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Literatur im sozialen Prozess des langen 19. Jahrhunderts

Zur Ideengeschichte und zur Sozialgeschichte der Literatur

von Udo Köster (Autor:in)
©2015 Monographie 416 Seiten

Zusammenfassung

Schriftsteller beanspruchen im Prozess der Modernisierung eine wichtige Rolle als Verfasser von Dorfromanen, als nationale Propagandisten in den Befreiungskriegen, als Mitspieler in der Literatur der französischen Moderne (Heinrich Heine), als Träger des deutschen Nationalbewusstseins und als Begründer einer nationalen Staatlichkeit nach 1870. Der Band versammelt Arbeiten zur Sozialgeschichte der Literatur, unter anderem über Strategien der Bauernaufklärung, über kulturelle Stereotypen in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen, über Gender-Mythen und Mystifikationen im Vormärz, über den «französischen» Heine sowie über David Friedrich Strauß und die Rezeption der Religionsphilosophie Hegels; ferner geht es um Geschichtsbilder und die Mentalität der Gebildeten im Kaiserreich sowie um theoretische Fragen der Modernisierung und der literarischen Moderne um 1900.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • 1. Dorfromane der Spätaufklärung
  • 1.1 Funktion der Fiktion
  • 1.2 Die konstituierenden Elemente der Fiktion
  • 1.3 Zwei Modelle der sozialen Ordnung des Dorfes
  • 1.4 Protoindustrielle Aspekte
  • 1.5 Soziale Kontrollen
  • 2. Siegen lernen. Über Entstehung und Funktionswandel eines nationalen Stereotyps in den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich
  • 2.1 Einleitung
  • 2.2 Lernen nach verlorenen Kriegen
  • 2.3 Gegen Napoleon
  • 2.4 Nach Valmy
  • 2.5 Die Mobilisierung der Kulturnation
  • 3. Hermannsschlachten als Kulturkampf. Literarische Legitimationsdiskurse zu einem nationalen Mythos
  • 3.1 Einleitung
  • 3.2 Vom Opernlibretto zum Trauerspiel
  • 3.3 Von Klopstock zu Kleist: Revolutionäre Entmoralisierung
  • 3.4 Das ironische Ende bei Grabbe
  • 4. Über das Verhältnis von Mythos und Geschichte am Beispiel der Bearbeitungen des Libussa­-Stoffes durch Brentano, Ebert, Mundt und Grillparzer
  • 4.1 Einleitung
  • 4.2 Brentanos romantischer Fundamentalismus
  • 4.3 Die biedermeierliche Säkularisierung des Mythos in Carl Egon Eberts Versepos Wlasta
  • 4.4 Theodor Mundts saint­-simonistische Utopie
  • 4.5 Das goldene Zeitalter der Frauenherrschaft in Grillparzers Libussa
  • 4.6 Schluss
  • 5. Emanzipation der Frau und Mythisierung der Geschlechterbeziehungen bei Autoren des Jungen Deutschland
  • 5.1 Einleitung: Saint­-simonistische Themen in der jungdeutschen Rezeption
  • 5.2 Die Hebung des Weibes auf das Niveau des Mannes als individuelle Katastrophe
  • 5.3 Mundts „Wiedereinsetzung des Fleisches“ und Gutzkows „schöne Jüdin“
  • 6. Literarische Voraussetzungen, Kontexte und Nachwirkungen von David Friedrich Strauß‘ Leben Jesu im Vormärz
  • 6.1 Einleitung
  • 6.2 Rationalistischer Zweifel und moderne Krise
  • 6.3 Die Geburt der Hegelschen Linken aus dem Geist der theologischen Orthodoxie
  • 6.4 Das „begriffene Wesen“ des Christentums
  • 6.5 Taten des Lebens und Scheu vor der Praxis
  • 6.6 Religionskritik in imaginierten Lebenswelten
  • 6.7 Schluss
  • 7. Marktorientierung und Wertkonservatismus bei Autoren der 1830er Jahre
  • 7.1 Einleitung
  • 7.2 Zeitgenössische Hypothesen über den Literaturmarkt und das neue Lesepublikum
  • 7.3 Die unterschiedlichen Normen des Arrivierens und des Arriviert­-Seins
  • 7.4 Fiktionalisierung als Kritik und als Apologie
  • 8. Kontexte zu Georg Weerths Berichten über Proletarier in England
  • 9. Heinrich Heine und Henri Enn. Der französische Heine und die deutsche Kritik
  • 9.1 Einleitung
  • 9.2 „Henri Enn“, der französische Heine
  • 9.3 Heines Weg nach Frankreich
  • 9.4 Heines Orientierung auf den französischen Markt
  • 9.5 Der „französische“ Heine in Deutschland
  • 10. Die „Leitartikel“ zu den Hamburger Heinedenkmalen. Denkmalgeschichte als Rezeptionsgeschichte. 1897, 1906, 1956
  • 10.1 Einleitung
  • 10.2 Paul Heyses Initiative von 1887
  • 10.3 Alfred Kerrs Initiative von 1906
  • 10.4 Das Heinedenkmal auf dem Rathausmarkt
  • 11. Repräsentative Kultur und Sezessionsbewegungen im Kaiserreich
  • Repräsentative Kultur
  • Konservative Kulturkritik
  • Naturalismus
  • Sezessionsbewegungen
  • Publikum der Außenseiter
  • Ästhetisches Selbstbewußtsein
  • 12. Ideale Geschichtsdeutung und Mentalität der Gebildeten im Kaiserreich
  • 12.1 Eine kulturelle „Stiftungslegende“
  • 12.2 Funktionswandel der „Stiftungslegende“
  • 12.3 Männer machen die Geschichte
  • 12.4 Wilhelminischer Idealismus und „Imperiale Gala­-Oper“
  • 12.5 Der Idealismus der Untertanen
  • 12.6 Organisierte Interessen und konservative Kulturkritik
  • 13. Ideale Geschichtsdeutung und literarische Opposition um
  • 13.1 Gegen den „Verlegenheitsidealismus“
  • 13.2 Neue Radikalität
  • 13.3 Unterschiedliche Formen der Konkretisierung
  • 13.4 Der ungewollte Konflikt mit den staatlichen Autoritäten
  • 13.5 Orientierungen außerhalb der repräsentativen Kultur
  • 13.6 Kultur der Elite und Massenkultur
  • 14. Die idealistische Deutung der Reichsgründung und ihr Funktionswandel im Kaiserreich
  • 15. Wahrheit, Wirklichkeit, Weltanschauung. Die naturwissenschaftliche Essayistik und ihre geisteswissenschaftliche Rezeption um
  • 16. Die Moderne, die Modernisierung und die Marginalisierung der Literatur. Anmerkungen zu einigen Hypothesen über Literatur und Gesellschaft in Deutschland um
  • 16.1 „Die Moderne“ und die Modernisierung
  • 16.2 „Unvollständige Modernisierung“ und Marginalisierung
  • 16.3 Die Situation der Autoren im Prozess der Modernisierung
  • 16.4 Generalisierter Anspruch und partikulare Geltung
  • 16.5 Der soziale Ort der Moderne
  • 17. Dekadenzliteratur und Ästhetizismus
  • 17.1 Der Begriff der décadence
  • 17.2 Literarische Darstellungen und Kritik der décadence
  • 17.3 Offensive Konzepte des Ästhetizismus: Wilde, Huysmans, Nietzsche
  • 17.4 Der leidende Ästhet: Hofmannsthals Der Tor und der Tod (I)
  • 17.5 Kritik und Verteidigung des Ästhetizismus: Hofmannsthals Der Tor und der Tod (II)
  • 17.6 Theoretische Perspektiven des Ästhetizismus
  • 18. Satirische Struktur und Realitätszitate in Heinrich Manns Roman Der Untertan
  • 18.1 Einleitung
  • 18.2 Realitätszitate
  • 18.3 Das Deutungsangebot der Theatermetapher
  • 18.4 Normative Kontexte
  • Drucknachweise

← 10 | 11 → 1.Dorfromane der Spätaufklärung1

1.1Funktion der Fiktion

In einer langen Reihe von Texten der Volksaufklärung, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch die ländlichen Mittel- und Unterschichten zu Adressaten wählen, ist Heinrich Pestalozzis 1781 erschienener Roman Lienhardt und Gertrud2 der erste, in dem das Mittel der erzählenden Fiktion als wichtiges Instrument zur Realisierung einer aufklärerischen Wirkungsabsicht eingesetzt wird. Zuvor gab es Ratgeber für den Landmann, Schriften zu ökonomischen Sachfragen einer modernen Landwirtschaft - über Kleeanbau, Mergeldüngung, Stallfütterung, neue Fruchtfolgen -, belehrende Darstellungen wie etwa Johann Friedrich Mayers Abriss der Pragmatischen Geschichte des Amtes Kupferzell3. Daneben erschienen, eigentlich nicht für ein bäuerliches Lesepublikum, Beschreibungen vorbildlicher Landwirte wie Christian Gotthold Hoffmanns Bericht über den „gelehrten Bauern“ Johann Ludewig4 und Hans Caspar Hirzels Beschreibungen der Wirtschaft Jakob Guyers aus Wermatswil, der als „philosophischer Bauer“ eine europäische Berühmtheit wurde.5

Die Titel der beiden schwer erreichbaren Texte können leicht eine unzutreffende Vorstellung von den Konzepten vermitteln, die den Beschreibungen des „gelehrten“ und des „philosophischen“ Bauern zugrunde liegen. Der „gelehrte Bauer“ Hoffmanns war gebildet im Sinne der akademischen Schulgelehrsamkeit; er hatte sich u. a. mit der Wolffschen Philosophie, mit Mathematik, Astronomie und Literatur, d. h. mit Gegenständen außerhalb seines bäuerlichen Bildungskreises befasst. Zwar begann seine ← 11 | 12 → autodidaktische Ausbildung damit, dass er als Akziseneinnehmer in seinem Dorf Rechenkenntnisse brauchte; aber von diesem konkreten Anlass hatte sich seine Bildung ganz entfernt, und es macht in den Augen seines städtischen Entdeckers die eigentliche Bedeutung dieses gelehrten Bauern aus, dass seine Gelehrsamkeit keinen wirtschaftlichen Zwecken diente: Denn „warum thut und leidet er alles dieses? was sucht und hat er denn einen Nutzen davon? in der Welt weiter nichts: als nur einen verklärten Verstand zu erhalten! Gott, die Welt, und sich kennen zu lernen. Der Bauer! der arme Mann! der hat die Wissenschaft und Weißheit zum Zweck? und keine Nahrung davon? […] Verdient er nun wohl bald die Benennung eines wahren Philosophen?“6 Die Beziehungslosigkeit dieser Bildung des gelehrten Bauern und seiner bäuerlichen Arbeit wird deutlich, wenn Hoffmann überliefert, dass sein Bauer zum Beispiel „den Dünger aus dem Hoff auf dem Rücken in den Weinberg tragen muß, und unterwegs die Logic, oder ein ander philosophisch Buch ließt“7. Ganz im Gegensatz hierzu erklärt Hirzel, mit Jakob (Kleinjogg) Gujer beschreibe er „einen philosophischen Bauer, nicht einen gelehrten Bauer, d. i. einen Bauer, der in allem gesunden Menschenverstand anwendet, aber nicht außer den Kreis schreitet, den die Vorsehung vorgezeichnet hat“8. Hirzel macht aus Jakob Guyer eine Vorbildgestalt, weil dieser seinen Bauernhof wirtschaftlich erfolgreich führt, und das heißt, die dazu richtigen, auf diesen Zweck abgestimmten Einsichten, vor allem ein ausgeprägtes Arbeitsethos, effiziente Arbeitstechniken und die entschiedene Beschränkung auf seinen bäuerlichen Wirkungskreis entwickelt. Mit dieser Perfektion in der ständischen Beschränkung, die beim philosophischen Bauern so weit geht, dass er alle funktionslose Bildung verpönt und die von seinem Bruder geerbten Bücher aus dem Haus schafft, als sie die Kinder von der Arbeit abziehen, wird der philosophische Bauer für Hirzel ein Muster der wahren Aufklärung. Von ihr zeugt „Wohlstand unter dem Landvolke, der sich auf fleißigen, und durch die liebe gesunde Vernunft geleiteten Anbau der Güter gründet, und mit Zufriedenheit und Empfindung seiner Würde, als Mensch begleitet ist“9. Für beide Konzepte der Aufklärung auf dem Lande gibt es Vertreter in der realen Bauernwelt. Dabei sind die „fachfremd“ gebildeten Landleute in der Art Ludewigs, etwa Heinrich Bosshard von Rümikon und Ulrich Bräker, in ihrem Bemühen um höhere Bildung meist Fremdlinge in ihrem ländlichen Milieu geworden. Aber auch eine Gestalt wie Hirzels Kleinjogg, die im Schrifttum der Volksaufklärung bis hin zu Gotthelf immer wieder angeführt wird, fand bei den Intellektuellen, die für das Volk schrieben, meist mehr Anklang als bei den Bauern selbst.

Indem Pestalozzi eine erfundene Romanhandlung zur Organisierung der Fakten bemüht, löst er eine Aufgabe, die auch andere Aufklärer seiner Zeit erkannt ← 12 | 13 → hatten: Es gelingt ihm, für die sachliche Belehrung eine interessantere Form zu finden, indem er durch eine spannende Rahmenhandlung das Leserinteresse an den aufgeklärten Inhalten fesselt. In dem Bemühen um eine adressatengerechtere Schreibweise waren andere Autoren vorausgegangen und hatten ihre belehrenden Texte teils in dialogisierter Form, teils in der Art des Katechismus angeboten. Nach dem Erfolg von Lienhard und Gertrud wurde die Romanform bei den Autoren der ländlichen Volksaufklärung außerordentlich beliebt, und einige dieser Werke erreichten eine Verbreitung in mehreren Auflagen.10 Die erste Funktion der Romanform war sicher, die belehrenden Pillen mit den bewährten Mitteln der Trivialliteratur zu umkleiden und so die Rezeptionsbereitschaft für die Inhalte der Aufklärung zu verstärken. Darüber hinaus war aber mit der Ausweitung vom belehrenden Gespräch zum Dorfroman auch eine Ausweitung der Thematik verknüpft, die eine andere Art von Informationen und eine andere Struktur der Argumentation bedingte. Anders als bei den beschreibenden Texten Hoffmanns oder Hirzels, anders aber auch als bei der Darstellung eines realen Dorfes bei Mayer11 erlaubte der Roman ein Arrangement der relevanten ← 13 | 14 → Faktoren mit Blick auf idealtypische Zusammenhänge. Musterdörfer wie Kupferzell oder Musterbauern wie Jakob Guyer waren zwar authentisch, die berichteten Fakten konnten, das galt als wichtige Stütze der Glaubwürdigkeit bei einem bäuerlichen Publikum, in der Realität belegt und vor Ort nachgeprüft werden; aber sie waren auch in besonderer Weise partikular; denn die beispielhaften Erfolge, von denen berichtet wurde, kamen unter den speziellen Bedingungen einer Region zustande, und sie knüpften meist an eine bereits abgeschlossene Vorgeschichte der Modernisierung an, die sie erfolgreich fortsetzten.12 Die Übertragbarkeit auf die Verhältnisse anderer Regionen schien aber oft zweifelhaft und wurde von Zeitgenossen auch ausdrücklich in Zweifel gezogen.13 Hinzu kommt, dass Musterbauern zwar authentische, aber keineswegs typische Gestalten des ländlichen Milieus darstellten. Sie waren vielmehr ausgesprochene Außenseiter in ihren sozialen Alltagswelten14, geschätzt von der Obrigkeit, aber im Dorf mit Distanz, wenn nicht mit Ablehnung betrachtet.

← 14 | 15 → Die fiktionale Gestaltung des Programms der Bauernaufklärung in Romanform erforderte zwar eine individualisierende Charakteristik der Personen und singuläre Ereignisse: Sie umfasste Liebes- und Schauergeschichten in mehr oder weniger breiter Entfaltung, sie machte vom Zufall bei der Lösung ihrer Intrigen ausgiebigen Gebrauch und Personen und Orte des bäuerlichen Milieus wurden mit charakteristischen Einzelzügen ausgestattet, die zur Glaubwürdigkeit der Geschichte unerlässlich waren. Auch behielt der Erzähler des Romans meist den Gestus des Chronisten, der die wahre Geschichte wirklicher Personen an einem realen Ort aufgezeichnet haben wollte. Aber dieses individualisierende Kolorit blieb Zutat. Die Fiktion zielte auf Typisierung und Generalisierbarkeit. Daher schrieb Pestalozzi in seinem Kommentar zu Lienhard und Gertrud, die individualisierenden Elemente bei der Gestaltung der Personen seien im Grunde ohne Bedeutung. „Der Unterschied ist nur in Nebensachen; der eine von ihnen hat z. E. rothe Haar, und der andere braune; der eine hat dicke geschwollene Beine, der andere lange magere ganz ohne Waaden; […] aber so kleine Unterschiede machen nichts aus, bey Leuten, die in der Hauptsache so gleich sind und gleich thun“15. In den wesentlichen Zügen seien sich die dörflichen Sozialcharaktere so ähnlich, „daß wenn man einen recht abgemahlet, hundert andere meynen werden, sie seyen mit Haut und Haar selber getroffen“16. Wie bei der Individualisierung der Personen ist auch bei der Schaffung eines besonderen Lokalkolorits die Ausstattung der Dörfer im Verhältnis zu dem, was eigentlich dem Leser übermittelt werden soll, äußerlich und kann aus der Geschichte herausdefiniert werden. Von den ursprünglich protestantischen Dörfern Traubenheim, Mildheim, aber auch Kupferzell entstehen dann Adaptationen für katholische Leser, die das Reformziel einer ländlichen Aufklärung den Bedingungen einer anderen konfessionellen Struktur anpassen. Ob und in welchem Umfang damit auch die zentralen Gehalte der Volksaufklärung berührt wurden, ist ohne einen genaueren Vergleich einzelner Texte nicht zu sagen.17

← 15 | 16 → Die Romane enthalten einen Kern von sachlichen Veränderungen des Schaffens, der sich schon in den älteren Texten der Volksaufklärung fand. Sie schaffen, das ist neu, einen typisierenden sozialen Kontext, in dem diese Veränderungen (in der Fiktion immer erfolgreich) durchgeführt werden, und sie stellen, das soll noch genauer beschrieben werden, einen Zusammenhang von sozialen Bedingungen und ökonomischen Veränderungen her, der in den alten Ansätzen der Volksaufklärung kaum thematisiert worden war.

1.2Die konstituierenden Elemente der Fiktion

Die größeren erzählenden Werke der Volksaufklärung lassen sich so beschreiben, dass aus der Konstruktion der Handlung eine einheitliche Strategie der Argumentation sichtbar wird. Sie beginnen alle erzählend bei einem elenden Zustand des Dorfes, zeigen, „wie es ehemals als Chaos und nichts war“18 und wollen durch ihre Geschichte „erweisen, daß man über keiner Beschaffenheit irgend eines Landes zu zweifeln habe, ob könnte es nicht aus dem schlechtesten Zustand in den allerbesten umgesetzt werden“19.

Im relativ breiten Bezug auf die Realität, wie sie vor Einsetzen der aufklärerischen Veränderungen bestand, liegt ein ausgeprägter Unterschied der neuen Romane, namentlich aber von Pestalozzis Lienhard und Gertrud, zu den älteren Schriften der Bauernaufklärung, zu den Lehrbüchern und zu dokumentarischen Beschreibungen, die alle stärker an ökonomischen Informationen oder an der Illuminierung eines für mustergültig erklärten Individuums interessiert sind. Dagegen ist die romanhafte Inszenierung eines schlechten Ausgangszustandes ein Mittel, den Leser zum Nachvollzug anzuleiten. Damit wird auch das, was von Mayer noch als „Chaos und nichts“ summarisch abgefertigt wurde, zum wichtigen Gegenstand des Interesses, denn dieses „Chaos“ enthält durchaus geregelte Beziehungen, es sind die aus der Sicht des Aufklärers chaotischen Beziehungen einer „Alten Ordnung“ des Dorfes, und diese Ordnung wird vor allem seit Pestalozzi als das wesentliche Hindernis auf dem Weg der Aufklärung bestimmt. Alle Romane kennen in unterschiedlichen Graden der Elaboriertheit ein bestimmtes Repertoire von dinglichen Veränderungen, das im Romanverlauf erfolgreich durchgespielt wird. Es ist dasselbe Repertoire, das die ökonomische Aufklärung den Bauern seit langem vorhält und das sie auch außerhalb der Romane weiter ← 16 | 17 → progagiert. Dazu gehören der Anbau von Klee und sogenannten Kunstgräsern, die Umstellung der Viehwirtschaft von der extensiven Weidewirtschaft zur Stallfüterung, der vermehrte und verbesserte Düngerausbau, die Erschließung weiterer Ackerflächen, die rationelle Holznutzung und der Anbau neuer Kulturpflanzen; hinzu kommen die Allmendaufteilung, die Aufhebung des Flurzwangs und der Obstanbau. Diese Maßnahmen sollen hier nicht im einzelnen und in ihrem inneren Zusammenhang innerhalb der Romane nachgezeichnet werden, zumal sie in ihren technischen Aspekten bei den literarisch organisierten Texten zunehmend in den Hintergrund treten.20 Wichtig wird dagegen ein ganz neuer Typus des Argumentierens, der auf anderen soziologischen Voraussetzungen aufbaut.

Die älteren Schriften der Volksaufklärung bis hin zu Mayers Kupferzell, seinem letzten Werk, das den Abschluss eines langen Wirkens als praktischer Agrarreformer bildet, gehen davon aus, dass die vernünftigen Maßnahmen durchgeführt werden, weil sie einen einsehbaren wirtschaftlichen Nutzen bringen. Der Bauer, an den sie sich wenden, ist der vernünftige homo oeconomicus, dem man nur richtig nahebringen muss, dass und inwiefern eine bestimmte Maßnahme den Ertrag der Landwirtschaft steigert, um auch eine entsprechende Akzeptanz zu erreichen; denn „sie sind alle Bauern, die nach Einsichten, in einer natürlichen Ordnung, die selbst Schönheit ist, das Land aufs Gewinnen bearbeiten, deren Freude allein der Gewinn ist“21. Allenfalls ist der Bauer ein skeptischer, vor allem gegenüber Vorschlägen der Obrigkeit misstrauischer homo oeconomicus, der aus Erfahrung hinter solchen wohlmeinenden Vorschlägen nur das Interesse an der Verbesserung der obrigkeitlichen Einnahmen vermutet. „Er folgt daher keinen Einladungen weniger willig als denen seines Herrn; ja sie schaden daher gemeiniglich mehr, als sie nutzen und fördern“22, und wenn diese nur „die Hindernisse einer bessern Cultur weghüben, so thäten sie alles, was sie selbst thun ← 17 | 18 → sollten; das übrige würden die Bauern gewißlich von selbst thun“23. Allenfalls müsse man ihnen den voraussichtlichen Erfolg der Maßnahmen erst ad oculos demonstrieren, darin liegt eine Aufgabe der Pfarrer, die ihre Pfarrgüter selbst bewirtschaften; sie tragen die Innovationen ins Dorf, indem sie Versuche im Kleinen anstellen, Samen verteilen, neue Feldfrüchte anbauen und die Bauern so praktisch auf den Nutzen der Veränderungen hinweisen. Mayer selbst hat diese Aufgabe seinem eigenen Zeugnis zufolge auch erfolgreich gemeistert.

Die Anthropologie der Romane folgt diesen Prämissen der älteren Bauernaufklärung ausdrücklich nicht. Pestalozzis Lienhard und Gertrud geht davon aus, dass die Voraussetzungen für ein Akzeptieren der vernünftigen Veränderungen fehlen und dass eben diese Voraussetzungen erst geschaffen werden müssen, damit auch die praktischen Reformen ins Werk gesetzt werden können. „Der Mensch […] ist von Natur […] träg, unwissend, unvorsichtig, unbedachtsam, leichtsinnig, leichtgläubig, furchtsam, und ohne Grenzen gierig, und wird dann noch durch die Gefahren, die seiner Schwäche, und die Hindernisse, die seiner Gierigkeit aufstoßen, krumm, verschlagen, heimtückisch, mißtrauisch, gewaltsam, verwegen, rachgierig, und grausam. - Das ist der Mensch, wie er von Natur wenn er sich selbst überlassen, wild aufwächst, werden muß; er raubet wie er ißt, und mordet wie er schläft“24. Und weil der Mensch von Natur aus nicht gut ist, muss er durch die Gesellschaft erst in einem gewaltsamen Prozess erzogen werden. Man müsse, schreibt Pestalozzi unter dem Titel Die Philosophie […] meines Buches, den Menschen „in seinem Innersten verändern und umstimmen, um ihn ins Gleis einer Ordnung hinzubringen, die wider die ersten Triebe seiner Natur streitet, um ihn für Verhältnisse brauchbar zu machen, für welche ihn die Natur nicht bestimmt, und nicht brauchbar gemacht […] hat“25. Diese Worte des Schulmeisters, der in vielem das Sprachrohr des Autors im Roman ist, beschreiben die Grundlagen für ein neues Programm der Volksaufklärung, das sich von dem Hirzels und der älteren Autoren in vieler Hinsicht unterscheidet. Seine Grundlage wird, wenn auch nicht in dieser Härte, immer wieder ähnlich formuliert. So heißt es z.B. im Rückblick auf die Geschichte Traubenheims, dort hätten der Amtsvogt, der Prediger, der Dorfschulze und der Gutsherr eine große Aufgabe bewältigt, denn sie mußten „Wilde zu gesitteten Menschen umschaffen“26. ← 18 | 19 → Hirzel konnte in der Wirthschaft eines philosophischen Bauers von dem Ruf nach „philosophischen Reisebeschreibern, die mit geschärften Blicken die Natur des Menschen in den Wilden unpartheyisch untersuchten“27, umstandslos auf die Beschreibung seines Musterbauern überleiten. Beide waren für ihn Vertreter der ursprünglich guten Natur. Er hielt „den Baurenstand […] der Betrachtung des Weisen in der That [für] würdiger […], denn hier siehet dieser die menschliche Natur, in einer dem Stand der Natur sich nähernden Einfalt vor sich“28. Zugleich glaubte Hirzel, dass die naturnahen Menschen die besten Voraussetzungen für die Entwicklung einer vernünftigeren Gesellschaft böten. Er entwarf daher, ähnlich übrigens wie Mayer und andere, als ideale Überhöhung einer sehr empirienahen Beschreibung das Modell einer „Harmonie und Würde der Menschheit aus verschiedenen Ständen“29, in dem die Übereinstimmung von natürlicher, vernünftiger und göttlicher Ordnung außer Frage stand.30

Dieser Glaube an die prästabilierte Harmonie von städtischer Vernunft und bäuerlicher Natur ist bei den Romanautoren erschüttert. Sei es, wie im Falle Pestalozzis, durch eigene Misserfolge als Reformlandwirt, sei es durch andere theoretische Orientierungen ist nun die Vorstellung vorherrschend, dass Vernünftigkeit nicht als natürliche Ausstattung des Volkes vorhanden ist. Auf dem Lande müssen vielmehr, so scheint es nun, erst die Grundlagen für eine Ordnung im Einklang mit der Vernunft geschaffen werden. Und diese Reform kommt nicht aus der Mitte des Dorfes. Ohne eine reformierende Pädagogik und ohne eine reformierte Seelsorge gibt es auch keine Agrarreform. Daher steht zum Beispiel vor dem ökonomischen Aufstieg Traubenheims der Ausbau der Schule, der in Kupferzell erst nach erfolgter Reform kommen kann. Das ist ein Unterschied der Argumentationsstrategien, der wohl generell mit der Grenze ← 19 | 20 → von älterer sachorientierter und neuer romanhafter Volksaufklärung zusammenfällt. Mayers Kupferzell durch die Landwirtschaft im besten Wohlstande erreicht den glücklichen Zustand auf der Grundlage der gesunden bäuerlichen Vernunft im Kontext des ohnehin vernünftigen Protestantismus und eines gesunden Egoismus, eben der Gegebenheiten, die auch bei Hirzel vor aller Schule und ohne sie vorhanden sind31 und denen der Bauer eine hinreichende Bildung verdankt; erst im letzten Abschnitt von Kupferzell, als zur Sprache kommt, „was Kupferzell zu mangeln scheint“32, weist Mayer auf den erbärmlichen Zustand des Schulwesens und die Notwendigkeit der Verbesserung hin. In Traubenheim hingegen ist der erste Grund der unzulänglichen Lebensbedingungen die mangelnde Unterweisung33, und folglich ist auch die Errichtung der Schule der erste Schritt zur Besserung.

1.3Zwei Modelle der sozialen Ordnung des Dorfes

Der Erfolg der dinglichen Veränderungen setzt Akzeptanz bei den Adressaten voraus. Um diese Akzeptanz zu erreichen, sind zuerst Veränderungen des Bewusstseins nötig. Das ist eine Einsicht, die allen Romanen der Bauernaufklärung zugrunde liegt, die sich nicht auf die Verbreitung nützlicher Kenntnisse beschränken. In den Romanen wird der Sachbezug der Bauernaufklärung um eine (mehr oder weniger elaborierte) pädagogische Komponente erweitert, die etwa im Falle von Schlez‘ Geschichte des Dörfleins Traubenheim ein solches Eigengewicht gewinnt, dass der Autor nach der zweiten Auflage den volkspädagogischen Teil des Romans aus der Dorfgeschichte ausgliedert und daraus einen eigenen Roman macht.34

Ein weiterer wichtiger Aspekt tritt in den Romanen hinzu: die Thematisierung des sozialen Zusammenhalts der Dorfgesellschaft. Die älteren Texte operierten individualistisch. Sie versuchten, die einzelnen Wirtschaftssubjekte zu erreichen und deren vernünftige Interessen zum Hebel einer kollektiven Veränderung zu machen. Kleinjogg, Hirzels Musterbauer, hatte seine Erfolge ohne ← 20 | 21 → und zum Teil gegen das Dorf erzielt. Hirzel macht ihn „zu einem ermunternden Beispiel für die Welt“35, weil er ein Dorf von lauter Kleinjoggs für möglich und für wünschbar hält. Dabei übersieht Hirzel allerdings (und übersehen die auf ökonomisch vernünftige Maßnahmen konzentrierten Aufklärer), dass der Erfolg seines Musterbauern (und der Erfolg ökonomischer Einzelmaßnahmen) an soziale Bedingungen geknüpft ist. Nicht allein der besonderen Mentalität Jakob Gujers, seiner persönlichen Tüchtigkeit und Kompetenz verdankte sich sein wirtschaftlicher Erfolg. Erste Voraussetzung war die Größe seines Hofes, zweite Voraussetzung war seine Außenseiterstellung. Er besaß einen großen Hof mit zusammenhängenden Flurstücken und pachtete, nachdem er diesen Hof an seinen Bruder übergeben hatte, ein Staatsgut außerhalb des Dorfes. Das war die Bedingung dafür, dass er sich den Zwängen der kollektiven Dorfwirtschaft so vollständig entziehen konnte.36

Andere Zeitgenossen haben bald bemerkt, dass der ökonomische Individualismus auf dem Dorf im allgemeinen keine Basis hatte, sei es, weil die kollektiven Elemente der Dorfwirtschaft wie Allmendnutzung, Weidegerechtigkeiten, Wegerechte und Flurzwänge den einzelnen Dorfgenossen banden, sei es, weil der „esprit de corps“37 des Dorfes das Einwirken der Aufklärung nachhaltig ← 21 | 22 → behinderte. Das heißt, zu den technischen und den intellektuellen kamen auch soziale Faktoren, die zu berücksichtigen waren, wenn die Aufklärung auf dem Lande Erfolg haben sollte. Kaum einer der großen Romane nach Pestalozzis Lienhard und Gertrud kam daher ohne die Diskussion dieser sozialen Bedingungen aus. Vor allem die großen sozialpolitischen Themen der Dorfgesellschaft, Aufhebung des Flurzwangs und Allmendaufteilung (oft verbunden mit Maßnahmen der Flurbereinigung), wurden Bestandteil der Romane. Denn die Allmendrechte waren die stärkste Bastion kollektiven Wirtschaftens auf dem Dorf, und ihre erfolgreiche Ablösung war die Voraussetzung für die soziale Freisetzung des individuellen bäuerlichen Wirtschaftens.

Pestalozzis Roman Lienhard und Gertrud, der erste der großen Romane der Volksaufklärung, zeichnet sich dadurch aus, dass er die politischen und sozialen Bedingungen der ökonomischen Modernisierung thematisch ins Zentrum seiner Geschichte rückt und ihnen die technischen Fragen unterordnet. Er lässt den Roman beginnen mit einem Wechsel an der Spitze der Hierarchie: Arner, der neue Junker, hat das Regiment als Grundherr angetreten, das bisher im Wesentlichen nur durch den Untervogt ausgeübt wurde. Als eine erste Maßnahme will er auf seine Kosten die Mauern der Kirche erneuern lassen, und dazu braucht er Arbeitskräfte aus dem Dorf. In einer Gesellschaft mit struktureller Unterbeschäftigung ist die Teilnahme an dieser Arbeit eine Begünstigung, die im Modell der Alten Ordnung vom Untervogt im Einvernehmen mit der Dorfoligarchie gewährt wird. Diese Erwartung ist auch im Roman präsent38 und wird durch den Grundherrn absichtlich durchkreuzt: Im Reformmodell der Neuen Ordnung engagiert der Junker die Tagelöhner für seine Baumaßnahme nach dem Kriterium der sozialen Bedürftigkeit39 und löst damit den offenen Konflikt mit den Oligarchen im Dorf aus. Das erste Buch des Romans ist eine Probe aufs Exempel der Neuen Ordnung, eine Art Experiment, das erweisen muss, ob und unter ← 22 | 23 → welchen Bedingungen sich die Obrigkeit mit ihren neuen Ordnungsvorstellungen durchsetzen kann.

In den Augen des Dorfes ist die Neue Ordnung, die der Grundherr einführt, eine „Lumpenordnung“40, denn von einem Dorfhandwerker, der als Hintersasse zur Miete wohnt und der ohne Grundbesitz nicht einmal gleichberechtigter Dorfgenosse ist, wird sich niemand, auch keiner von den Dorfarmen, etwas befehlen lassen. Die durch die neue Arbeit Privilegierten sind in den Augen der Dorfoberen „ein Dutzend der größten Lumpen aus dem Dorf“41, und dass die Arbeitskräfte „alles lauter Lumpen und Bettler [… sind und] von meinen Leuten kein einziger“42, wird vom Untervogt als Angriff auf das ganze Dorf und sein soziales Gefüge gedeutet. Die Dorfoligarchie folgt dieser Deutung, die als alte Bauernweisheit formuliert wird: „Wenn die Junker den Bettlern im Dorf höfelen [gute Worte geben] so helf Gott den Bauern. Sie tun das nur, damit sie die Bauern entzweien, und denn allein Meister seien“43. Gegen die Neuerungen des Junkers berufen sich die Bauern nun auf ihre alten Rechte. Um diese Rechte durchzusetzen - Rechte, die in der Sicht des Autors nur vermeintlich Rechte und in Wirklichkeit ein soziales Unrecht sind -, beschreiten die Bauern nicht den Weg der Klage oder des offenen Widerstands, die angesichts der formellen Rechtsverhältnisse auch keine Aussichten auf Erfolg böten, sondern sie greifen zu den Mitteln der Sabotage: Untaugliche Steine sollen benutzt werden, einer der Handlanger will durch Zusätze den Mörtel verderben, Gerüstbretter sollen nächtens abgebrochen, Werkzeuge gestohlen, Zeichnungen vernichtet werden; und dann soll - immer auf Betreiben der Reichen im Dorf - die „ehrende Gesellschaft im Herrendienst sich recht wohl sein lasse[n], daß sie liederlich arbeite, und besonders, daß, wenn der Junker oder jemand aus dem Schloß kommt, die Lumpenordnung am größten sei“44. Die subversive Strategie besteht so in massiven Übergriffen auf das Eigentum der Obrigkeit und in der Anstiftung zur Arbeitsverweigerung. Sie wird verfolgt ohne jedes Unrechtsbewusstsein, ja, im Bewusstsein, alte Rechte zu verteidigen. Dass die Dorfoligarchie dabei auch die Chance hat, für ihre subversive Strategie bei den Unterschichten selbst Gefolgschaft zu finden, obwohl das doch den rationalen Interessen der Dorfarmen widersprechen müsste, liegt im ersten Buch einerseits an den direkten Bestechungsgeldern, die der Untervogt zahlt, und andererseits an dem Geflecht von Abhängigkeiten, mit dem der Vogt die ← 23 | 24 → Dorfbewohner an sich gefesselt hat. Er ist der Mitwisser (und oft der Hehler) bei vielen Straftaten, deren sich die Bauern schuldig gemacht haben. Das ganze Repertoire bräuchlichen Diebstahls - Holzfrevel, Vertragen der Zäune um die Schloßtriften, Fälschung von Gemeinderechnungen usw. — wird hier kurz, und dann in aller Breite später nach dem Zusammenbruch des Untervogts, ausgebreitet45, um das Dorf als eine verschworene Gemeinschaft gegen die Obrigkeit zu zeichnen, die ihre Übergriffe als altes Recht übt: „Die Bauern machten einen Unterschied zwischen dem gesetzmäßigen und dem galgenmäßigen Stehlen“46, schreibt Pestalozzi später, um das mangelnde Unrechtsbewusstsein der Bauern zu kennzeichnen und die besondere Kasuistik des bäuerlichen Rechtsgefühls zu denunzieren.

Wie löst nun der Autor in der Erzählung den Konflikt? Unverkennbar ist, dass er für die Alte Ordnung keine Sympathien hat. Aber Pestalozzi kennt aus eigenen gescheiterten Versuchen als Reformlandwirt die Verhältnisse auf dem Dorf genau genug, um zu wissen, dass die Gewichte ungleich verteilt sind, wenn es darum geht, gegen den Willen des Dorfes Gebote der Obrigkeit durchzusetzen, die das Alltagsverhalten ändern wollen. Gewalt würde nichts helfen, das ist eine Erfahrung, auf die alle Bauernaufklärer immer wieder hinweisen, und zwar nicht (oder nicht nur) aus menschenfreundlicher Gesinnung, sondern aus Einsicht in die Verhältnisse. „Wo man irgendwo Gewalt brauchen wollte, […] so würde man harten Widerstand finden und doch würde die Gewalt nicht zulangen; die Landleute würden Gewalt, List und Trug und Geld anwenden, es zu hintertreiben, Beyspiele weiß ich hievon“47. Dem trägt auch Pestalozzi in seinem Roman vielfach Rechnung, im Kleinen wie im Großen. So würde im ersten Buch der Kirchenbau nach der Neuen Ordnung scheitern, wenn nicht einige Arbeiter aus der Solidarität des Dorfes ausbrächen und die geplanten Sabotageakte an die Obrigkeit verrieten, und sie verraten sie, weil sie im Roman von individuellen moralischen Skrupeln erfasst werden. Das wird mit einiger Umständlichkeit in der erzählten Geschichte motiviert und ist dort auch plausibel. Die strukturelle Antwort auf die Frage, wie die Normen der Neuen Ordnung der Obrigkeit ← 24 | 25 → durchzusetzen sind, ist daraus abzuleiten. Eine erste Voraussetzung ist die Schaffung eines Unrechtsbewusstseins in Bezug auf die Normen der Alten Ordnung des Dorfes.

Die Desolidarisierung innerhalb der Alten Ordnung erreicht der Autor auf zwei Wegen. Einerseits generalisiert er die städtische Optik, nach der Diebstahl Diebstahl ist, an wem auch immer er ausgeübt wird. Allerdings wird das niemanden überzeugen, der in der Kasuistik der Alten Ordnung denkt. Andererseits denunziert er die Alte Ordnung als System der Ausbeutung der Armen durch die Reichen und sucht so, die Unterschichten auf dem Dorf für die Obrigkeit zu gewinnen. Er will zeigen, dass zumindest die dörflichen Unterschichten nicht nur die bessere Moral, sondern auch den materiellen Nutzen davon haben, wenn die Alte durch die Neue Ordnung abgelöst wird, weil „das, was die Oberkeit von Bauern fordere, eine leichte Last seye gegen dem, so die eigentlichen Dorftyrannen denen aufladen, die sie am Sail haben“48. Das heißt, Pestalozzi setzt ganz bewusst auf die unterschiedlichen Klassenlagen im Dorf und macht, indem er den Unterschichten Arbeit und etwas Land verschafft, diese von der Dorfoligarchie unabhängig. Dafür entstehen zwar neue Abhängigkeiten, aber die sollen weniger drückend und vor allem gerechter sein als die alten.

1.4Protoindustrielle Aspekte

Der Roman Lienhard und Gertrud begann mit einer obrigkeitlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme außerhalb der Agrarwirtschaft. Mit ihr sollte den Armen im Dorf aufgeholfen werden. Diese Arbeit fiel aber nicht auf Dauer an. Sie zeigt jedoch, welche Probleme des Dorfes für Pestalozzi im Vordergrund standen und in welcher Richtung er eine Lösung suchte: Es ging ihm nicht in erster Linie um die Reorganisation und die Intensivierung der Landwirtschaft, sondern um die ökonomische Integration der Unterschichten, und die sollte durch die Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten erfolgen. Diese Arbeitsmöglichkeiten lagen im Wesentlichen außerhalb der Landwirtschaft. Da sie nicht auf Dauer beim Kirchenbau zu finden waren, ist das erste Buch von Lienhard und Gertrud in Bezug auf die Umstrukturierung des Dorfes nur ein Vorspiel zu dem eigentlichen Prozess der ökonomischen Umwälzung. In diesem Vorspiel sind die Widerstände der Alten Ordnung deutlich geworden. Im weiteren Verlauf geht es dann darum, die Bedingungen der Neuen Ordnung zu entwickeln.

← 25 | 26 → In den Modellen einer rein agrarischen Modernisierung, bei Hirzel, Mayer und Schlez und weitgehend auch bei Becker, wurde erwartet, dass die höheren Erträge einer arbeitsintensiveren Landwirtschaft letztlich für alle, besonders aber für die kleinen Bauern, vorteilhaft wären, und Schlez und Mayer konnten sogar die reichen Bauern der Alten Ordnung als die potentiellen Armen der Neuen Wirtschaft darstellen. So fügt Schlez in die Geschichte des Dörfleins Traubenheim eine Beispielerzählung ein, die zeigt, warum „seit einigen Jahren mehr Güterbesitzer als Tagelöhner in Traubenheim verderben“49. Sie können die große, arbeitsintensive Wirtschaft auf den großen Gütern nicht überschauen, müssen für Investitionen Kredite aufnehmen, die sie in Schulden treiben, erwirtschaften gleichzeitig immer geringere Erträge und müssen am Ende alles verkaufen. Denselben Argumentationszusammenhang entfaltet Mayer: In seiner Sicht verbessert die Teilung der Höfe den Wohlstand, weil dann intensiver gewirtschaftet wird. Nach seiner Beobachtung zeichnen sich die Felder der großen Bauern durch schlechte Ernten aus, so dass die großen Bauern oft verarmen, während die kleinen Bauern bei weniger Arbeit zugleich wohlhabender werden.50 Das Bevölkerungswachstum auf dem Lande stellt aus dieser Sicht kein Problem dar. Im Gegenteil, da die Intensivierung der Landwirtschaft einen verstärkten Einsatz von Arbeitskräften fordert, kann es nach ihrer Meinung nicht so schnell zur Überbevölkerung kommen: „Nicht Länder, sondern die Fülle des Volkes füllt seine [des Fürsten] Kassen und stärkt seinen Arm“51, so dass ein Weg des Fortschritts ist, dass „man nur die Volksmenge zu mehren [suche], dann wird die Nothwendigkeit, sein Brod zu haben, die Begierde wecken, jedes Plätzchen besser zu nutzen“52. Allerdings erscheint dann bei Mayer wie bei Schlez am Ende ihrer Geschichten ein Problem, das sich aus dem glücklichen Verlauf der Modernisierungsgeschichten nicht ableiten lässt: das Problem der ländlichen Massenarmut. Schlez gibt dafür eine Erklärung im Roman, wenn er den Niederlassungsbewilligungen an Dorffremde die Schuld gibt; mit ihnen hätte die Grundherrschaft ihre Kassen gefüllt. Dagegen klagt Mayer, ohne nach den Gründen zu suchen, allgemein darüber, dass sie „allhier ohne Unterlaß mit einem fremden Bettlerschwarm beladen“53 seien, der fordernd, auch drohend und durch Brandstiftung seiner Drohung Nachdruck verleihend von den Bauern Almosen erpresst. „Der Bettel kostet unsre Landleute Jahres ein mehr an Brod, ← 26 | 27 → Fleisch, Mehl, Butter, Eyern und Geld, als sie alle ihre Hausgenossen kosten oder sie auf sie verwenden“54. In beiden Fällen wird die Lösung in der Schaffung von protoindustriellen Arbeitsplätzen gesehen. Mayer fordert dafür „ein allgemeines Arbeitshaus, und […] nebenher auch ein Zuchthaus“55, bei Schlez wird eine Arbeitsschule errichtet. Aber in beiden Fällen sind Umfang und wirtschaftliches Gewicht dieser Tätigkeiten marginal im Verhältnis zum landwirtschaftlichen Entwicklungsprogramm.

Im Unterschied zu den von der Landwirtschaft ausgehenden, physiokratisch inspirierten Programmen, die für die landlosen Unterschichten nur sehr begrenzte Perspektiven eröffnen, verschiebt Pestalozzi die Proportionen zwischen Landwirtschaft und Gewerbe grundlegend. Am Schluss der erfolgreichen Modernisierungsgeschichte seines fiktionalen Musterdorfes lässt er ein Kollegium von Finanzräten zu dem Schluss kommen, „daß zwei Drittel von einem Vorschlag des Dorfs von der [heimindustriellen] Handarbeit, und kaum ein Drittel vom Abtrag ihrer Landbesitzungen herrühre“56. Auf das Ziel der Steigerung der Erwerbsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft sind seine Reformen im Roman daher ausgerichtet. Von vornherein liegt der Schwerpunkt des Programms der Reorganisation des Dorfes bei den nichtbäuerlichen Unterschichten. Als deren Exponenten sind auch die Vorbildfiguren, das Maurer- und Spinnerehepaar Lienhard und Gertrud, konzipiert. Ihr Habitus, und nicht der irgendeiner Gestalt aus dem bäuerlichen Milieu, soll für die Zukunft prägend sein: Als der Junker mit dem Lehrer in Gertruds Stube kommt, ist ihm „nicht anders als sehe er das Bild des Erstgeborenen seines besser erzogenen Volkes -wie in einem Traume vor seinen Augen; und der Leutnant ließ seine Falkenaugen wie ein Blitz herumgehen, von Kind auf Kind, von Hand auf Hand, von Arbeit auf Arbeit, von Äug auf Äug; je mehr er sah, je mehr schwoll sein Herz vom Gedanken; sie hat’s getan und vollendet, was wir suchen“57. Im Verhältnis zu diesem ökonomischen Zentrum in der protoindustriellen Wohnstube ist am Ende des Romans die bäuerliche Ökonomie marginal geworden. Selbst die Besetzung der Stelle des Untervogts, der politischen Spitze der Dorfhierarchie, die immer aus den Reihen der Dorfnotablen rekrutiert wurde, ist von den Bauern auf den Verlegerkaufmann übergegangen. Die Landwirtschaft interessiert nur als Hintergrund des protoindustriellen Wohlstands. Sie musste verändert werden, weil und insofern ← 27 | 28 → sie die protoindustrielle Entwicklung behinderte. Die (aus der Sicht des Romans) wesentlichen Gründe dafür sollen hier kurz benannt werden.

Ein Hindernis, vielleicht das bedeutendste überhaupt, für die protoindustrielle Umwandlung des Dorfes ist die Mentalität der Dorfbewohner. In der Bauernwirtschaft war die Bedürfnisbefriedigung verhältnismäßig direkt an Arbeit geknüpft; die bäuerliche Selbstversorgungswirtschaft stellte einen engen Zusammenhang von ökonomischer Leistung und sozialer Kontrolle her, zudem war der Rhythmus der Arbeit in den Lauf der Natur eingebunden und in seinen Stoß- und Ruhezeiten augenfällig motiviert. Die protoindustrielle Arbeit dagegen braucht den internalisierten Arbeitszwang, den von ständigen äußeren Kontrollen unabhängigen Tätigkeitsdrang. Die Tagelöhner, die Lienhard beim Kirchbau beschäftigt, kennen diesen internalisierten Arbeitszwang nicht: das „Maulaffen feil haben“58 dieser Arbeiter, „die so an Hand und Füßen wie lahm und den ganzen Tag herumstehen“59, ist ein ständiges Ärgernis, ebenso wie die „Unkonzentriertheit“ der Bauernkinder, die für die protoindustrielle Arbeit nicht vorbereitet sind, weil sie „an gar keine Ordnung und keine anhaltende Anstrengung gewöhnt“60 sind; sie „haben ihre Augen, wenn sie sie sollen auf dem Garn halten, immer in den Lüften“61, und „wenn sie denn ihr Garn so verderbt, zehrten sie noch ganze Hände davon ab, warfen es fort in den Fach, zum Fenster hinaus, und hinter die Häg“62. Da die entsprechende Arbeitshaltung (und die zugehörige Ausdauer) von Erwachsenen nicht mehr gelernt werden, setzt der Reformer des Romans „in seiner Meinung, das Dorf zu ändern, gar nicht auf das alte Volk, sondern auf die Jugend und seine Schul. Diesfalls aber zählte er auf nichts weniger als auf ein Geschlecht, das dem nächsten, von dem es abstammt, so ungleich sein würde, als Tag und Nacht miteinander ungleich sind“63.

← 28 | 29 → Die Erziehungsprinzipien, mit denen dieser Wandel erreicht werden soll, können hier nicht ausführlich dargestellt werden. Hervorzuheben ist: es sind Prinzipien, die nur für die Erziehung protoindustrieller Arbeitskräfte aufgestellt werden und in deren Zentrum eine verinnerlichte, von ständigen Außenkontrollen unabhängige Arbeitsamkeit steht. Bauernkinder brauchen eine solche formelle Erziehung nicht. Der künftige Bauer hat „im Stall, im Tenn, im Holz und Feld seine eigentliche Schul, und findet wo er geht und steht, so viel zu tun und zu lernen, daß er sozureden ohne alle Schul das recht werden kann, was er werden muß“64. Entsprechend nehmen Christoph und Else, die bäuerlichen Kommentatoren des Romans, ihre Kinder aus der Schule, weil „man Landkinder für Haus und Hof, für Feld und Aecker, für Scheuren und ‚Wohnstuben‘ und nicht für viel Schwätzen erziehen müsse“65.

Der zweite wichtige Komplex der Umorganisation betrifft die statusbezogenen Konsumnormen; sie werden im nächsten Abschnitt im Zusammenhang mit den sozialen Kontrollen der Alten und der Neuen Ordnung diskutiert. Und der dritte Bereich der einschneidenden Veränderung der Mentalität betrifft die Ablösung der kollektiven sozialen Sicherung durch individuelle Vorsorge. In der veränderten Einstellung zum Almosengeben wird sie am besten greifbar. Almosen waren im Rahmen der Alten Ordnung nicht freiwillige milde Gaben, die nach individuellem Ermessen gegeben oder verweigert werden konnten.66 Sie wurden von den Wohlhabenden geschuldet und von den Armen gefordert, und gelegentlich, wie in den oben zitierten Klagen Mayers deutlich, auch mit Drohungen erpresst. Es waren Sozialleistungen, die die Bauern aufbrachten, wie es im Roman heißt, als „eine Art Schuldigkeit, so ohngefähr wie rechte Leute Zoll und Zehnten abstatten“67. Dafür schuldeten die Armen den Bauern auch bestimmte Gegenleistungen, etwa Handlangerdienste in der Erntezeit, die nicht ← 29 | 30 → direkt entlohnt wurden. Die Reziprozitätsnormen der Alten Ordnung hatten durchaus ihre eigene Art von Rechenhaftigkeit, die sich aber nicht in der Art des direkten Verhältnisses von Arbeit und Geldlohn darstellen ließ.68 In der Neuen Ordnung, die auf kontinuierliche, messbare, bewertbare Arbeit abzielte, waren diese Normen störend, einmal, weil sie (anscheinend) Einkünfte ohne Arbeit verschafften, und dann, unausgesprochen, aber im Roman mitgedacht, weil sie die dörflichen Unterschichten an die bäuerliche Ökonomie und ihren diskontinuierlichen Rhythmus banden. Das wichtigste, was daher die Vorbildfiguren im Roman tun, wenn sie in „Eifer für die neue Ordnung“69 geraten, ist, dass sie diesen stärksten sozialen Faden, der die Unterschichten an die Alte 0rdnung des Bauerndorfs bindet, durchtrennen. Weil man „der Arbeitslust, und […] Anführung zur Ordnung und zum Sparen [bei] den armen Leuten […] mit keinem Almosen bei Jahren aufhelfen kann, so änderte[n] sie zur Stund hierüber ihre Art, und schlug[en] der besten Gevattermeisterin einen Mundvoll Brot ab […]“70.

An die Stelle der Almosen tritt Arbeit. Sparen soll die kollektive Vorsorge ersetzen, das lehrt die Schule, das predigt der Pfarrer: „Die ganze Natur und die ganze Geschichte rufe dem Menschengeschlecht zu, es soll ein Jeder sich ← 30 | 31 → selber versorgen, es versorge ihn niemand, und könne ihn niemand versorgen“71. Almosen fallen fort, und unzufrieden darüber sind die, von denen die Almosen gegeben wurden, die reichen Bauern. Das überrascht vielleicht, ist aber von Pestalozzi scharf beobachtet: Die Reichen waren, wenn sie Almosen gaben, nicht nur Geber, sondern auch Empfänger von Leistungen. In der polemischen, um die Unterschichten werbenden Sprache des Romans heißt es: „Die Reichen waren bis jetzt gewohnt die Armen als eine Art Knechte anzusehen, die wie dazu geboren seien, ihnen um den halben Lohn, den sie anderstwo haben könnten, alle Arten Dienste zu tun“72. Mit den Almosen fielen diese Dienste weg, und der Autor rechnet den Reichen vor, dass sie, wenn man die realen Verhältnisse am protoindustriellen Arbeitsmarkt zugrundelegt, in Wirklichkeit mehr empfangen als gegeben hätten. Oder vielmehr, er rechnet den Armen vor, dass die Sozialleistungen der Alten Ordnung in Wirklichkeit eine verschleierte Ausbeutung der Armen darstellten, und entsprechend reagieren diese mit der Aufkündigung der bräuchlich geschuldeten Dienste: „[E]s ist vorbei, - Gevatterin hin, und Gevatterin her; die Armen […] kommen ihnen nicht mehr, außer sie geben ihnen soviel Lohn als sie daheim oder anderstwo in der gleichen Zeit verdienen können“73.

1.5Soziale Kontrollen

Die protoindustrielle Arbeit auf dem Dorf führte zu einer Erosion der sozialen Beziehungen, die vor allem das Verhältnis der bäuerlichen Oberschicht zu den landlosen oder landarmen Unterschichten regelten. Der Erwerb der Unterschichten löst sich aus der Fixierung auf die bäuerliche Wirtschaft, er wird von der Stadt, von ihren weiträumigen Wirtschaftsbeziehungen und von den starken konjunkturellen Schwankungen dieser Wirtschaft abhängig. Sie treffen die protoindustriellen Unterschichten nun ohne die soziale Abfederung in den alten bräuchlichen Formen der Fürsorge, die den Dorfarmen zumindest vor dem Verhungern Schutz boten.74 In Pestalozzis Roman spielt dieser Aspekt der sozialen ← 31 | 32 → Erosion unter dem Einfluss der Protoindustrialisierung keine Rolle, denn der protoindustrielle Erwerb wird ohne alle Krisenmomente gezeigt. Dafür lockerten sich mit dramatischer Unvermitteltheit die alten sozialen Kontrollen. Die neue wirtschaftliche Selbständigkeit der Unterschichten im Verhältnis zur Dorfökonomie hat dazu geführt, dass die vormals von der Dorfoligarchie abhängigen Armen „frech und unverschämt wurden, und Leuten, bei denen sie nur vor ein paar Wochen gebettelt, jetzt die unverschämtesten Antworten gaben“75.

Hinter diesem veränderten Verhalten steht eine tiefgreifende Veränderung des Lebensstils76, die ein soziales Komplement des ökonomischen Fortschritts darstellt: Die dörflichen Unterschichten beziehen durch ihre protoindustrielle Beschäftigung vor allem Geldeinkommen, und diese geben ihnen eine Dispositionsfreiheit als Konsumenten, wie sie die weitgehend auf Selbstversorgung eingestellte bäuerliche Wirtschaft nicht kannte. In der Optik des Romans wird diese Freiheit allerdings nur negativ bewertet. So beschreibt Pestalozzi, wie die Heimarbeiter ihre Geldeinkommen vor allem zu einem demonstrativen Konsum in statusbezogenen Reservaten der Alten Ordnung nutzen und nimmt daran besonderen Anstoß. In einer Predigt am Ende des II. Teils, nach dem Erfolg der Reformen, heißt es im Rückblick auf die Veränderungen: „Die wohlhabendsten Leute in unsrer ganzen Gegend hatten ehedem nicht Geld. Ihr Wohlstand bestund darin, daß ihnen Essen, Trinken, Kleider, und was sie brauchten, im Überfluß auf ihren Gütern wuchs […]. Die neuen Baumwollspinner hingegen hatten bald die Säcke voll Geld; [… und sie] brachten ihren Verdienst ins Maul, hängten ihn an Kleider, und brachten hundert Sachen auf, von denen kein Mensch bei uns nichts wußte. Zucker und Kaffee kam allgemein bei uns auf. Leute, die keine Furche Land, und nie nichts Übernächtiges hatten, waren schamlos genug, und trugen Scharlachwams und Sammetbändel auf ihren Kleidern. Die, so Güter hatten, vermochten das nicht, und hatten nicht Zeit, mit Spinnen Geld zu verdienen wie diese, wollten aber doch auch nicht minder sein als das Baumwollenvolk, das vor kurzem ihnen noch um jede Handvoll Rüben und Erdäpfel gute Worte gab; und es gingen darum eine Menge der ältesten besten Baurenhaushaltungen ← 32 | 33 → zugrunde, weil sie auf ihren Höfen in den Baumwollspinnerleichtsinn hineinsetzten, Kaffee und Zucker brauchten, bei den Savoyern Tuchkonto aufschreiben ließen, und sich nicht mehr mit dem, was ihnen wuchs, begnügten […]“77.

Trotz der Überschätzung der zerrüttenden Wirkungen macht Pestalozzi dabei sehr deutlich, wie nachhaltig der Einbruch der neuen Wirtschaft mit ihrer Markt- und Geldorientierung die alten Statussymbole in Unordnung brachte und wie wenig noch Pestalozzi selbst, einer der eifrigen Propagandisten des protoindustriellen Wandels, bereit war, Konsequenzen dieser Art hinzunehmen. Weitere Lockerungen der alten sozialen Kontrollen kamen hinzu. Pestalozzis Pfarrer beklagt, dass die „Nachtbuben“, Banden der männlichen Dorfjugend, die traditionell auf dem Wege einer instanzenlosen, aber wirksamen kollektiven Selbstjustiz den Regeln der „moral economy“ Geltung verschafften und die früher „in allem [zeigten], daß sie Ehre im Leib hatten“78, jetzt „nur schandbare Bosheiten“79 treiben. Das heißt, die Sozialisationsrituale der dörflichen Jugend verlieren an den Stellen verminderter Überwachung ihre Rückkopplung an ein allgemein akzeptiertes Normengefüge. Das gleiche gilt für die Anbahnungsrituale im Verkehr zwischen den Geschlechtern. Insbesondere die „Nachtfreiheit“ der Jugend80, die sonst im Laufgitter der wirtschaftlich möglichen Beziehungen in der Dorfgesellschaft feste Grenzen hatte, muss erst wieder, wie jeder „Grundtrieb unserer Natur [,] an den Zwang des bürgerlichen Verdiensts, und an die Regelmäßigkeit der bürgerlichen Ordnung“81 rückgebunden werden. Das gilt auch (und besonders) für die Mädchen. Ihnen müsse man, um „den Unordnungen des Geschlechtstriebs abzuhelfen […] von Jugend auf den Kopf wohl mit der Wirtschaft anfüllen, und es trachten dahin zu bringen, daß sie mit anhaltender Arbeit, Übung im Überlegen […] verbinden - und zugleich einen Ehreifer in sie hineinbringen“82.

Das Programm der Rekonstruktion der sozialen Ordnung aus dem Geist der protoindustriellen Wirtschaft wird im letzten Teil des Romans als „Arners Gesetzgebung“ mit Akribie entwickelt. Es ist zugleich der problematische Versuch, den engen, quasinatürlichen Zusammenhang von Wirtschaft und Gesellschaft, als den Pestalozzi die Alte Ordnung durchaus gesehen hatte, mit den Mitteln ← 33 | 34 → der kalkulierenden Vernunft zu konstruieren und ihn mit einem Übermaß an rechenhaften Kontrollen praktisch durchzusetzen.

Die Alte Ordnung hatte die Befolgung ihrer Regeln teils durch abergläubische Furcht, teils durch massive wirtschaftliche und soziale Sanktionen gesichert. Der Roman gibt dafür mehrere Beispiele.83 Zum Erfolg der Reformen gehört aber auch die Vertreibung der abergläubischen Ängste, an deren Stelle Pestalozzi auch nicht (oder nur halbherzig) den Donnergott der Volksreligion setzt, der mit Blitz und Donner die soziale Ordnung sichert. Das andere Mittel der sozialen Kontrolle, die direkte Intervention der Dorfoligarchie, ist wirkungslos, weil ihre Machtmittel durch die wirtschaftlichen Veränderungen geschwunden sind. An ihre Stelle tritt eine Gesetzgebung, die der Junker zugleich als die „Vollendung [s]eines Werks“84 anspricht. Sie basiert auf dem Gedanken, „das Wohl des Volkes […] auf die Offenheit seiner Rechnungen zu gründen, und an nichts zu glauben, als was sich zählen, wägen, messen und dadurch erproben lasse“85. An die Stelle der alten Dorfautoritäten tritt ein System von Räten, die Fachleute für bestimmte Wirtschaftsbereiche - Kornsaat, Kleebau, Wiesenbau, Obstbau zum Beispiel - sind86, über die sie ein Dorfratsbuch führen, in dem jeweils der Stand dieser Bereiche festgehalten ist. Aus diesem Dorfratsbuch erstellt der Lehrer ein Dorfwirtschaftsbuch, das zugleich ein „reales und vollständiges Grundbuch über die allgemeine Dorfwirtschaft in Bonnal und ein […] vollständiges Rechenschaftsbuch von dem Zustande der Wirtschaft eines jeden Bonnalers in allen ihren Teilen, von den größten Hauptstücken […] bis auf das jüngste Schwein im Stall“87 darstellt. Damit nicht genug, werden für jede Dorfgasse Aufseher eingesetzt, die über alle Bürger in ihrer Gasse ein Buch führen, das nicht nur die Besitzverhältnisse, sondern auch die Qualität der Bewirtschaftung durch den Besitzer, seine Frau und jedes seiner Kinder enthält. Aufgezeichnet wird, „wie es mit ihm stehe, was es täglich arbeite, worin es sich im Guten oder im Bösen auszeichne“88. Der Pfarrer liest dann der versammelten Gemeinde um die Weihnachtszeit alle relevanten Stellen aus dem Buch vor. Wer seine Wirtschaft schlecht versorgt, wird vermahnt und zur Befolgung bestimmter Maßnahmen angewiesen. Für die fünf Hauptgassen werden dann noch weibliche Blockwarte bestellt, die besondere ← 34 | 35 → „Weiberbücher“89 zu führen und darüber Bericht zu erstatten haben. Hier führt die Frau des Verlegers die Oberaufsicht. Die „große kaufmännische Ordnung“90, die so im Dorf Einzug hält, umfasst des Weiteren noch Inventare der Häuser, Schuldbücher mit entsprechenden Anzeigepflichten gegenüber den Blockwarten und dem Dorfrat, sowie Grund- und Flurbücher; auch können bestimmte Personen (z. B. wenn sie fremden Personen Unterschlupf gewähren)91 unangemeldet und zu jeder Zeit Hausdurchsuchungen unterworfen werden.

Ein System der lückenlosen Kontrollen ist so der Phantasie des menschenfreundlichen Aufklärers entsprungen, als er sich vor die Aufgabe gestellt sieht, die vermeintliche Anarchie der Alten Ordnung durch eine Sozialordnung der Vernunft zu er setzen. Es ist, wie ein wohlmeinender Interpret formuliert, das „durchdachte Bild einer nahezu autoritären Gesellschaft, die zwar die besondere Situation eines verwahrlosten Gemeinwesens im Blick hat, in den Konsequenzen aber nicht weit vom totalen Dirigismus organisierter Unfreiheit entfernt ist“92. Und dieses Bild schreckt nicht etwa ab. Bei Zschokke begegnet es, noch um einige Institutionen (Zuchthaus, Regelungen für Enteignungen bei schlechter Wirtschaftsführung und militärische Zwangsrekrutierung) ergänzt, am Ende des Goldmacherdorfs wieder, und diesmal fühlt sich der moderne Herausgeber an den „totalen kollektiven Zwang“ und an Einrichtungen „kolchoshafter Art“93 erinnert. Das scheint die besondere Dialektik der Volksaufklärung zu sein. El sueño de la razón produce monstruos. Der Traum der Vernunft schlägt um in den Terrorismus der totalen Kontrolle. Liegt das in der Logik dieses aufgeklärten Denkens selbst? (Und: was könnte es davor bewahren)? Oder liegt der Fehler in einer falschen Empirie, im Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit und den langsamen Verläufen des realen Wandels der Gesellschaft? ← 35 | 36 →

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1Das Manuskript entstand im Arbeitszusammenhang des Projekts Literarische Konstitution des Wertkomplexes Arbeit der Arbeitsstelle für Sozialgeschichte der Literatur am Fachbereich Sprache, Literatur, Medien 2 der Universität Hamburg. An der Entstehung war Dr. Klaus Jarchow beteiligt. Dr. Holger Böning, Bremen, danke ich für viele bibliographische Hilfen.

2Zitiert wird nach der Ausgabe: Johann Heinrich Pestalozzi: Werke. (Bd. I: Lienhard und Gertrud). Hgg. von Gertrude Cepl-Kaufmann und Manfred Windfuhr. München 1977.

3Johann Friedrich Mayer: Lehrbuch für die Land- und Haußwirthe in der pragmatischen Geschichte der gesamten Land- und Haußwirthschafft des Hohenlohe Schillingsfürstischen Amtes Kupferzell. (Faksimiledruck der Ausgabe von 1773), Schwäbisch Hall 1980.

4Christian Gotthold Hoffmann: Der Gelehrte Bauer: Mit D. Christian Gotthold Hoffmanns [...] Vorbericht, nebst Kupfern. Dresden 1756.

5Hans Caspar Hirzel: Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers [1761]. Zitiert wird die Neue vermehrte Auflage, Zürich 1774.

6Hoffmann, Der gelehrte Bauer [wie Anm. 4] Vorbericht (unpaginiert).

7Ebd. S. 51.

8Hans Caspar Hirzel: Neue Prüfung des Philosophischen Bauers, nebst einigen Bliken auf den Genius dieses Jahrhunderts und andere den Menschen intereßierende Gegenstände. Zürich 1785, S. 269.

Details

Seiten
416
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653052572
ISBN (ePUB)
9783653969900
ISBN (MOBI)
9783653969894
ISBN (Hardcover)
9783631658949
DOI
10.3726/978-3-653-05257-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Januar)
Schlagworte
Ästhetizismus Befreiungskriege Hamburger Heinedenkmal Hegelrezeption Kulturelle Sezessionsbewegungen im Kaiserreich
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 416 S., 1 farb. Abb.

Biographische Angaben

Udo Köster (Autor:in)

Udo Köster studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie an den Universitäten Freiburg im Breisgau, München und Berlin. An der Universität Hamburg lehrte er bis 2010 zur Neueren deutschen Literatur im Fachbereich Sprache, Literatur, Medien I der Fakultät für Geisteswissenschaften. Seine Hauptforschungsgebiete sind die Bauernaufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts, der Vormärz, die Literatur und Gesellschaft im Kaiserreich sowie die Wiener Moderne.

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Titel: Literatur im sozialen Prozess des langen 19. Jahrhunderts
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