Zeit (Kapitel 4.3.2.1) sowie Raum (Kapitel 4.3.2.2) und Kausalität (Kapitel 4.3.2.3) verbindende Funktionen übernehmen. Wie diese genau den Grad der Narrativität beeinflussen, muss jedoch in der Analyse geprüft werden. Ebenso ist es bei den Aspekten des Diskurses, der Deskription (Kapitel 4.3.4), der Perspektive (Kapitel 4.3.5), der nicht repräsentierten Zustandsveränderungen (Kapitel 4.3.6) sowie der „Narrativität“ der Musik (Kapitel 4.3.7), die nicht in einem narratologischen Sinne als erzählend angesehen werden kann. Beim Erzählwert (Kapitel 4.3.3), also der Tellability und vor allem der Ereignishaftigkeit, kann hingegen aufgrund der Forschungslage von vornherein davon ausgegangen werden, dass ein Vorhandensein dieser Faktoren die Narrativität verstärkt.

Nach Abschluss dieser theoretischen Grundlage wird das für die Annotation und Analyse geeignete Text- und Songkorpus aus kontemporären Musikcharts- und Bestenlisten zu gleichen Teilen in deutscher und englischer Sprache zusammengestellt (5 Korpusauswahl). Darauf folgt eine Beschreibung, wie die ← 18 | 19 → computergestützte Analyse mit Hilfe des Tools CATMA (Computer Aided Textual Markup and Analysis) abläuft und welche grundsätzlichen Funktionsweisen und Möglichkeiten die Software bietet – also, wie mit dem Korpus schließlich gearbeitet wird, um die Narrativität der Songtexte computergestützt bestimmen zu können (6.1 Die computergestützte Analyse mit dem Textanalysetool CATMA). Nachfolgend werden sowohl die Tagsets zu den Unterkategorien der Narrativität als auch des musikalischen Diskurses erstellt und beschrieben (6.2 Tagsets), die auf die vorangegangenen Theoriekapitel aufbauen. Auf Grundlage dieser Sets annotiere ich das ausgewählte Korpus in drei Stufen (6.3 Annotation), was bedeutet, dass den Texten die zusätzlichen erzähltheoretischen, musiktheoretischen und strukturellen Informationen an den entsprechenden Stellen als systematische Meta-Informationen hinzugefügt werden. Dabei steigt der Grad der Komplexität der Annotationen mit jeder Stufe an, um dem unterschiedlichen Grad an Komplexität der Phänomene gerecht werden zu können, welche die Tags abbilden. Zuerst tagge ich lediglich halbautomatisch auf Wortebene. Danach werden die Tags gesetzt, die sich auf Textabschnitte beziehen, um schließlich die komplexesten Phänomene (wie z. B. Ereignisse) auszuzeichnen, die sich über verschiedene Textinformationen konstituieren. Aufeinander aufbauend werden die Ergebnisse der einzelnen Taggingphasen jeweils in den Kapiteln dargelegt und noch einmal abschließend zusammengefasst (6.4 Abfragen). Auf diese Weise zeichne ich ein Profil davon, wie die Songtexte im Allgemeinen erzählen, das bedeutet, wie die Vorkommnisse von Parametern wie beispielsweise dem Erzähler, der Zeitform sowie den Zeitangaben und Ortsangaben verteilt sind und miteinander korrelieren.

Um im Folgenden (6.4.4 Narrativität und ihre Konstituenten) spezifischer auf die Narrativität und nicht nur im Allgemeinen auf Erzählparameter von Songtexten einzugehen, vergleiche ich Zustandsveränderungen, Ereignisse und die in Opposition gesetzten Deskriptionen miteinander. Die einzelnen Werte (beispielsweise die Anzahl an Zeitangaben) der drei Kategorien werden einander gegenübergestellt, um darstellen zu können, wie sich die grundnarrativen Zustandsveränderungen und die narrativeren Ereignisse von den nicht-narrativen Deskriptionen unterscheiden. Auf diese Weise kann ich auf struktureller Ebene zeigen, welche Parameter bei narrativen Textpassagen hochfrequenter (oder niedrigfrequenter) sind als bei Deskriptionen.

Zudem wird darauf folgend in Abschnitt 7 (Narrative Typen der Songtexte) ein weiteres Verfahren angewandt, um zum einen die Narrativität eines Textes bewerten und zum anderen die Erzählparameter in den Gesamtkontext eines oder mehrerer Songs einordnen zu können. Auf Grundlage der Anzahl von Zustandsveränderungen, Ereignissen und deren Verknüpfungen untereinander erstelle ← 19 | 20 → ich schließlich ein Schema (7.1 Ermittlung des Narrativitätswerts), mit dem der Narrativitätswert jedes Songtexts ermittelt werden kann. Auf Grundlage dieser Berechnungen werden alle Songs des Korpus einer von fünf Gruppen zugeordnet: nicht-narrativ, quasi-narrativ, basis-narrativ, narrativ oder super-narrativ. Durch die Gruppierung kann noch einmal unter sämtlichen Texten miteinander verglichen werden, was beispielsweise nicht-narrative von super-narrativen Texten hinsichtlich der Verteilung von narratologischen Kategorien, aber auch in Bezug auf musikalisches Genre und Sprache (7.1.3 Narrativitätstypen und die Verteilung von narratologischen Kategorien), unterscheidet.

Bei der anschließenden Untersuchung einzelner Texte jeder Gruppe (mit Ausnahme der nicht-narrativen, da es hier nicht möglich ist, Erzählhaftigkeit zu untersuchen) werden jeder Analyse die allgemeinen Eigenschaften der jeweiligen Gruppe vorangestellt (Kapitel 7.2 bis 7.5). In der daran anschließenden Einzelanalyse eines Songs werden diese Eigenschaften anhand des Beispiels genauer dargestellt und illustriert. Hierbei wird auch die musikalische Komponente des jeweiligen Songs in Bezug zum Text gesetzt, welche zuvor über das Tool Chordify notiert worden ist.

Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchung zusammengetragen. Die verschiedenen Arten der Zustandsveränderungen, welche die Analyse ergeben hat, werden systematisiert (8.2 Systematisierung: Ebenen der Zustandsveränderungen) und das Schema zur Ermittlung des Narrativitätswertes auf Grundlage der Ergebnisse modifiziert. Um dem intermedialen Ansatz gerecht zu werden, finden die musikalischen Aspekte, welche die Textnarrativität unterstützen können, Eingang in das Flussdiagramm (8.3 Narrativitätswert: Das modifizierte Schema). So kann der Narrativitätswert des gesamten Songs berechnet werden. Anschließend wird das Verfahren der Arbeit reflektiert (8.4 Reflektion des Verfahrens) und der abschließende Ausblick (8.5 Ausblick) gibt eine Übersicht über weitere Anwendungsmöglichkeiten des skizzierten Verfahrens und der daraus resultierenden Systematisierungen und Annahmen.


1 Die Computational Narratology wird folgendermaßen definiert (Mani 2011b, Abs. 1): „Computational narratology is the study of narrative from the point of view of computation and information processing. It focuses on the algorithmic processes involved in creating and interpreting narratives, modeling narrative structure in terms of formal, computable representations. Its scope includes the approaches to storytelling in artificial intelligence systems and computer (and video) games, the automatic interpretation and generation of stories, and the exploration and testing of literary hypotheses through mining of narrative structure from corpora.”

2 Vgl. Nicholls 2007.

3 Vgl. Nicholls 2007, S. 301.

4 Vgl. u. a. Vernallis 2002 (im Zusammenhang mit Musikvideos), Griffiths 2003. Werner Bies gibt zwar an, sich mit „traditionellem Erzählen“ im Songtext zu beschäftigen, versteht darunter jedoch nicht die Erzählstruktur, sondern traditionelle Erzählstoffe; vgl. Bies 2013. Auch Nicholls hält fest, dass in den großen Monografien zu Popmusik Narrativität bisher entweder nur gestreift oder gar nicht behandelt worden ist; vgl. Nicholls 2007, S. 297.

5 Vgl. u. a. Eckstein 2010, Shuker 2005b, Frith 1996.

6 Vgl. Elicker 1997, Petras 2011, Tagg 2012.

7 Vgl. Murphey 1990.

8 Vgl. Middleton 2000, Middleton 1990, Brackett 1995.

Details

Seiten
340
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653066166
ISBN (ePUB)
9783653959925
ISBN (MOBI)
9783653959918
ISBN (Hardcover)
9783631673652
DOI
10.3726/978-3-653-06616-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Popmusik Digital Humanities Narratologie Transmedialität
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 340 S., 40 s/w Abb.

Biographische Angaben

Lena Modrow (Autor:in)

Lena Modrow hat Germanistik und Anglistik an der Universität Hamburg studiert. Sie arbeitet als Journalistin.

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