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Fünfzig deutsche Gedichte des 20. Jahrhunderts, textnah interpretiert

Von Stefan George bis Ulla Hahn

von Christoff Neumeister (Autor:in)
©2014 Monographie 359 Seiten

Zusammenfassung

An fünfzig lyrischen Gedichten deutscher Autoren des 20. Jahrhunderts wird eine Methode textnaher Interpretation vorgeführt. Grundlage ist dabei immer eine genaue sprachliche Analyse des betreffenden Textes, wobei auch die von ihm suggerierte Kommunikationssituation, sein Aussage-, Ausdrucks- und Appellcharakter sowie sein durch bestimmte Hervorhebungsmittel erzeugtes Wichtigkeitsrelief berücksichtigt werden. In der Regel wird auch die Lebenssituation des Autors, aus der das Gedicht hervorgegangen ist, in die Betrachtung mit einbezogen. Das Ergebnis erhebt nicht den Anspruch, die allein richtige Interpretation zu sein, wohl aber den, sich konsequent innerhalb des durch den Textbefund gesetzten Verständnisrahmens zu halten und insofern einen diesem angemessenen Deutungsvorschlag zu machen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Einleitung
  • Interpretationen
  • 1 George: Komm in den totgesagten park
  • 2 George: Leo X
  • 3 Hugo von Hofmannsthal: Terzinen über Vergänglichkeit I – III (mit Exkurs: Hofmannsthal über Zeitlichkeit und Ewigkeit und die Stufen des menschlichen Lebens)
  • 4 Rilke: Herbsttag
  • 5 Rilke: Römische Fontäne
  • 6 Rilke: Archaïscher Torso Apollos
  • 7 Rilke: O Brunnen-Mund
  • 8 Rilke: Rose, oh reiner Widerspruch … (mit Exkurs: Rilkes orphische Weltauffassung)
  • 9 Hesse: Stufen
  • 10 Benn, Einsamer nie – (mit Exkurs: Benn über das Entstehen eines lyrischen Gedichts).
  • 11 Benn: Letzter Frühling
  • 12 Hermann-Neisse: Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen
  • 13 Trakl: Kaspar Hauser Lied
  • 14 Kolmar: Die Verlassene
  • 15 Brecht: Erinnerung an die Marie A
  • 16 Brecht: An die Nachgeborenen (mit Exkurs: Brecht über den Gebrauchswert lyrischer Dichtung und dessen sprachliche Voraussetzungen)
  • 17 Brecht: Die Rückkehr
  • 18 Brecht: Der Radwechsel
  • 19 Kaschnitz: Ostia antica
  • 20 Kaschnitz: Verlorene Zeit
  • 21 Eich: Ende eines Sommers
  • 22 Kaleko: Sozusagen grundlos vergnügt
  • 23 Domin: Auf der anderen Seite des Monds
  • 24 Bobrowski: Sprache
  • 25 Bobrowski: Silchers Grab
  • 26 Celan: Wortaufschüttung, vulkanisch
  • 27 Celan: (Ich kenne dich ... )
  • 28 Celan: Weggebeizt
  • 29 Aichinger: Gebirgsrand / In einem
  • 30 Bachmann: Die große Fracht
  • 31 Kunert: Gedicht zum Gedicht (mit Exkurs: Kunert über die Entstehung und Wirkungsweise eines lyrischen Gedichts und über den Sinn von Interpretationen)
  • 32 Kunert: Für mehr als mich
  • 33 Kunert: Im weiteren Fortgang
  • 34 Kunert: Schlaflos
  • 35 Kunert: Fragment
  • 36 Fritz, Damit etwas entsteht
  • 37 Fritz, Aber dann?
  • 38 Fritz: Ein Leben führen
  • 39 Rühmkorf: wollte nur mal fragen
  • 40 Kirsch: Ich bin sehr sanft
  • 41 Kirsch: Der Rest des Fadens
  • 42 Novak: ach ich stand an der Quelle
  • 43 Novak: solange noch Liebesbriefe eintreffen
  • 44 Novak: keine Mutter nährte mich
  • 45 Gernhardt: Ach
  • 46 Malkowski: Schloßbibliothek
  • 47 Hahn: Spielregeln
  • 48 Hahn: Blinde Flecken
  • 49 Hahn: Lied. Mäßig bewegt
  • 50 Hahn, Mögliches Lied
  • Terminologisches Register
  • Quellennachweise:

Einleitung

Von den fünfzig lyrischen Gedichten deutscher Sprache, die in diesem Buch interpretiert werden, ist das älteste 1894, das jüngste 2011 veröffentlicht worden. Angeordnet sind sie nach dem Geburtsjahr der Dichter, und falls mehrere Gedichte ein und desselben Autors interpretiert werden, nach Entstehungs- oder Erscheinungsdatum. Von den älteren Gedichten sind die meisten sehr berühmt, doch auch von den jüngeren verdienen es meines Erachtens nicht wenige, im Laufe der Zeit gleichen Ruhm zu erlangen. Es ist eine winzige Auswahl aus einem riesigen Bestand. Ziel konnte deshalb nicht sein, einen repräsentativen Überblick über die deutschsprachige Lyrik von George bis zur Gegenwart zu geben und dabei die Autoren, ihr Werk und beispielhaft einzelne Gedichte in irgendwelche großen Tendenzen einzuordnen.1 Vielmehr wurde jedes einzelne der ausgewählten Gedichte zunächst einmal für sich ins Auge gefaßt und der Versuch gemacht, durch eine streng am Text orientierte („textnahe“) Interpretation zu einem angemessenen Verständnis zu kommen – „angemessen“ in dem Sinne, daß es sich in jeder Einzelheit am sprachlichen Befund festmachen und von ihm her rechtfertigen läßt; zu einem Verständnis m.a.W., das zwar keineswegs den Anspruch erhebt, das einzig richtige oder gar erschöpfend zu sein, aber doch den, in nichts dem am Text Beobachtbaren zu widersprechen.

Bei den Interpretationen ist ein Verfahren angewandt, das von dem im Vorwort erwähnten kleinen Kreis von Kursteilnehmern über mehrere Jahre hinweg entwickelt und an den verschiedensten Gedichten, auch fremdsprachlichen und vormodernen, erprobt worden ist.2 Es ist ein streng methodisches und hoffentlich auch gut nachvollziehbares Verfahren, und es läßt sich mutatis mutandis auch auf andere Gedichte übertragen, da es sich an Grundverhältnissen orientiert, die sich an allen lyrischen Gedichten und z. T. sogar an sprachliche Äußerungen jeder Art beobachten lassen. ← 13 | 14 →

Am Anfang der Interpretationen steht immer das zu interpretierende Gedicht, ergänzt durch die notwendigen Informationen über sein Entstehungs- und Veröffentlichungsdatum und über die Gedichtsammlung, in deren Rahmen der Autor es veröffentlicht hat.

Es hat sich als zweckmäßig erwiesen, dann aber nicht sogleich detailliert auf den Text einzugehen, sondern zunächst einmal (im Folgenden durch Kleindruck von der eigentlichen Interpretation abgehoben) all das aufzuzählen, was sich schon vor jedem genaueren Verstehen an ihm an Auffälligem beobachten und verläßlich feststellen läßt. Das ist zunächst einmal seine Gliederung in Verse und gegebenenfalls in Versgruppen sowie die Art und Weise, wie diese markiert sind: ob nur im Schriftbild durch Zeilensprung bzw. Leerzeilen, oder auch klanglich durch Reim und/oder regelmäßigen Rhythmus. Als Nächstes werden dann jene auffälligen Verschiebungen der Versgliederung gegenüber der syntaktischen Gliederung registriert, die man allgemein als „Enjambement“ bezeichnet. Dabei wird auch berücksichtigt, von welcher Rangstufe die syntaktischen Einheiten sind, die durch die Versgrenzen zerschnitten werden: ob Absätze, Sätze, Teilsätze oder Wortgruppen – manchmal sind es ja sogar zusammengesetzte Einzelworte, so etwa wenn Celan (28) vom „bunten Gerede des An-|erlebten“ spricht. Anders ausgedrückt: Es wird auch berücksichtigt, wie eng der syntaktische Zusammenhang ist, den die betreffende Versgrenze zerschneidet. Weiterhin wird festgehalten, wo ungewöhnliche Wortwahl vorliegt: kühne Neubildungen oder altertümelnde Wörter, Fachtermini und Fremdwörter, auffällig gewählte oder provozierend vulgäre Wörter und Ausdrücke. Von der ungewöhnlichen Wortwahl wird dann unterschieden eine ungewöhnliche Wortverwendung, z. B. ironische, metonymische oder kühn metaphorische. Beides kann auch zusammenfallen, wie z. B. bei Rilkes „Augenäpfeln“ (6), wo diese Wortneubildung den kaum noch empfundenen metaphorischen Charakter des üblichen Wortes („Augäpfel“) wieder bewußt macht. Schließlich werden, falls vorhanden, auch noch Klangeffekte registriert, die nicht schon bei der Analyse von Rhythmus und Reim berücksichtigt worden sind. All diese Auffälligkeiten tragen ja das Ihre dazu bei, daß ein Gedicht schon vor genauerem Verstehen das Interesse des Lesers weckt (ihn gleichsam anlockt) und ihn so veranlaßt, sich eingehender mit ihm zu befassen. Und die Frage, warum der Autor diese Auffälligkeiten in den Text eingebaut hat (warum er diese Versart und Versgruppengliederung gewählt hat? warum er hier innerhalb einer engen syntaktischen Einheit eine Versgrenze gesetzt hat? was die Funktion dieser oder jener ungewöhnlichen Metapher ist?), weist dem genaueren Verstehen immer auch schon gewisse Richtungen. ← 14 | 15 →

Auf diese Vorbetrachtung folgt dann die eigentliche Interpretation, welche, da sie textnah sein soll, idealiter eigentlich nichts anderes sein will als eine analysierende Beschreibung des Gedichttextes nach Kategorien und mithilfe von Begriffen, die sich aus dem Wesen des lyrischen Gedichtes ergeben. Dieses läßt sich definieren als

Zunächst gilt, was für das Verstehen aller sprachlichen Äußerungen gilt: In einer ersten Stufe werden sie phonetisch oder visuell wahrgenommen, d. h. bei mündlichem Vortrag als Klangfolge, bei schriftlicher Fixierung als Schriftzeichenreihe. In einer zweiten Stufe werden sie dann nach dem Code der betreffenden Sprache entschlüsselt und auf diese Weise verstanden. Dieses Verstehen läßt sich dann aufgliedern, und zwar analog zu den drei elementaren Sprachfunktionen, die der Philosoph Karl Bühler in seiner „Sprachtheorie“ unterschieden und in seinem sogenannten „Organon-Modell“ veranschaulicht hat (Diagramm 1).4

Analog dazu kann man dann also drei verschiedene Verstehensbahnen unterscheiden:

fig1.jpg

Diese Verhältnisse soll das Diagramm 2 veranschaulichen:

fig2.jpg

In der Regel ist ein Gedicht jedoch keine in einem bestimmten Moment gemachte spontane Äußerung, sondern – worauf rein äußerlich schon seine Versifizierung hinweist – eine sorgfältig gestaltete Äußerung, und diese ist auch nicht, wie im elementaren Falle direkter mündlicher oder schriftlicher Mitteilung, für einen bestimmten Rezipienten gedacht, sondern durch Veröffentlichung für eine mehr oder weniger breite Leserschaft, die der Autor sich vorwegnehmend vorstellt. Dennoch ← 16 | 17 → wird in Gedichten oft jemand angeredet, der offensichtlich nicht jener allgemeine Rezipient ist, mit dem wir uns als Leser identifizieren sollen. So etwa, wenn der Sprecher zu sich selber spricht, oder zu einem Freund oder zu seiner Geliebten, oder zu einer höheren Macht, an die er sich in Gebetsanrede wendet, oder es ist gar ein Gegenstand, den er, ihn anredend, in den Status einer Person erhebt. Auch suggeriert der Autor uns oft, daß der Sprecher dies in einer bestimmten Situation tue, die weder mit der Entstehungssituation des Gedichts noch der Situation, in der wir es lesen oder vorgetragen hören, gleichgesetzt werden kann. Einige Beispiele: Der Sprecher, mit einem Bekannten im Pariser Louvre vor dem sogenannten „Torso von Milet“ stehend, schildert, welche Wirkung diese Skulptur auf sie beide hat (Rilke/6). Der Sprecher, auf einer Autofahrt von einem Ort zu einem anderen Ort durch eine Reifenpanne aufgehalten, fragt sich verwundert, warum er, obwohl er sich doch weder am Ausgangs- noch am Zielort gern aufhält, über diese Verzögerung Ungeduld empfindet (Brecht/18). Die Sprecherin fordert einen Mann auf, sich auf ein Liebesverhältnis mit ihr einzulassen (Hahn/47), oder sie gesteht, Gott anredend, daß sie in bestimmten Momenten nahe daran ist, an seine Existenz zu glauben, ja sogar ihn zu lieben (Hahn/50). Oder es ist ein als Marmormaske gestalteter römischer Brunnenmund, der personifizierend feierlich angeredet wird (Rilke/7). Dies nötigt uns dann, nicht nur den im Gedicht Angeredeten von dem Rezipienten, an den es sich als Gedicht wendet, sondern auch den im Gedicht Sprechenden, das sogenannte „Lyrische Ich“, vom Autor, der es verfaßt hat, zu unterscheiden. Dieser Sprecher, wie wir ihn hinfort konsequent nennen wollen, mag zwar mehr oder weniger viel mit dem Autor gemeinsam haben,5 aber auch dann wird er in einer Situation dargestellt, die vom Autor im Gedicht als gegenwärtig fingiert wird, wenn vielleicht auch in Erinnerung an eine, in der er sich in der Vergangenheit tatsächlich einmal befunden hat.

Diese grundsätzliche Fiktionalität des im Gedicht Geäußerten erzwingt nun auch eine Differenzierung des Verstehensvorgangs: Man wird das in ihm vom Sprecher dem Angeredeten gegenüber Gesagte zwar zunächst einmal wie eine normale Äußerung zu verstehen suchen (wie oben im Diagramm 2 veranschaulicht), doch dann wird man sich fragen müssen, ob diese Äußerung zu dem vom Dichter eigentlich Gemeinten nicht in einem „tropischen“ Verhältnis steht:6 Vielleicht wird im Gedicht das vom Dichter mit ihm eigentlich Gemeinte „ironisch“ durch sein Gegenteil umschrieben; oder das Gedicht stellt „synekdochisch“ nur einen Sonderfall des eigentlich gemeinten Allgemeineren vor Augen; oder es umschreibt das ← 17 | 18 → eigentlich Gemeinte „metaphorisch“ durch etwas anderes, mit ihm in irgendeiner Hinsicht Vergleichbares. Es ist eine besondere Art von Tropik, um die es sich hier handelt: Es geht hier nicht um einzelne Textelemente, etwa Wörter, die dadurch, daß sie in einem Widerspruch zu ihrem unmittelbaren Kontext stehen, sich als uneigentlich gemeint erweisen; sondern es geht um den Gedichttext selbst in seiner Gesamtheit, der vielleicht zwar innerhalb des vom Gedicht fingierten Kommunikationsraumes ohne weiteres als eigentlich verstanden werden kann, insgesamt aber offensichtlich anders gemeint ist. Zwei Beispiele: Die Sprecherin und ihre Freunde haben einen Drachen fliegen lassen, der sich dann aber selbständig gemacht hat und ihnen davongeflogen ist (Kirsch/41); eine andere Sprecherin ist zu einer Quelle gegangen, hat dort aber zu trinken vergessen (Novak/42). Erst wenn man sich fragt, was die Autorin (im Unterschied zur Sprecherin) mit dem Gedicht uns, den Lesern (im Unterschied zu den im Gedicht angeredeten Personen) sagen will, erweist sich das im Gedicht Gesagte als Umschreibung von etwas anderem: Drachen fliegen zu lassen bekommt dann die Bedeutung: sich kühne utopische Hoffnungen zu machen; aus der Quelle nicht zu trinken: gegebene Möglichkeiten des Lebensgenusses nicht zu nutzen. In analoger Weise kann man im übrigen, wenn man will, auch den Begriff des „Symbols“ definieren: Etwas, was innerhalb des fiktiven Gedichtraums real ist, erweist sich beim Verstehen des Gedichtes als Gedicht als Repräsentant von etwas anderem: Die Wolke z. B., die in Brechts Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ (14) für kurze Zeit am Sommerhimmel steht, erweist sich dann als Symbol für die nur allzu vergängliche Erinnerung an die Gefühle, die man einmal für eine Person empfunden hat. Das oben vorgeführte Diagramm 2, welche den Rezeptionsvorgang bei spontaner und direkter Kommunikation veranschaulichen sollte, muß also den nun sehr viel komplizierteren Verhältnissen angepaßt werden. Das wird mit dem auf der nächsten Seite abgedruckten Diagramm 3 versucht.

Daß der Autor in seinem Gedicht eine fingierte Person (den Sprecher) sich mit ihrer Rede an eine ebenfalls fingierte Person (den Angeredeten) wenden läßt, ist eine vom Drama her wohlbekannte Konstellation. In der Lyrik bleibt es jedoch, wie schon gesagt, so gut wie immer bei einer Einzelrede des Sprechers: Die Konvention der literarischen Gattung verbietet es hier dem Angeredeten, sich auch seinerseits zu Wort zu melden. Allenfalls wird er gelegentlich vom Sprecher kurz zitiert (Brecht/15), oder seine Gegenrede läßt sich aus der Rede des Sprechers erschließen (Gernhardt/45; Fritz/37). Davon abgesehen jedoch besteht die Kunst lyrischer Redefiktion genauso wie die der dramatischen nicht zuletzt auch darin, den Sprecher so lebendig wie möglich wirken zu lassen. D. h.: wie dort die Zuschauer, so sollen auch hier die Leser den Eindruck haben, sie hörten einer ← 18 | 19 → wirklichen Person zu und könnten aus deren Rede auf deren charakterliche Art und momentane Gemütslage zurückschließen.

fig3.jpg

Es ist wichtig, daß man sich diese grundsätzlichen Verhältnisse klargemacht hat, bevor man sich dem Wortlaut des Textes selbst zuwendet. Er ist zunächst einmal eine sprachliche Äußerung, die nach den Regeln der betreffenden Sprache (oder, falls der Autor sich bewußt über sie hinwegsetzt, doch auf jeden Fall in Bezug auf diese Regeln) formuliert worden ist, und die deshalb auch nach den Kategorien und mit den Begriffen, welche sich beim Umgang mit sprachlichen Äußerungen aller Art als dafür geeignet erwiesen haben, analysiert werden kann. Sie finden sich in den Grammatiken zusammengestellt. Die Grammatiken der deutschen Sprache, auf die im Folgenden immer wieder verwiesen wird, sind der 4. Band des „Duden“, und, ergänzend, die „Deutsche Grammatik“ von Johannes Erben – letztere vor allem deshalb, weil sie äußerst sensibel auch das literarische Deutsch berücksichtigt.

Auch in ausführlicheren Grammatiken wird aber meist nur sehr kurz auf die Art und Weise eingegangen, wie sprachliche Elemente (Wörter, manchmal auch kleinere Wortgruppen) in der Wortfolge einer Rede hervorgehoben werden.7 Da ← 19 | 20 → sich gerade das aber für die Interpretation versifizierter Texte als wichtig erweisen wird, soll davon hier etwas ausführlicher gesprochen werden.

Wie die Wortfolge einer jeden sprachlichen Äußerung, so hat auch die eines Gedichts so etwas wie ein Wichtigkeitsrelief, d. h. die Wörter, aus denen sie sich zusammensetzt, sind von unterschiedlicher Wichtigkeit für das Verstehen. Das kann verschiedene Gründe haben: Worte hoher Wichtigkeit können – um noch einmal auf die Bühlersche Unterscheidung der Sprachfunktionen zurückzugreifen – wichtig sein als Aussage-, Appell- oder Ausdruckpointe, aber auch, weil sie auf satzübergreifende Zusammenhänge aufmerksam machen. Oft sind sie sofort zu erkennen, etwa weil ihre Wichtigkeit sich schon aus ihrer Bedeutung ergibt – das gilt etwa für Superlative oder Wörter absoluter Bedeutung wie „alles“, „jeder“ oder „niemand“ und „nichts“ –, oder weil es sich aus ihrem nächsten Kontext ergibt. Doch trägt es zur Verständlichkeit und Wirkkraft des Textes auf jeden Fall bei, wenn sie zusätzlich auch noch irgendwie hervorgehoben werden. Bei mündlichem Vortrag geschieht das mit intonatorischen Mitteln: etwa durch Betonung oder durch eine vor oder nach dem betreffenden Wort gemachte kleine Kunstpause. In schriftlich fixierter Rede dienen dazu andere Mittel, etwa Fett-, Kursiv- oder Sperrdruck. Es gibt aber auch Hervorhebungsmittel, die sowohl in mündlicher wie in schriftlicher Rede gleichermaßen anwendbar sind. Das sind vor allem solche der Wortstellung. Ganz allgemein gesagt läuft es dabei immer auf eine von der üblichen („usuellen“) abweichende „okkasionelle“ Wortstellung hinaus: Das hervorzuhebende Wort wird in Abweichung von der üblichen Wortfolge an den Anfang oder an den Schluß der syntaktischen Einheit gerückt (Spitzen- oder Endstellung: „Lesen will er“ statt „Er will lesen“; „In der Stadt war ich gestern“ statt: „Gestern war ich in der Stadt“). Oder die übliche Reihenfolge nebeneinanderstehender Wörter wird umgekehrt (Inversion: „Er hat Beweise, triftige, vorgetragen“ statt „Er hat triftige Beweise vorgetragen“). Oder syntaktisch eng zusammenhängende Wörter (etwa ein Substantiv und das zugehörige Attribut) werden durch Zwischenwörter voneinander getrennt (Attributsperrung: „Er hat Beweise vorgebracht, triftige“). Dies alles ist, wie die Beispiele vorführen, schon in Prosatexten möglich. In versifizierten Texten ergeben sich dann aber noch zusätzliche Möglichkeiten. So können etwa Hervorhebungen durch Anfangs- oder Endstellung in einer syntaktischen Einheit durch Anfangs- oder Endstellung im Vers zusätzlich unterstrichen und verstärkt werden: Die Versgrenze fällt entweder mit der syntaktischen Grenze zusammen:8 „||Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend“ (Trakl/13); „Wer ← 20 | 21 → möchte leben ohne den Trost der Bäume!||“ (Eich/21). Oder die Endstellung in der syntaktischen Einheit wird mit einer Spitzenstellung in der poetischen Einheit „Vers“ kombiniert. Es ergibt sich die als „Rejet“ bezeichnete Sonderform des Enjambements: „ … Bereitschaft| zu einem außerordentlichen Bau| beizutragen. …“ (Kunert/35). Oder umgekehrt: Eine syntakische Spitzenstellung wird mit einer Endstellung im Vers kombiniert („Contre-Rejet“): „ … Nichts| Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen“ (Brecht/16). Und es ergeben sich nun auch noch ganz neue Hervorhebungsmöglichkeiten: Auch an einer Stelle mitten im Satz kann ein Wort unter Beibehaltung der usuellen Wortfolge durch Ansetzen einer Versgrenze unmittelbar davor oder danach hervorgehoben werden: „ … die junge Krebskranke, die| eben noch blühte“ (Kaschnitz/20); „ … das Nichtgedicht lebt| als sanfte Lauheit der Inspiration“ (Kunert/31). Syntaktisch eng an ein anderes Element angebundene Elemente (Attribute eines Substantivs) brauchen jetzt nicht mehr durch Inversion oder Sperrung hervorgehoben werden, sondern es genügt, sie durch eine Versgrenze vom Bezugswort abzutrennen: „ … diese unausgeführten| Arbeiten“ (Kunert/34). Und dieses Hervorhebungsverfahren kann nun auch bei anderen, noch enger zusammengehörigen sprachlichen Elementen (bei einem Substantiv und seinem Artikel, oder bei einem zusammengesetzten Wort) angewandt werden: „ … und die| Wiesen bleiben lange hell“ (Brecht, „Das Frühjahr“9); „ … das bunte Gerede des An-|erlebten – das hundert-|züngige Mein-|gedicht …“ (Celan/27). Ganz allgemein gilt: Je enger der syntaktische Zusammenhang ist, welchen die betreffende Versgrenze zerschneidet, desto deutlicher ist die hervorhebende Wirkung, und desto eher läßt sich vermuten, daß eine Absicht des Autors dahintersteht. Welches der beiden in dieser Weise voneinander getrennten sprachlichen Elemente hervorgehoben werden soll (vielleicht sogar beide, wie z. B., wenn Celan/25 von „Königs-|geburten“ spricht), ergibt sich allerdings erst aus dem Sinnzusammenhang. Das gilt im übrigen ganz grundsätzlich: Wenn ein Wort sich in einer solchen potentiell hervorhebenden Position befindet, steht es zunächst einmal nur unter Wichtigkeitsverdacht. Ob es dem Verfasser des Textes tatsächlich aus irgendwelchen Gründen besonders wichtig gewesen ist, ob er es tatsächlich durch diese Positionierung hat hervorheben wollen, ergibt sich erst aus dem Zusammenhang. Die stärkste und in diesem Fall wohl immer unzweifelhaft absichtsvolle Hervorhebung eines Wortes oder einer kleinen Wortgruppe ← 21 | 22 → wird dadurch geleistet, daß der Dichter ihr einen eigenen Vers zuweist, so daß sie nunmehr am Anfang und am Ende einer poetischen Einheit steht: „|nichts| dahinter als die alten Versprechen“ (Kunert/33); „Gedicht ist Zustand| den das Gedicht zerstört,| indem es| aus sich selber hervortritt“ (Kunert/31).

Bereits in der klassischen Antike haben Dichter von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht, hin und wieder schon Homer, besonders häufig die römischen Dichter der augusteïschen Zeit: Horaz, Vergil, die römischen Elegiker. In dem Maße nun, wie in der modernen Dichtung die konventionelle Festlegung der Verslänge auf eine bestimmte Zahl von Silben oder Hebungen aufgegeben und die Ansetzung der Versgrenzen so ins Belieben der Dichter gestellt wird, haben sich diese Möglichkeiten vervielfacht. Extremen Gebrauch davon macht z. B. Paul Celan, aber auch bei Kunert und der Kaschnitz finden sich viele Beispiele. Um so seltsamer, daß die Interpreten so wenig darauf achten. Dabei ist die Worthervorhebung meines Erachtens inzwischen fast zur wichtigsten Funktion der Versifizierung geworden. Ihre ursprüngliche Funktion, nämlich dem Text eine phonetische Regelmäßigkeit zu geben und ihn so „musikalischer“, sozusagen „singbarer“ zu machen, tritt im modernen „freien“ Vers dagegen mehr und mehr in den Hintergrund. Eine dritte, schon erwähnte Funktion, nämlich auf den fiktionalen Charakter der Gedichtrede hinzuweisen, bleibt allerdings nach wie vor wichtig.

Die zusätzlichen Hervorhebungsmöglichkeiten, welche versifizierter Sprache zur Verfügung stehen, bewirken unter anderem auch, daß Poesie viel prägnanter sein kann als Prosa, d. h. daß sie mit weniger Worten ein Mehr an Aussage, Ausdruck und Appell leisten kann. Dadurch erhält sie jene Dichte, die man seit jeher und zu Recht als ein Charakteristikum von Dichtung betrachtet hat. Etymologisch gesehen hat das Wort „Dichtung“ zwar, wie man weiß, mit „Verdichtung“ nichts zu tun, sondern ist von dictare, dem Frequentativum des lateinischen Verbs dicere = „in bewußt gestalteter Weise sprechen, eine Rede halten, dichten“, auch „singen“ (im Gegensatz zum spontanen umgangssprachlichen loqui) abzuleiten. Von der Sache her jedoch gehören Dichtung und Verdichtung tatsächlich zusammen. Schon der anonyme Autor der berühmten Schrift „Über das Erhabene“ (Perí hypsus, 1. Jahrh. n. Chr.) hat an großer Dichtung zweierlei Leistungen hervorgehoben: erstens die Auswahl des am Gegenstand Wesentlichen (eklogé), und zweitens die „Verdichtung“ (pyknosis) des so Ausgewählten, und er illustriert das an einem Gedicht der Lyrikerin Sappho.

Alles bisher Besprochene betraf die immanente, d. h. zunächst ausschließlich auf dem Gedichttext selbst aufbauende Interpretation. Falls auf diesem Wege noch kein befriedigendes Textverständnis erreicht werden kann, bleibt noch die Möglichkeit, im Kontext nach helfenden Hinweisen zu suchen. Dabei ist zwischen ← 22 | 23 → literarischem und situativem Kontext zu unterscheiden. Der literarische Kontext eines Gedichtes, das ist zunächst einmal die Gedichtsammlung, in welcher der Dichter es veröffentlicht hat. Falls diese nämlich nicht nur eine nachträgliche und willkürliche Zusammenstellung ursprünglich voneinander unabhängiger, zu ganz verschiedenen Zeiten und unter ganz verschiedenen Umständen verfaßter Texte ist, kann es für das rechte Verständnis eines Gedichtes hilfreich sein, auf die Position zu achten, die es in ihr einnimmt – ob es z. B., wie Georges Einladung in den totgesagten Park (1), Einleitungsgedicht einer ganzen Sammlung ist, oder wie Celans „Ausgebeizt“ (27) Schlußgedicht, oder ob es, wie Rilkes Anrufung des Brunnenmundes (7), die genaue Mitte einer sorgfältig komponierten Gedichtfolge einnimmt. Es kann auch nützlich sein, wie bei eben diesem Rilkegedicht oder etwa bei dem Drachenfluggedicht Sarah Kirschs (41), auf die in unmittelbarer Nachbarschaft stehenden Gedichte zu achten. Darüber hinaus können natürlich auch andere dichterische oder programmatische Äußerungen des Autors aus derselben Zeit wertvolle Hinweise geben.

Unter dem situativen Kontext eines Gedichtes sei hier die Lebenssituation des Dichters, in der er es verfaßt hat, verstanden. Sie ist bei Gedichten unserer Zeit anders als bei älteren oft erstaunlich genau zu rekonstruieren, und es wäre töricht, sich diesen Vorteil nicht zunutze zu machen, solange das nur mit der notwendigen Behutsamkeit geschieht, d. h. unter angemessener Berücksichtigung der schon besprochenen Fiktionalität des dichterischen Textes. Am gelungensten sind zwar zweifellos Gedichte, die sich von dieser ihrer situativ-biographischen Grundlage weitgehend unabhängig gemacht haben. Doch selbst sie gewinnen an anschaulicher Konkretheit und suggestiver Wirkkraft, wenn man sich den Lebenshintergrund klar machen kann, vor dem sie entstanden sind: wenn man z. B. weiß, welche zwei Todesfälle den 22jährigen Studenten Hofmannsthal zu seinen „Terzinen über Vergänglichkeit“ (3) veranlaßt haben; wo Rilke wohnte und wie sein Tageslauf aussah, als er 1902 kurz nach seiner Ankunft in Paris sein berühmtes Herbsttag-Gedicht verfaßte (4); unter dem Eindruck welcher erotischen Frustration Brecht am 22. Februar 1920 abends im Zug nach Berlin seine „Erinnerung an die Marie A.“ (15) in sein Tagebuch eintrug; wenn man weiß, daß „Der Rest des Fadens“ (41) das erste Gedicht war, das Sarah Kirsch 1979 nach ihrem nicht freiwilligen Umzug von Ost- nach Westberlin verfaßt hat; und daß Robert Gernhards Gedicht „Ach“ (45) enstanden ist, kurz bevor er sich 1996 einer gefährlichen Herzoperation unterziehen mußte. Bei vielen Gedichten aus der hier ins Auge gefaßten Zeit gibt es, wie gesagt, oft ausreichend genaue Quellen für derartige Informationen, und nicht selten sind es sogar die Autoren selbst, die in Briefen, Selbstkommentaren und autobiographischen Schriften darüber Auskunft geben – ich denke hier ← 23 | 24 → etwa an Helga Novaks Kindheits- und Jugenderinnerungen („Die Eisheiligen“, „Vogel federlos“, „Im Schwanenhals“), die ausführlich illustrieren, was in ihrem Gedicht „keine Mutter nährte mich“ (44) ganz knapp erzählt wird. Und manchmal weisen die Dichter ja sogar im Gedicht selbst auf den autobiographischen Anlaß hin, etwa durch eine offene oder mit Initialen angedeutete Widmung: „für Horst“ (Novak/42); „An K. J.“ (Gertrud Kolmar/14). ← 24 | 25 →

                          

  1  So etwa Hans H. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900–2000 im internationalen Kontext der Moderne, Teil I und II, Würzburg 2005 und 2006.

Details

Seiten
359
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653046472
ISBN (ePUB)
9783653979428
ISBN (MOBI)
9783653979411
ISBN (Hardcover)
9783631655450
DOI
10.3726/978-3-653-04647-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juli)
Schlagworte
Kontext Lebenssituation Deutungsvorschlag Kommunikationssituation
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 359 S., 3 Graf.

Biographische Angaben

Christoff Neumeister (Autor:in)

Christoff Neumeister, Professor emeritus der Universität Frankfurt, studierte Klassische Philologie und Philosophie an der Universität Heidelberg und an der Yale University (USA).

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Titel: Fünfzig deutsche Gedichte des 20. Jahrhunderts, textnah interpretiert
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