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Herr Puntila und sein Knecht Matti

Die Entwicklung einer gemeinsamen Stückkonzeption und zahlreicher verschiedener Textderivate von Bertolt Brecht (Margarete Steffin) und Hella Wuolijoki

von Marja-Liisa Sparka (Autor:in)
©2014 Dissertation XIII, 266 Seiten

Zusammenfassung

Die Genesis des Herrn Puntila und sein Knecht Matti von Hella Wuolijoki (1886-1954) und Bertolt Brecht (1898-1956) belebt seit fast 70 Jahren den finnisch-deutschen Literaturdialog und ruft immer wieder Diskussionen über die Entstehung des Werkes hervor. Das Buch analysiert alle bisher bekannten Fassungen des Dramas auf einer historisch-deskriptiven Grundlage. Das Ergebnis der Analyse lässt nur marginale Divergenzen in der Struktur der Derivate erkennen: Die oft nur sprachlich-stilistischen Abweichungen gehen vielfach auf ein unterschiedliches Textverständnis zwischen der Ausgangs- und der Zielsprache zurück. Damit widerspricht die Autorin der gelegentlich in der Brecht-Forschung vertretenen Auffassung, Wuolijokis finnischsprachige Überarbeitung des Brechtschen Puntila sei «die letzte Verzweigung des toten Asts jener Mischfassung, die keinem der beiden Autoren gerecht wird» (Hans Peter Neureuter).

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsübersicht
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Brechts Weg nach Finnland
  • 1.2 Brecht in Finnland
  • 1.3 Zusammenarbeit von Hella Wuolijoki und Bertolt Brecht
  • 1.4 Zum Forschungsstand in Deutschland und in Finnland
  • 1.5 Rahmenbedingungen der entwicklungsgeschichtlichen Analyse
  • 1.5.1 Analyseverfahren
  • 1.5.2 Theoretischer Ansatz
  • 1.5.3 Konzeptionelle Elemente
  • 2 Ausgangspunkt des künstlerischen Dialogs zwischen Bertolt Brecht und Hella Wuolijoki
  • 2.1 Hella Wuolijoki – Patriotin, Marxistin, Gutsherrin
  • 2.2 Wer war Bertolt Brecht?
  • 2.2.1 Brechts episches Theater
  • 2.3 Entstehung der gemeinsamen Stückvorlage
  • 3 Analyse der gemeinsamen Stückvorlage
  • 3.1 „Ein finnischer Bacchus“, Vorfall (1926)
  • 3.2 „A Fin[n]ish Ba[c]chus“, Primärtext (um 1927/1928)
  • 3.3 „Sägemehlprinzessin“ [Sahapuruprinsessa [sic]], Bühnenfassung (um 1936)
  • 3.3.1 Handlung
  • 3.3.2 Figuren
  • 3.3.3 Resümee
  • 3.4 „Sägemehlprinzessin“ [Sahapuruprinsessa [sic]], Filmfassung (1937)
  • 3.4.1 Handlung
  • 3.4.2 Figuren
  • 3.4.3 Resümee
  • 3.5 Diktat Hella Wuolijokis an Margarete Steffin (1940)
  • 3.5.1 Handlung
  • 3.5.2 Figuren
  • 3.5.3 Resümee
  • 4 Brecht-Derivate
  • 4.1 Puntila, „erste Niederschrift“, BBA 178 (1940)
  • 4.1.1 Aufbau
  • 4.1.2 Sprechmodelle
  • 4.1.3 Finnische Erzählungen
  • 4.1.4 Handlung
  • 4.1.5 Figuren
  • 4.1.6 Resümee
  • 4.2 Herr Puntila und sein Knecht Matti, Abschrift Margarete Steffin, „Reinschrift“, BBA 177 (1940)
  • 4.2.1 Handlung
  • 4.2.2 Figuren
  • 4.2.3 Resümee
  • 4.3 Herr Puntila und sein Knecht Matti (1950)
  • 4.3.1 Handlung
  • 4.3.2 Figuren
  • 4.3.3 Resümee
  • 4.4 Bertolt Brecht. Puntilan isäntä ja hänen renkinsä Matti. Herr Puntila und sein Knecht Matti. „Kansannäytelmä“ [Volksstück], Elvi Sinervos Übersetzung ins Finnische (1975)
  • 4.4.1 Handlung
  • 4.4.2 Sprachliche Merkmale
  • 4.4.3 Figuren
  • 4.4.4 Resümee
  • 5 Wuolijoki-Derivate
  • 5.1 „erste Niederschrift“ (1940), Vorlage Hella Wuolijoki
  • 5.1.1 Handlung
  • 5.1.2 Figuren
  • 5.1.3 Resümee
  • 5.2 Iso-Heikkilän isäntä ja hänen renkinsä Kalle. Komediakertomus Hämeen humalasta. Kirj. nimim. „Ursus“ [Gutsbesitzer Iso-Heikkilä und sein Knecht Kalle. Komödienerzählung über die Trunkenheit in Tavastland. Verfasst vom Pseudonym „Ursus“], „Wettbewerbsfassung“, Hella Wuolijokis Übersetzung der „ersten Niederschrift“, Vorlage HW ins Finnische (1940)
  • 5.2.1 Sprachliche Merkmale
  • 5.2.2 Aufbau
  • 5.2.3 Handlung
  • 5.2.4 Figuren
  • 5.2.5 Resümee
  • 5.3 Iso-Heikkilän isäntä ja hänen renkinsä Kalle. Komediakertomus hämäläishumalasta [Gutsbesitzer Iso-Heikkilä und sein Knecht Kalle. Komödienerzählung über die tavastländische Trunkenheit] (1946)
  • 5.3.1 Handlung
  • 5.3.2 Figuren
  • 5.3.3 Resümee
  • 6 Zusammenfassung der Figurenanalyse
  • 6.1 „Vorfall“
  • 6.2 „Novelle“
  • 6.3 „Bühne“
  • 6.4 „Film“
  • 6.5 „Diktat“
  • 6.6 „erste Niederschrift“
  • 6.7 „Abschrift Steffin“
  • 6.8 „Puntila 1950“
  • 6.9 „Puntila/Sinervo 1975“
  • 6.10 „erste Niederschrift/Vorlage HW“
  • 6.11 „Iso-Heikkilä/Ursus 1940“
  • 6.12 „Iso-Heikkilä 1946“
  • 7 „Puntila“-Figurencharakterisierung im Vergleich
  • 7.1 Wuolijoki-Substrat: Von Vorfall (1926) bis Diktat (1940)
  • 7.2 Brecht-Derivate
  • 7.3 Wuolijoki-Derivate
  • 7.4 Brecht versus Wuolijoki
  • 7.5 Wuolijoki versus Sinervo
  • 7.6 Auswertung der „Puntila“-Figurencharakterisierung im Vergleich
  • 8 Vom Primärtext zur Endfassung, Vergleich und Auswertung
  • 8.1 „Puntila“-Konfigurationen im Vergleich
  • 8.1.1 Konfiguration „Sägemehlprinzessin Bühne“ (1936)
  • 8.1.2 Konfiguration „Sägemehlprinzessin Film“ (1937)
  • 8.1.3 Konfiguration „Diktat“ (1940)
  • 8.1.4 Konfiguration „erste Niederschrift“ (1940)
  • 8.1.5 Konfiguration „Abschrift Steffin“ (1940)
  • 8.1.6 Konfiguration „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ (1950)
  • 8.1.7 Konfiguration „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ (1975)
  • 8.1.8 Konfiguration „erste Niederschrift“, Vorlage Hella Wuolijoki (1940)
  • 8.1.9 Konfiguration „Iso-Heikkilä, Ursus“ (1940)
  • 8.1.10 Konfiguration „Iso-Heikkilä“ (1946)
  • 8.2 Auswertung des Analyseverfahrens
  • 9 Schlussbetrachtung
  • 10 Literaturverzeichnis
  • 10.1 Primärliteratur
  • 10.2 Archivmaterial
  • 10.3 Sekundärliteratur

← XIV | 1 →1 Einleitung

Die Entstehungsgeschichte des Dramas Herr Puntila und sein Knecht Matti belebt seit mehreren Jahrzehnten den deutsch-finnischen Dialog unter Literatur- und Theaterinteressierten beider Länder. Dieses Phänomen beruht einerseits auf der breiten kulturellen Wertschätzung des Werkes – einer Rarität, die sowohl zum deutschen als auch zum finnischen Kulturgut gehört, und deren äußere Entstehungsumstände während der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa die Zeitgeschichte kaum eindringlicher dokumentieren könnten. Andererseits bietet die Urheberschaft des Werkes, die in einem von Hella Wuolijoki (1886-1954) und Bertolt Brecht (1898-1956) im Mai 1941 unterschriebenen Vertrag definiert wird, seit der Uraufführung des Herr[n] Puntila und sein Knecht Matti am 5. Juni 1948 im Schauspielhaus Zürich immer wieder Anlass zu neuen Fragen und auch zu Diskussionen sowohl in theater- und literaturnahen Kreisen beider Länder (Donner 1956; Lounela 1979; Långbacka 1982; Haikara 1992), als auch zwischen der Brecht-Forschung (Mews 1975; Valle 1977; Semrau 1980; Neureuter 1986; Haikara 1992; Knopf 2001 u. a.) und der Wuolijoki-Forschung (Ammondt 1985; 1988; Koski 2000; Tuomioja 2006 u. a.). Ein wesentlicher Grund für die unterschiedlichen Standpunkte im Diskurs über die Entstehungsgeschichte dürfte die verhältnismäßig geringe Anzahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen sein, die sich mit der „Inzwischenzeit“1 Bertolt Brechts vom 18. April 1940 bis 13. Mai 1941 in Finnland und der Genesis des Herr[n] Puntila und sein Knecht Matti befassen.

Wie zuletzt Hans Peter Neureuter in seiner 1987 veröffentlichten Monografie Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“2 haben sich die deutschen Brecht-Forscher eher verhalten zu der Urheberschaftsfrage geäußert, was in Finnland zu der irrtümlichen Annahme geführt hat, Wuolijokis Beteiligung an der gemeinsamen Stückkonzeption werde von der Brecht-Forschung für zu geringfügig ← 1 | 2 →gehalten, um ein tieferes Interesse zu verdienen. Nach Auffassung der finnischen Wuolijoki-Forscherin Pirkko Koski habe man Wuolijoki nicht einmal hervorgehoben, als die Bedeutung der Mitarbeiterinnen für die Entstehung der Brecht-Werke von der Forschung „mit kräftigen Farben und sensationsmotiviert dargestellt wurde. Eine ausländische Erfolgsautorin mittleren Alters war nicht so interessant, wie jene schönen jungen Frauen, die die Vermutung erweckten, auf verschiedenste Weise von Brecht ausgenutzt worden zu sein“3. Wuolijokis Anteil an der Entstehung des Dramas würde daher mit der geografischen Entfernung korrelieren: wenig bedeutungsvoll für Deutschland, aber am interessantesten natürlich für Finnland.

Es wäre übertrieben, von einem Streit zwischen der Brecht- und der Wuolijoki-Forschung zu sprechen. Dennoch deuten die Veröffentlichungen insbesondere in der zahlenmäßig geringer ausfallenden, aber wesentlich jüngeren und sich intensiver mit Brechts Aufenthalt in Finnland befassenden finnischen Literatur daraufhin, dass weder Brecht noch die Frage nach der Urheberschaft an Aktualität verloren haben. Den Kulminationspunkt dieser Diskussionen bildet zweifellos der gegen Brecht geäußerte Plagiatsvorwurf. Brechts Konter, „[w]as die Leute wollen! Den Stoff hat sie mir angeboten. Von Plagiat kann gar keine Rede sein. Wo ich wirklich plagiiert habe, das merken die Leute ja sowieso nicht“4, veranlasste mich zu einer spontanen, auf die Glaubwürdigkeit der Aussage zielenden Befragung von vierzehn finnischen Studenten der deutschen Sprache und Kultur bzw. Literatur5. Alle Probanden hielten Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti einhellig für „Diebesgut“ und schlossen daraus, dass es sich bei Brechts Veröffentlichung um ein Duplikat bzw. eine deutschsprachige Übersetzung der Wuolijoki-Publikation Iso-Heikkilän isäntä ja hänen renkinsä Kalle handelt.

Die neueren Untersuchungen unterstützen an dieser Stelle insofern Brecht, als dass sie die Entstehungsgeschichte des Stückes bereits weitgehend lückenlos rekonstruieren und einen Nachweis dafür liefern können, dass es sich bei Hella Wuolijokis Stück nicht um das gleiche, sondern, wie Brecht es formuliert, um eine „andere Dramatisierung derselben tatsächlich vorgefallenen Vorgänge“6 ← 2 | 3 →handelt. Die vorliegende Untersuchung greift die u. a. von Valle und Neureuter aufgezeigte Linie der Korrektive auf und unterstützt damit auch den Appell des finnischen Regisseurs und Professors Ralf Långbacka anlässlich des Brecht-Symposiums im August 1996, Auf den Spuren Brechts in [sic] finnischen Exil, sich an Brechts Hauptthema, „verändere die Welt. Sie braucht es!“7, zu erinnern, das bis heute nicht an dessen Gültigkeit verloren habe.

1.1 Brechts Weg nach Finnland

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialistische Partei Deutschlands8 wurden an deutschen Universitäten gezielte Aktionen „wider den undeutschen Geist“ von der Deutschen Studentenschaft organisiert. Den Höhepunkt dieser gegen jüdische und systemkritische Intellektuelle gerichteten Maßnahmen bildeten öffentliche Bücherverbrennungen in Berlin und in 21 anderen deutschen Städten, bei denen am 10. Mai 1933 zehntausende Werke verfemter Autoren, darunter auch Werke Brechts, vernichtet wurden.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich Bertolt Brecht und seine Familie bereits auf der Flucht. Die Notwendigkeit, Deutschland verlassen zu müssen, erwies sich bereits zu Beginn des Jahres 1933 als unabdingbar, nachdem die Premiere seines 1930 in Berlin uraufgeführten Lehrstückes Die Maßnahme am 28. Januar desselben Jahres wegen „Aufreizung gegen den Staat durch kommunistische revolutionäre Darstellung des Klassenkampfes zur Herbeiführung der Weltrevolution“9 von der Polizei in Erfurt unterbrochen, und die Veranstalter des Hochverrats bezichtigt worden waren. Nach kürzeren Aufenthalten in Prag, Wien, Zürich, Carona und Paris konnten sich die Emigranten für einen längeren Aufenthalt von 1933 bis 1939 im dänischen Skovsbostrand niederlassen. Die Gefahr, in die Hände des nationalsozialistischen Regimes zu geraten, wuchs nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges jedoch stetig, zumal Brechts Sekretärin und Assistentin, Margarete Steffin10, die dem Schriftsteller und seiner Familie 1933 ins Exil gefolgt war, inzwischen auch polizeilich gesucht wurde. So sahen sich die ← 3 | 4 →Emigranten im Mai 1939 gezwungen, ihren Aufenthaltsort in Dänemark zu verlassen und Zuflucht im höheren Norden zu suchen, mit dem Ziel, von dort aus in die Vereinigten Staaten von Amerika auszuwandern:

„Reise nach Stockholm, der Kriegsgefahr wegen. Visum beschafft durch schwedisches sozialdemokratisches Komitee (Branting, Ström usw.) für Vortrag in der Studentenbühne Stockholm. Land Nr. 3.“11

Anfang April 1940 standen auch Dänemark und Norwegen unter deutscher Besatzung. Kurz nach ihrem Einmarsch in Norwegen erhielt die deutsche Wehrmacht von der schwedischen Regierung die Genehmigung, schwedisches Territorium zu passieren, um so Urlaubertransporte deutscher Soldaten, Kriegsausrüstung und Munition zwischen Deutschland und Norwegen befördern zu können. Brechts Annahme, die schwedischen Behörden würden sich trotz der offenkundigen deutschlandfreundlichen Haltung der schwedischen Regierung neutral gegenüber Flüchtlingen verhalten, erwies sich als falsch. Die verschärften Kontrollen, u. a. wurde Brechts Unterkunft auf der Halbinsel Lindingö im April 1940 von der schwedischen Polizei durchsucht, waren für Brecht schließlich der Anlass, Kontakt mit der estnisch-finnischen Autorin Hella Wuolijoki aufzunehmen, und sie um eine Einladung nach Finnland zu bitten, das zu diesem Zeitpunkt in keinen Krieg verwickelt war.

„April 1940, Lidingö, eine Halbinsel vor Stockholm. Panischer Aufbruch im Atelier der Bildhauerin Ninnan Santesson. Ihre deutschen Gäste - Brecht, seine Familie und seine Mitarbeiterin Margarete Steffin -, seit sieben Jahren auf der Flucht vor ihren Landsleuten, müssen jetzt auch Schweden verlassen. Deutsche Truppen stehen in Kopenhagen. Schwedische Freunde mahnen zur Eile. Rasch packt man das Nötigste. Schubladen werden herausgezogen, Möbel gerückt, Koffer die Treppe heruntergeschleppt. Im Arbeitszimmer herrscht Chaos: Steffin trägt Manuskripte zusammen, eine Auswahl unentbehrlicher Bücher wird getroffen. Längst sind die Kisten voll, aber immer wieder bringt Brecht Bände, auf die er nicht verzichten will. Plötzlich stehen zwei Geheimpolizisten im Raum, weisen einen Haussuchungsbefehl vor, verlangen Pässe, zeigen auf die Bücherberge und fragen nach politischen Publikationen.“12

Brecht und seine Familie rechneten mit einer Invasion der deutschen Wehrmacht in den skandinavischen Staaten und verließen fluchtartig mit nur wenigen Gepäckstücken Schweden. Offensichtlich setzten sich mehrere Persönlichkeiten im Umkreis der Familie für den Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung in Finnland ein. Erkki Tuomioja, Hella Wuolijokis Enkel, Politikwissenschaftler und ← 4 | 5 →Außenminister Finnlands von 2000 bis 2007 und seit 2011, hält es für wahrscheinlich, dass der Kontakt zwischen Brecht und Wuolijoki über Mary Pekkala, eine gebürtige Engländerin und Ehefrau des finnischen sozialdemokratischen Parlamentariers Eino Pekkala13, hergestellt wurde:

„Es war die damals in Stockholm lebende Mary Pekkala, die von Georg Branting im Auftrag von Brecht und seinen schwedischen Freunden herangezogen wurde. Branting reiste mit einem Brief von Brecht nach Helsinki, in dem er anfragte, ob Hella Wuolijoki einen Einladungsbrief für Brecht und seine Begleitung schreiben könnte.“14

Warum Brechts Aufenthalt angesichts der damaligen, in Finnland weit verbreiteten antisowjetischen Stimmung nicht die Aufmerksamkeit der finnischen Staatspolizei, „Valtionpoliisi“, auf sich zog, ist eines der Rätsel dieser Zeit. Während Schuhmacher die guten Beziehungen Hella Wuolijokis zu dem „reaktionären, mit den deutschen Faschisten paktierenden Staatspräsidenten Ryti“15 für den Erhalt der Einreisegenehmigung und Aufenthaltserlaubnis für ausschlaggebend hielt, „weil er an der ‚Dreigroschenoper‘ Gefallen gefunden hatte“16, gab es nach Erkki Tuomiojas Auffassung offensichtlich keine hochrangige politische Entscheidung über die Einreisegenehmigung Brechts, denn „er wurde eher routinemäßig wie jemand mit einem gültigen deutschen Reisepass behandelt, der darauf wartete, seine Reise in die USA fortzusetzen“17. Möglicherweise wurde Brecht bei seiner Einreise für einen jüdischen Flüchtling auf der Durchreise in die USA gehalten. Unter Umständen trugen auch Informationsdefizite bei der finnischen Staatspolizei dazu bei, die offensichtlich weder von Brechts Ruf noch seiner politischen Bedeutung als Schriftsteller Kenntnis hatte. Dies ist jedoch umso mehr zu bezweifeln, da Brecht enge Kontakte zu der bereits erwähnten, politisch linksliberalen, künstlerisch zum Expressionismus zählenden und von der finnischen Staatspolizei gut beobachteten Dichtervereinigung Finnlands, „Tulenkantajat“, aufrechterhielt, während dem bürgerlichen Lager zugehörige Künstler und Intellektuelle, wie Martti Haavio mit dem Pseudonym P. Mustapää, Lyriker und Übersetzer der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht sowie einer der ersten Entdecker Brechts in Finnland, Distanz zu ihm und seiner Familie ← 5 | 6 →bewahrten. Auch Erkki Tuomioja betrachtet es als „ein kleines Wunder, dass es Bertolt Brecht, einem kommunistischen Flüchtling aus Hitlerdeutschland (der fälschlicherweise weiterhin für einen Juden gehalten wurde), gelang, in Finnland Zuflucht zu finden und dort 13 Monate zu bleiben“, denn auch wenn „Finnland nicht antisemitisch war, so war es gewiss ein antisowjetisches Land, besonders nach dem Winterkrieg“.18

1.2 Brecht in Finnland

„Die Sprachwaschung, die ich mit den finnischen ‚Epigrammen‘ vornehme, läßt mich natürlich an die Entwicklung der Lyrik denken. Welch ein Abstieg!“19

Trotz der extremen politischen Ungewissheit, der sprachlichen Isolation und den persönlichen Entbehrungen, die Brechts Aufenthalt in Finnland kennzeichneten, erlebte der Schriftsteller gleichzeitig eine der reichhaltigsten Phasen seines literarischen Schaffens. Fünf von ihm in dieser Zeit bearbeitete und beendete Dramen20 sowie eine Vielzahl von Gedichten, Vierzeilern, Liedtexten, Prosa und theoretischen Texten zeugen davon. Tagebucheintragungen und Rückblenden auf die Etappen dieser Zäsur, die schon bald die Aufmerksamkeit der avantgardistischen finnischen Kulturelite auf sich zog, fallen in diesem Zeitraum jedoch spärlich aus und vermitteln dem Leser oftmals den Eindruck von Frustration und Niedergeschlagenheit: „im Augenblick kann ich nur diese kleinen Epigramme schreiben, Achtzeiler und jetzt nur noch Vierzeiler“21.

Zu Brechts engsten Vertrauten im finnischen Exil zählten neben Hella Wuolijoki vor allem einige der namenhaftesten Vertreter des finnlandschwedischen Modernismus, wie Hagar Olsson, Elmer Diktonius und Erkki Vala, alle Mitglieder der sozialistischen, im Oktober 1935 ins Leben gerufenen antifaschistischen Schriftstellervereinigung „Kiila“ [der Keil]. Dem Aufruf des 1. Internationalen Schriftstellerkongresses von Paris22 folgend – auch Brecht nahm an dieser Konferenz zur Verteidigung der Kultur gegen Faschismus und Krieg teil – setzte „Kiila“ die Arbeit der linksliberalen, inzwischen jedoch gespaltenen finnischen Dichter- und Künstlervereinigung „Tulenkantajat“ [Feuerträger] fort. Die gleichnamige, ← 6 | 7 →von Erkki Vala 1932 gegründete und herausgegebene Wochenschrift der Vereinigung, die u. a. von Hella Wuolijoki materiell unterstützt wurde, war eines der einflussreichsten oppositionellen Organe der 1930er Jahre in Finnland.

Erkki Vala, dessen Name im Arbeitsjournal erst im April 194123 erwähnt wird, gehörte während des etwa dreizehnmonatigen Exils in Finnland neben Hella Wuolijoki zu Brechts wichtigsten Begleitern und Vermittlern der finnischen Kultur. Unter den literarischen Bezugsquellen und Vorlagen, die Vala ihm in dieser Zeit übermittelte, befand sich u. a. die in den Jahren 1933 und 1934 von Tulenkantajat veröffentlichte Erzählung Pulamiehet puhelevat ja Pulamiehet lähtevät liikkeelle [Männer der Notstandszeit erzählen und brechen auf], ein von Pentti Haanpää in Prosa verfasster Text, dessen Veröffentlichung gegen die damalige öffentliche Ordnung verstieß und mit einer Geldstrafe geahndet wurde. Das Motiv jenes, auch historisch belegten „Gaulaufstandes“ von 1932 in Nivala findet sich in modifizierter Form in Brechts Gedicht Das Pferd des Ruuskanen wieder. Ein weiteres von Brecht aufgegriffenes literarisches Motiv stammt aus Arvo Turtiainens 1940 in Tulenkantajat erschienenem Gedicht 5, Sotakoira, [Kriegshund]. Brecht ließ sich das Gedicht des politisch links orientierten finnischen Lyrikers Turtiainen von Vala übersetzen und überarbeitete es 1941 zu dem gleichnamigen Gedicht mit dem Vermerk Der Kriegshund nach Arvo Turtiainen24. Auch die reimlose, in finnischen Literaturkreisen kontrovers diskutierte Lyrik von Valas Schwester, der Lyrikerin und Lehrerin Katri Vala, stieß auf Brechts Interesse. Vala, deren Beiträge in der Zeitschrift Tulenkantajat unter dem Pseudonymen „Pecka“ veröffentlicht wurden, zählte zu den Gründungsmitgliedern der Schriftstellervereinigung „Kiila“. Die Übersetzungen ihrer Gedichte, Pajupilli (1934) [Die Weidenpfeife] und Kesä Sörnäisissä (1934) [Sommer in Sörnäinen], findet man im Brechts Nachlass25 wieder.

Vom Arbeitsjournal mehrmals mit besonderer Sympathie erwähnt wird der Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer Elmer Diktonius, der „finnische Horaz“. Brecht beschreibt ihn als „kurzleibig und vierschrötig“, er sei „wie mit der Axt aus einer Eichenwurzel gehauen, sein eigenes wandelndes Monument. Er hat eine kleine Staatspension und lebt von Zeitungsartikeln. Stets bringt er etwas mit, wenn er kommt, eine Zigarre oder Süßigkeiten für Barbara.“26 Diktonius gehörte auch zu jenem engeren Kreis der Freunde, die am 12. Mai 1941 zu einem ← 7 | 8 →gemeinsamen Abschiedsessen mit Brecht und seiner Frau im Hotel Torni in Helsinki versammelt waren: „Hella, Diktonius, Vala dabei“27.

Auch die schwedischsprachige Literaturkritikerin Hagar Olsson, Verfasserin der 1925 veröffentlichten Essay-Sammlung Die Neue Generation, die einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des finnlandschwedischen Modernismus lieferte, genoss Brechts Anerkennung. Eher auf Zurückhaltung stieß hingegen Eric Olsoni, ein um das Wohlergehen Brechts stets emsig bemühter Literaturkritiker, über den Brecht schreibt: „ein Buchhändler hier bittet mich, vor dem Studententheater einen Vortrag über das Theater zu halten28 (…)“29.

1.3 Zusammenarbeit von Hella Wuolijoki und Bertolt Brecht

„Was für eine hinreißende Epikerin sie ist, auf ihrem Holzstuhl sitzend und Kaffee kochend! Alles kommt biblisch einfach und biblisch komplex.“30

Nur einen Sommer dauerte jene berauschende Episode auf dem Gutshof Marlebäck in Iitti unweit von Helsinki, aus der u. a. die Bühnenstücke Herr Puntila und sein Knecht Matti und Die Judith von Shimoda31 sowie das Gedicht Sõja laul. Das Estnische Kriegslied32 hervorgegangen sind. Den Beginn der etwa drei Wochen dauernden intensiven Schaffensphase markieren jene allabendlichen Gespräche über den Aufbau von Wuolijokis Werken, die gleichermaßen Brechts Aufmerksamkeit auf sich zogen als auch Gegenstand seiner Kritik waren: „Er erklärte mir die Form seines eigenen epischen Dramas, indem er alle meine Werke wegen ihres steifen klassischen Baus kritisierte. Das führte zu einer heftig erregten Diskussion, in der das klassische Drama von Aristoteles bis Molière und Lessing und auch Ibsen der Kritik unterzogen wurde, wobei ich mich leidenschaftlich ← 8 | 9 →gegen den Expressionismus ausließ (…)“33. Es habe einen kontrovers geführten Meinungsaustausch über mehrere Wochen gegeben, erinnert sich Hella Wuolijoki in ihrem Vorwort des Iso-Heikkilän isäntä ja hänen renkinsä Kalle, bis man sich auf eine gemeinsame Neubearbeitung ihrer um 1936 geschriebenen Komödie, „Saha[n]puruprinsessa“ [Die Sägemehlprinzessin], hätte einigen können, woraufhin Steffin und Brecht die schriftliche Überarbeitung des Stoffes übernahmen. Wuolijokis Reaktion auf die vorgenommenen Änderungen legt jedoch die Vermutung nahe, dass sie nicht hinreichend über den Umfang der Umarbeitung informiert war: „Hella Wuolijoki liest eben den „Puntila“ und scheint sehr erschrocken. Er ist nicht dramatisch, nicht lustig usw. alle Personen sprechen gleich, statt verschieden wie im Leben und in Hella Wuolijokis Stücken“34.

1.4 Zum Forschungsstand in Deutschland und in Finnland

Verglichen mit dem Publikumserfolg des Herr[n] Puntila und sein Knecht Matti – etwa 4.200 Aufführungen in 120 Theatern innerhalb eines Jahres sowie Übersetzungen in 18 Sprachen innerhalb von fünf Jahren – fällt die Menge der einschlägigen Forschungsliteratur überraschend gering aus. Im Gegensatz zu älteren Monografien, die sich vielfach mit der Frage auseinandersetzen, ob und inwiefern Brecht prinzipiell ein neues Werk durch die Umarbeitung eines bestehenden Werkes gelungen ist, wie z. B. in Ernst Schuhmachers 1955 erschienenen Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933, zeigt die neuere Brecht-Forschung bereits ein differenzierteres Bild: Anstelle der früher häufig zitierten Ansicht Schuhmachers, Brecht habe John Gays Text nur bearbeitet, statt ihn umzuarbeiten, zeichnet die jüngere Forschung in der Regel eine Gegenthese auf, nach der Brecht die Vorlagen als Anregungen zu Gegenentwürfen benutzt hat. Zu dieser Kategorie der neueren wissenschaftlichen Untersuchungen gehört auch die 1991 veröffentlichte vergleichende Studie von Vera Sonja Stegmann über Das epische Musiktheater bei Strawinsky und Brecht, in der die Autorin von der Auffassung ausgeht, die gegen Brecht erhobenen Plagiatsvorwürfe seien auf eine nicht verstandene Montagetechnik des Autors sowie die entstehungsgeschichtliche Untersuchung von Werner Hecht Brechts Dreigroschenoper (1985) und Dieter Wöhrles Monografie, Bertolt Brechts medienästhetische Versuche (1988), zurückzuführen.

← 9 | 10 →Neben den von Werner Hecht herausgegebenen Quellentexten, Gesammelte Werke, Schriften zum Theater, Bde. 4, 15, 16 und 17 in GW in 20 Bde. (1967), Arbeitsjournal 1938 bis 1942 (1973) sowie der von Margareta N. Deschner verfassten und im Brecht Jahrbuch 1978 unter dem Titel H. Wuolijokis Punttila-Geschichte als vor-Brechtsches Dokument erschienene Übersetzung der „Urgeschichte“, fußt die vorliegende Untersuchung auf den neueren Veröffentlichungen in der deutschsprachigen Forschungsliteratur. Zu diesen zählen vorwiegend die Monografien Siegfried Mews, Bertolt Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas (1975), Outi Valles Das Herr-Knecht-Verhältnis in Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ als theatrales und soziales Problem. Unter besonderer Berücksichtigung der Stückvorlage von Hella Wuolijoki (1977), Hans Peter Neureuters Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1987), die sowohl entstehungsgeschichtliche als auch inhaltsbezogene Analyse Jan Knopfs Brecht Handbuch Theater (1980) sowie Richard Semraus Die Komik des Puntila (1981). Hans Peter Neureuters 2007 veröffentlichte Überarbeitung seiner Habilitationsschrift Brecht in Finnland. Studien zu Leben und Werk 1940-1941 gewährt Einblicke in die „Inzwischenzeit“ des Autors im finnischen Exil und schließt die offenkundige Lücke in der Brecht-Forschung. Zu den älteren, häufig jedoch auch in jüngeren Veröffentlichungen zitierten Werken gehören u. a.: Literatur, Kritik und Polemik (1950) von Paul Rilla, Die Dramaturgie des späten Brechts (1959) von Werner Hinck, Brechts Weg zum epischen Theater: Beitrag zur Entwicklung des epischen Theaters 1918 – 1933 (1963) von Werner Hecht sowie Versuche über Brecht (1966) von Walter Benjamin.

Möglicherweise als Reaktion auf die 1983 in Finnland erschienene Dissertation Dan Steinbocks, Televisio ja psyyke. Televisio, illusionismi ja anti-illusionismi [Fernseher und Psyche. Fernseher, Illusionismus und Antiillusionismus] und seine These, der „finnische Brecht“ sei ein „etablierter Brecht“, häufen sich in deren Folge Untersuchungen, die sich mit Brechts Dramentheorie auseinandersetzen: Die Dissertationen Leo Levänens, Eläytyminen ja etäännyttäminen teatterikasvatuksessa (1998) [Das Sich-Hineinleben und Sich-Entfernen in der Theatererziehung], und Riitta Pohjolas Georg Büchner ja Dantonin kuolema (2004) [Georg Büchner und über Dantons Tod], die Publikationen Max Rands, Kirjoituksia teatterista (1991) [Schriften über das Theater] und Timo Kallinens Brecht goes Hiphop (1997). Dagegen befassen sich die finnischen Regisseure Eino Salmelainen und Ralf Långbacka in ihren Veröffentlichungen Parivaljakko (1963) [Zweigespann] und Muun muassa Brechtistä (1982) [Unter anderem von Brecht] in erster Linie mit der Umsetzung der Theaterauffassung Brechts, während das 625 Seiten umfassende Werk Kalevi Haikaras, Bertolt Brechtin aika, ← 10 | 11 →elämä ja tuotanto (1992) [Bertolt Brechts Zeit, Leben und Produktion] die einzige in Finnland erschienene Brecht-Biografie darstellt.

Die meisten in Finnland erschienenen und in dieser Arbeit häufig zitierten Studien stammen aus den Reihen der finnischen Wuolijoki-Forschung: Jukka Ammondts 1988 veröffentlichte Monografie, Hella Wuolijoki kulttuurivaikuttajana [Hella Wuolijoki als Kulturträgerin], in der der Verfasser u. a. auf die Entstehungsgeschichte des Herr[n] Puntila und sein Knecht Matti eingeht35. Ammondts unter dem Titel Niskavuoren talosta Juurakon torppaan (1980) [Vom Gut Niskavuori zum Kleinpachthof Juurakko] erschienene Dissertation ist wiederum dem Niskavuori-Zyklus der Autorin Wuolijoki gewidmet, unter besonderer Berücksichtigung der Frauenfiguren in ihren Werken. Exemplarisch für die Wuolijoki-Biografien seien an dieser Stelle die Monografien der Theaterwissenschaftlerin Pirkko Koski und des Schriftstellers Pekka Lounela genannt: Kaikessa mukana. Hella Wuolijoki (2000) [Überall dabei. Hella Wuolijoki]; Hella Wuolijoki. Legenda jo eläessään (1979) [Hella Wuolijoki. Legende schon im Leben]. Die Zusammenarbeit Hella Wuolijokis und Bertolt Brechts steht ebenfalls im Mittelpunkt der vom Finnischen Theater-Informationszentrum anlässlich des Brecht-Symposiums 1996 in Helsinki herausgegebenen Anthologie, Auf den Spuren Brechts in [sic] finnischen Exil (1997). Einen authentischen Einblick in das Leben und Wirken Hella Wuolijokis ermöglicht das 2007 erschienene Werk Erkki Tuomiojas, des langjährigen finnischen Außenministers und Enkels der Autorin, Häivähdys punaista [Ein Schimmer Rot] mit dem deutschen Titel Da ich aber eine sehr unverwüstliche Frau bin … [sic] Hella Wuolijoki – Stichworte für Brecht.

1.5 Rahmenbedingungen der entwicklungsgeschichtlichen Analyse

Gesellschaftspolitisch betrachtet entstammt die gemeinsame, von Hella Wuolijoki und Bertolt Brecht entwickelte Stückkonzeption des Herr[n] Puntila und sein Knecht Matti der reaktionären, von den zeitgeschichtlichen politischen, staatlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen in Europa stark beeinflussten Kulturperiode der 1940er Jahre in Finnland. Die dialektischen Inhalte der Stückkonzeption beziehen sich jedoch weitgehend auf die Zeit des finnischen Bürgerkrieges um 1918 – auf ein selbstständiges, aber innenpolitisch tief gespaltenes Land, das den Verlust von 32.000 Zivilisten und Soldaten durch Kampfhandlungen, politische Gewalttaten, Hunger und Seuchen zu beklagen hatte. Die ← 11 | 12 →Ursachen des Bürgerkrieges beruhen wiederum auf der nationalen Geschichte Finnlands als Übergangs- und Grenzland zwischen Ost und West.

Das erklärte Ziel der gemeinsamen Überarbeitung sollte die – wie sich später herausstellte – erfolglose Teilnahme an dem vom finnischen Kultusministerium mit hohen Preisgeldern geförderten und im Mai 1939 ausgeschriebenen Wettbewerb des Finnischen Dramatikerverbandes zur Neubelebung des finnischen Dramas sein. Auf Brecht, der die Erneuerung des Theaters und Dramas durch die Theorie des epischen Theaters bereits seit 1926 in seinen Aufsätzen forderte und es nach Marianne Kesting liebte, „eine ganze Welt von Denkgewohnheiten zweifelhaft zu machen“36 und festgefahrene Ansichten in Frage zu stellen, muss das volkstümliche unveröffentlichte Material der Epikerin, deren Schaffenskraft trotz „all ihrer Gescheitheit, Lebenserfahrung, Vitalität und dichterischen Begabung [seiner Auffassung nach] durch die konventionelle dramatische Technik“37 beeinträchtigt wurde, katalytisch gewirkt haben. Wie sich die nachfolgende Zusammenarbeit zwischen Brecht, Wuolijoki und vor allem dem „inneren Kreis“ Brechts mit Margarete Steffin, Ruth Berlau und Helene Weigel im Einzelnen gestaltete, ist nicht eindeutig belegbar. Dennoch kann man sowohl Brechts Tagebucheintragungen als auch Wuolijokis Vorwort in der finnischsprachigen, 1946 erschienenen Fassung Iso-Heikkilän isäntä ja hänen renkinsä Kalle entnehmen, dass Hella Wuolijoki weder unmittelbar an der Umarbeitung des Materials noch an den Beratungen beteiligt war, sodass sie keine detaillierten Einblicke in den Prozessverlauf gewinnen konnte. Insofern hat es vermutlich auch nie eine direkte inhaltliche Zusammenarbeit am Text zwischen Wuolijoki und Brecht gegeben, sodass das „Diktat“ mit hoher Wahrscheinlichkeit die letzte Version darstellt, an der Wuolijoki nachweislich vor ihrer Übersetzungsarbeit mitgewirkt hat.

Einen fahlen Beigeschmack und gleichzeitig einen Hinweis darauf, dass Wuolijoki offensichtlich von Anfang an ausschließlich die Rolle einer Materiallieferantin zugedacht war, liefert eine Äußerung Ruth Berlaus auf eine von Neureuter im Rahmen eines Interviews im August 1972 gestellte Frage zur Bedeutung der Diktat-Vorlage für Brecht: „Glauben Sie, daß er die Scheiße gelesen hat? Er las nicht, er gab seinen Mitarbeitern zu lesen. Wenn man ihm zwei Sätze erzählte, wußte er alles.“38 Die Bedeutung Wuolijokis und in diesem Zusammenhang insbesondere ihres zum Teil häufig kritisierten finnischsprachigen Derivats schätzt Kalevi Haikara, ein finnischer Redakteur, Schriftsteller und Brecht-Kenner, aus ← 12 | 13 →der Perspektive des finnischen Theaters wesentlich signifikanter ein, indem er die Vermutung äußert, Brechts theoretische Gedanken wären im Finnland der 1940er Jahre ohne Hella Wuolijokis eigene Version von der Wettbewerbsfassung (1946) möglicherweise verloren gegangen. Die Theorie des epischen Theaters ist nach Haikaras Auffassung auf diese Weise zur weiteren Verbreitung nach Finnland gelangt.39

1.5.1 Analyseverfahren

Das Ziel dieser Arbeit, die auf einer umfassenden zweisprachigen Materialbasis beruht, ist die Entwicklung eines Verfahrens, mit dessen Unterstützung die strukturellen und inhaltlichen Unterschiede zwischen den hier berücksichtigten 12 Fassungen der „Puntila“-Genesis ersichtlich gemacht werden können. Im Fokus der Untersuchung steht insbesondere die sog. „erste Niederschrift 1940“ von Bertolt Brecht, das Substrat aller späteren Fassungen, und dessen Relation zu den Brecht-Derivaten „Abschrift Steffin 1940“, „Puntila 1950/GBA 1989“ und „Puntila 1975“ sowie zu den Wuolijoki-Derivaten, „Vorlage Wuolijoki 1940“, „Wettbewerbsfassung ‚ursus‘ 1940“ und „Iso-Heikkilä 1946“. Einen nicht minder wichtigen Stellenwert erhalten bei der Gegenüberstellung auch die finnischsprachigen nicht-veröffentlichten Originale der „Sägemehlprinzessin Bühne 1936“ und „Sägemehlprinzessin Film 1937“ sowie ihre gesellschaftspolitischen Inhalte in Bezug zu der von Hella Wuolijoki und Margareta Steffin gemeinsam bearbeiteten Fassung „Diktat 1940“, auf dessen Grundlage wiederum die „erste Niederschrift 1940“ von Bertolt Brecht entstanden ist. Das generelle Anliegen der Untersuchung ist es, mehr Transparenz in die nahezu 50-jährige Genesis des Dramas zu schaffen, indem die erwähnten Fassungen in ihrem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext von der wahren Geschichte (1926) bis zur finnischsprachigen Übersetzung (1975) direkt miteinander verglichen werden.

Details

Seiten
XIII, 266
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653048483
ISBN (ePUB)
9783653981728
ISBN (MOBI)
9783653981711
ISBN (Hardcover)
9783631652329
DOI
10.3726/978-3-653-04848-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (September)
Schlagworte
Episches Theater Volksstück Prohibition Arbeiterbewegung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XIV, 266 S.

Biographische Angaben

Marja-Liisa Sparka (Autor:in)

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