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Geschlechterrollen und Frauenbilder

Untersuchungen zu Romanen frankophoner schwarzafrikanischer und deutschsprachiger Autoren und Autorinnen

von Sewa Okpar (Autor:in)
©2014 Dissertation 214 Seiten

Zusammenfassung

Der Wandel der Gender-Vorstellungen, der durch den politischen Feminismus der 1970er-Jahre angestoßen wurde, ist in der Literatur wie in den Literatur- und Kulturwissenschaften ein Thema von zunehmender Wichtigkeit. Dies gilt nicht nur für Europa, sondern auch für Afrika, dessen Länder von jenem Gender-Diskurs erreicht wurden. Gegenstand dieser Studie ist ein Vergleich literarischer Texte hinsichtlich der Darstellung von Geschlechterrollen und Frauenbildern. Der Verfasser bedient sich einer genderorientierten Untersuchung und behandelt Texte von vier Feministinnen, u.a. Calixthe Beyala und Elfriede Jelinek sowie von vier männlichen Autoren, von denen drei zur Genderfrage differenzierte Positionen bezogen haben: Heinrich Böll, Mongo Béti und Sadamba Tcha-Koura. Die Analyse zeigt, dass es hinsichtlich des Gender-Diskurses keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen, afrikanischen und europäischen Autoren gibt. Die festzustellenden Differenzen sind auf soziale Begebenheiten zurückzuführen, in denen analoge patriarchale Geschlechterbilder zu unterschiedlichen Folgen für die Individuen führen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Begriffsbestimmung
  • 1.2 Zur Methode
  • 1.3 Zur Auswahl des Untersuchungsmaterials
  • 1.4 Zu den Autoren und Texten
  • Teil 1: Werke der frankophonen afrikanischen Literatur
  • 2. Mongo Bétis Perpétue et l’habitude du malheur
  • 2.1 Einleitung
  • 2.2 Handlungsverlauf: Die Rekonstruktion von Perpétues Schicksal
  • 2.3 Die Grausamkeit einer Mutter
  • 2.4 Die Tyrannei des Ehemannes
  • 2.5 Perpétues Streben nach Selbstbestimmung
  • 2.6 Tradition und überlieferte Bräuche als Ursachen von Perpétues Schicksal
  • 3. Calixthe Beyalas C’est le soleil qui m’a brûlée
  • 3.1 Einleitung
  • 3.2 Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen
  • 3.3 Geschlechterverhältnisse
  • 3.4 Beyalas Vorstellung von Sexualität
  • 3.5 Traditionelle Werte
  • 3.6 Geschlechterfrage und der sozialpolitische Gesamtkontext
  • 3.7 Fazit
  • 4. Mariama Barrys La Petite Peule
  • 4.1 Einleitung
  • 4.2 Die kleine Fulbe, eine kleine Rebellin
  • 4.3 Mutter-Tochter-Beziehungen
  • 4.4 Traditionelle Bräuche und der Islam
  • 4.5 Fazit
  • 5. Sadamba Tcha-Kouras Femme infidèle
  • 5.1 Einleitung
  • 5.2 Konzeption von Männlichkeit und Weiblichkeit
  • 5.3 Geschlechterverhältnisse auf privat-familiärer Ebene
  • 5.4 Polygamie und weitere Frauen unterdrückende Bräuche
  • 5.5 Fazit
  • Teil 2: Werke der deutschsprachigen Literatur
  • 6. Heinrich Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum
  • 6.1 Einleitung
  • 6.2 Konstruktion der Figur Katharina Blum
  • 6.3 Ehrverletzung Katharinas und Auseinandersetzung mit Geschlechterrollenklischees
  • 6.4 Fazit
  • 7. Elfriede Jelineks Die Liebhaberinnen
  • 7.1 Einleitung
  • 7.2 Frauengestalten
  • 7.3 Männlichkeitsentwürfe
  • 7.4 Geschlechterbeziehungen zwischen Frau und Mann (und zwischen Frauen)
  • 7.5 Stilanalyse: die Darstellung weiblichen Denkens
  • 7.6 Fazit
  • 8. Marlene Streeruwitz’ Verführungen
  • 8.1 Einleitung
  • 8.2 Weiblichkeitsentwürfe: Konstruktion des „schwachen Geschlechts“
  • 8.3 Unterschiedliche Männerkonstruktionen
  • 8.4 Reproduktion/Dekonstruktion von Rollenklischees
  • 8.5 Fazit
  • 9. Helmut Kraussers Schmerznovelle
  • 9.1 Einleitung
  • 9.2 Männlichkeitsentwürfe: Der sadistische Mann
  • 9.3 Die weibliche Figur zwischen „femme fragile“ und „femme fatale“
  • 9.4 Fazit
  • 10. Zusammenfassung und Vergleich
  • Bibliographie

← 8 | 9 → 1. Einleitung

Gegenstand der Untersuchung der vorliegenden Arbeit ist die Darstellung der Geschlechterrollen bzw. Geschlechteridentität in der deutschsprachigen und frankophonen afrikanischen Gegenwartsliteratur. Dabei werden vergleichend Prosatexte untersucht, die seit den 1970er Jahren in den beiden kulturellen Bereichen entstanden sind. Die Beschränkung auf die Periode von 1970 bis zur Gegenwart erfolgt mit Blick auf die besondere politische Entwicklung Ende der 1960er Jahre: So gelang es Frauen in Europa bzw. in der Bundesrepublik im Zuge der politischen Protestbewegung dieser Zeit und der damit entstandenen Neuen Frauenbewegung, ihre Forderungen zur Gleichstellung der Geschlechter erneut zu Gehör zu bringen, die emanzipatorische Bewegung politisch zu orientieren und sie vor allem auch zu radikalisieren.1 Sowohl berufliche Diskriminierung, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, besonders in der Ehe, und Erziehung als auch Tabuthemen werden öffentlich diskutiert. Zu diesen Tabuthemen gehörten (Homo)Sexualität, Verhütung, Abtreibung, Inzest und (sexuelle) Gewalt gegen Frauen.2 Bei vielen ← 9 | 10 → Schriftstellerinnen wurden diese Themen zum literarischen Sujet.3 Zeitgleich fanden ähnliche Entwicklungen in Schwarzafrika statt. Dort war es für Frauen noch schwerer, öffentlich in Erscheinung zu treten und über ihre Diskriminierung und Unterdrückung in der Gesellschaft zu sprechen. Neben der hohen Analphabetenquote unter Frauen und bestehenden Tabus, die vor allem die (weibliche) Sexualität betreffen, sowie traditionellen Werten, die Schweigen und Unterwerfung erzwingen, sind hier vor allem die von arabischen Muslimen bzw. christlichen Missionaren eingeführten Unterdrückungsmechanismen zu nennen.4 Dazu zählen beispielsweise die geschlechtsspezifischen Erziehungsformen sowie Vorschriften und Normen beider Religionen (Schleierpflicht und Polygamie im Islam, Unauflöslichkeit der Ehe und Zeugung von Kindern als deren alleiniger Zweck in der katholischen Kirche), die vor allem aus feministischer Sicht als frauenfeindlich wahrgenommen wurden und werden.

Da die afrikanische Literatur bis in die 1970er Jahre von Männern dominiert wurde, berichteten bis dahin nur männliche Autoren über die afrikanische Frau. Eine afrikanische Frauenliteratur – im Sinne von von afrikanischen Frauen verfasster und veröffentlichter Texte, die die Situation der Frau in der Gesellschaft dokumentieren – entstand erst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre. So gehört Mariama Bâ zu den Pionierinnen der frankophonen schwarzafrikanischen Frauenliteratur.5 Nach der Veröffentlichung ihres Erstlingsromans Une si longue lettre ← 10 | 11 → 1979, mit dem sie 1980 die erste Preisträgerin des NOMA-Preises für afrikanische Literatur wurde, fanden immer mehr Frauen den Weg zur schriftstellerischen Produktion im frankophonen afrikanischen Raum.

In seinem Buch zur vergleichenden Literaturwissenschaft führt Ernst Grabovszki aus, dass das Prinzip des Vergleichs darin bestehe, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier oder mehrerer Objekte ans Licht zu bringen. Jedoch müsse eine Voraussetzung jedem Vergleich zugrunde liegen, damit er zu einem „befriedigenden Ergebnis“ führe: Die Vergleichsobjekte müssten nicht miteinander identisch sein, aber zumindest in ihren Grundeigenschaften etwas miteinander zu tun bzw. eine Gemeinsamkeit haben, also ein tertium comparationis aufweisen. In der vergleichenden Literaturwissenschaft, hebt er weiter hervor, liege aber in manchen Fällen die Vergleichbarkeit nicht immer auf der Hand, oft überwögen die Unterschiede.6

Ausgehend von Grabovszkis Überlegungen ist der komparatistische Ansatz meiner Arbeit wie folgt zu umreißen: Im Folgenden geht es nicht darum, die Genderfrage bzw. die Situation der Frauen im frankophonen Schwarzafrika mit jener von Frauen in Europa zu vergleichen. Vielmehr ist hier der Diskurs über Geschlechter bzw. der literarische Umgang mit den Geschlechterkonstruktionen Gegenstand der Untersuchung. Gemeinsam ist allen Texten, dass im Mittelpunkt der Handlung Frauengestalten stehen, deren Verhältnis zum gesellschaftlichen Umfeld und deren Auseinandersetzung mit patriarchalen gesellschaftlichen Normen geschildert wird. Die sozialen Verhältnisse werden meist als moralisch verwerflich dargestellt; dabei sind die Maßstäbe ähnlich, sowohl in den afrikanischen als auch in den deutschsprachigen Texten. Mit anderen Worten: Die Rhetorik des Erzählens bezieht den Leser in ein Geschehen ein und veranlasst ihn zur Parteinahme. Das auffälligste Unterscheidungsmerkmal besteht darin, dass der Genderdiskurs in den Texten der frankophonen afrikanischen Literatur stärker engagiert ist bzw. mit der expliziten Kritik an bestimmten sozialen – und politischen (vor allem bei Béti) – Verhältnissen einhergeht.

Es geht in dieser Arbeit um einen typologischen Vergleich, in dem die zu vergleichenden Objekte „zeitlich, räumlich und sprachlich beziehungslos“7 sein können, was diesen Vergleichstyp „flexibler“8 macht. Der typologische Vergleich ← 11 | 12 → kann also darüber hinwegsehen, dass die ausgewählten Texte große Unterschiede aufweisen – in der vorliegenden Arbeit nicht nur in Bezug auf den kulturellen Kontext der jeweiligen Autorengruppe (deutschsprachig/frankophon schwarzafrikanisch), sondern auch auf das ausgewählte Sujet und die Erzählhaltung,9 selbst innerhalb eines kulturellen Kontextes. Beim typologischen Vergleich geht es vordergründig um Analogien bzw. um eine thematische Konfrontation der zu analysierenden Texte.

Untersucht werden aus der frankophonen schwarzafrikanischen Literatur Mongo Bétis Perpétue ou l’habitude du malheur (1974), Calixthe Beyalas C’est le soleil qui m’a brûlée (1988), Mariama Barrys La Petite Peule (2000) und Sadamba Tcha-Kouras10 Femme infidèle (1987). Thematisch konfrontiert werden diese Texte mit Heinrich Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974), Elfriede Jelineks Die Liebhaberinnen (1975), Marlene Streeruitz´ Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre (1996) und Helmut Kraussers Schmerznovelle (2001). Der gemeinsame Hintergrund in den ausgewählten Texten ist die literarische Inszenierung von Geschlechterrollen bzw. Geschlechteridentität. Die Heterogenität der Texte resultiert aus der Tatsache, dass einige Autoren sich mit der Geschlechterfrage auseinandersetzen und dabei entweder zugunsten der Frauen Stellung beziehen oder nicht. Bei anderen Autoren wie Beyala, Jelinek und Krausser hingegen kommt dem Diskurs (an bestimmten Textstellen) eine rein provokative und Skandal auslösende Funktion zu. Bei Beyala beispielsweise wird die Heterosexualität geradezu in Frage gestellt, indem die Autorin hyperbolisch groteske Sexszenen zur Schau stellt, in denen der Geschlechtsverkehr als bloße Vergewaltigung stilisiert wird. Masturbation und weibliche gleichgeschlechtliche intime Kontakte werden dagegen verherrlicht. Der Diskurs erfüllt hier eine Tabu brechende Funktion, da Selbstbefriedigung und vor allem Homosexualität zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans noch Tabuthemen in Afrika waren. Der Tabubruch besteht außerdem in der Beschreibung des ← 12 | 13 → ausschweifenden Sexuallebens der weiblichen Figuren. Jelineks Text zeichnet sich durch eine Subversion gängiger Geschlechterdiskurse aus: Die herkömmliche Konstellation, in der die Frauen als Opfer und die Männer als Täter dargestellt werden, wird gewissermaßen auf den Kopf gestellt. In ihrem Roman werden Unterdrückungsverhältnisse entworfen, an denen sowohl Männer als auch Frauen beteiligt sind. Auch bei Krausser findet eine Verdrehung bekannter Muster statt: Beispielsweise ist der Arzt als vermeintlich moralische Instanz hier pervers, da er seine Patientin regelrecht sexuell ausbeutet.

1.1 Begriffsbestimmung

An dieser Stelle sollen einige Begriffe näher bestimmt werden, damit die thematische Orientierung der Untersuchung deutlich wird. Der folgende Abschnitt stützt sich u. a. auf Einträge in den von Renate Kroll11 und Ansgar Nünning12 herausgegebenen Lexika.

Zum Begriffspaar sex/gender

In den Gender Studies bzw. der Geschlechterforschung wird davon ausgegangen, dass die biologische Differenz zwischen Mann und Frau mit kulturellen Deutungsmustern aufgeladen ist. Demnach können Männlichkeit und Weiblichkeit nicht aus biologischen Konstanten abgeleitet werden, sondern basieren auf historisch zeitgebundenen, soziokulturellen Konstruktionen von sexueller Identität. So ergibt sich eine Unterscheidung zwischen sex (dem biologischen Geschlecht) und gender (dem soziokulturell bedingten und erworbenen Geschlecht). Im Folgenden soll auf die beiden Begriffe näher eingegangen werden.

Die beiden englischen Begriffe sex und gender entsprechen dem deutschen Begriff Geschlecht. Dabei bezeichnet sex das biologische Geschlecht, das mit der Geburt festgelegt ist. Die primären Geschlechtsmerkmale wie Penis oder Vagina sowie die Gebärfähigkeit erlauben es, Frau und Mann zu unterscheiden. Der Begriff gender hingegen bezeichnet soziokulturelle Funktionen von ← 13 | 14 → Männlichkeit und Weiblichkeit und hängt folglich von der Bewertung von Mann und Frau in einer bestimmten Gesellschaft ab. Gender ist also das soziale Geschlecht, eine kulturelle Interpretation und Funktionalisierung der anatomischen Geschlechtsmerkmale eines Individuums. Der biologische Unterschied zwischen den Geschlechtern wird, je nach Kulturkreis und Epoche, anders interpretiert. Aus diesem Grund gilt die Kategorie gender als gesellschaftlich-kulturell und historisch variabel.13 Hierbei gelten Frauen zumeist als diejenigen, die durch ihre Geschlechtlichkeit geprägt und determiniert sind. Dies bringt Simone de Beauvoirs bekannter Ausspruch über Weiblichkeit zum Ausdruck: „On ne naît pas femme, on le devient.“14 Weiblichkeit sei demnach kein biologisches Faktum, sondern eine soziokulturelle Konstruktion.

Im Zuge der vorliegenden Analyse wird herausgearbeitet, wie kulturelle Entwürfe von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Texten problematisiert bzw. revidiert werden. Zudem wird die hierarchische Geschlechterordnung aufgrund von Konstruktionen der Kategorie „Geschlecht“ (gender), die in den behandelten Werken zum Ausdruck kommt, untersucht.

Geschlechterrollen

Der Begriff Geschlechterrollen erfasst „in Anlehnung an die soziologische Rollentheorie ein gesellschaftlich erwartetes Verhalten […], durch das eine weibliche ← 14 | 15 → oder eine männliche Position zu erkennen gegeben wird.“15 Es ergibt sich ein gesellschaftlich normiertes Verhaltensmuster, das im Prozess der Sozialisation erlernt und verinnerlicht wird und zur Ausbildung einer Geschlechtsidentität führt. Die Kategorie der Geschlechterrolle gilt – analog zum Begriff gender – als eine soziokulturelle Konstruktion.

Geschlechterrollen werden aus feministischer Sicht seit den 1960er Jahren als Rollenzwang betrachtet, der durch das Machtverhältnis im Patriarchat vorgeschrieben ist und der systematischen Unterwerfung, Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen dient. Eine Trennung bzw. eine Diskriminierung aufgrund von Geschlechterrollen manifestiert sich insbesondere in verfestigten Weiblichkeitsbildern, die im soziokulturellen System immer wieder reproduziert werden.

Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt, wie die Autorinnen und Autoren die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die als „männlich“ bzw. „weiblich“ definierten Verhaltensweisen sowie die geschlechterbezogenen Sozialisationsmuster differenziert darstellen.

Frauenbild

Frauenbild bezeichnet hier Stereotype von Weiblichkeit bzw. starre Weiblichkeitsvorstellungen, die die hierarchischen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern perpetuieren. Es geht grundsätzlich um die vereinfachte Vorstellung von Eigenschaften der Frau bzw. die „natürliche Bestimmung“ der Frau, wie z. B. sie sei geschaffen, um dem Mann zu gefallen, um Kinder zu gebären etc. Die Frau wird zumeist als Gegenbild des Mannes angesehen und dabei mit bestimmten, stereotypen Eigenschaften16 wie schwach, emotional, liebevoll, abergläubisch, unterwürfig, abhängig, passiv und treu ausgestattet. Lange Zeit wurden ihr auch jegliche Rationalität und intellektuelle Fähigkeiten17 sowie weitergehend das Recht ← 15 | 16 → auf eine öffentliche Rolle verwehrt. Der Mann hingegen wird mit Eigenschaften wie Entschlossenheit, Rationalität, Selbstbewusstsein, Ehrgeiz, Aktivität, Aggressivität und Durchsetzungskraft versehen. Diese verfestigten Vorstellungen von Mann und Frau hängen mit Geschlechterrollen zusammen bzw. sie bestimmen die Rollenzuweisungen. Bei der Analyse wird herausgearbeitet, wie Geschlechtsstereotype der jeweiligen Gesellschaften in den Texten ihren Ausdruck finden und wie die Autoren ästhetisch mit Geschlechterstereotypen operieren.

In die folgenden Untersuchungen werden in gleichem Umfang weibliche und männliche Autoren einbezogen. Eine These dieser Arbeit ist, dass ein engagiertes geschlechterbewusstes Schreiben nichts mit dem Geschlecht des Schriftstellers zu tun hat, denn die Genderfragen werden nicht ausschließlich von Frauen aufgeworfen. Auch männliche Autoren setzen sich mit dem Thema auseinander, indem sie Unterdrückungsmechanismen der patriarchalischen Gesellschaftsordnung aufdecken und althergebrachte Denkweisen und Verhaltensmuster entlarven. In den ausgewählten Texten von männlichen Autoren, vor allem jenen der afrikanischen Literatur, ist eine kritische Darstellung der Geschlechterordnung, also eine Gesellschaftskritik, bei der Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen und -rollen zu konstatieren.

Abweichend von der Debatte um die „Hybridität“ oder die Bewegungen zwischen den Kulturen18 in den Postcolonial Studies19 wird die These aufgestellt, dass der Blick auf Geschlechterverhältnisse ein und demselben internationalen intellektuellen Diskurs entstammt. Sowohl afrikanische als auch europäische Intellektuelle nehmen trotz aller kulturellen Unterschiede am Genderdiskurs literarisch ← 16 | 17 → teil. Die festzustellenden Unterschiede ergeben sich aus den spezifischen sozialen Verhältnissen, auf die die Autorinnen und Autoren ihren Blick richten, sowie der je individuellen Akzentuierung, mit der sie sich im Diskurs positionieren.

1.2 Zur Methode

Ausgangspunkt des Diskurses sind die Geschlechterrolle und die gesellschaftliche Moral, die in den behandelten Texten nicht gebilligt werden. Dabei werden soziale Verhältnisse sowie Geschlechterhierarchien kritisch reflektiert. Im Vordergrund stehen Themen, die vor allem Frauen, aber auch Männer betreffen: Die Auseinandersetzung mit Normen und der traditionellen Rollenverteilung bzw. mit den geschlechtsspezifischen Funktionszuschreibungen, das Erkennen von Traditionen als Frauen unterdrückende Mechanismen, unterschiedliche Formen von Gewalt gegen Frauen, (weibliche) Sexualität, die Verobjektivierung des weiblichen Körpers (in der Sexualität), die Degradierung der Frau auf die Mutter- und Hausfrauenrolle, weibliche Bildungs- und Arbeitschancen und die Diskriminierung der Frau am Arbeitsplatz aufgrund von Stereotypen. Das männliche Geschlecht erscheint zwar vorwiegend als Nutznießer der tradierten gesellschaftlichen Normen und Strukturen, es wird aber auch demonstriert, dass Frauenfiguren in den Texten selbst zu deren Aufrechterhaltung beitragen. Zugleich werden in den meisten untersuchten Texten bestimmte Rituale, Praktiken, Sitten oder Werte in ihrer Absurdität und Unsinnigkeit entlarvt, da weder der Mann noch die Frau von ihnen profitieren.

Die Arbeit bedient sich einer gender-orientierten Analyse, das heißt, sie bezieht sich auf frauen- bzw. geschlechtsspezifische Themen und Arbeitsbereiche, ohne feministische Ziele zu verfolgen, entsprechend der Abgrenzung der Geschlechterforschung von der feministischen Literaturwissenschaft durch Jutta Osinski.20 Den Gegenstand der Analyse in den Gender Studies bilden die in literarischen Texten entworfenen Konzeptionen von Weiblichkeit, aber auch die Entwürfe, Bilder und Bestimmungen von Männlichkeit. Die Geschlechterverhältnisse, das heißt die „Beziehungen der Geschlechter untereinander nach Maßgaben soziokultureller Vorgaben und unter den Bedingungen epochenspezifischer ← 17 | 18 → Geschlechterdiskurse“21, werden auch in der vorliegenden Untersuchung in den Blick genommen. Weiblichkeit und Männlichkeit gehören zu den zentralen Begriffen der Gender Studies, die hier definiert werden als „historisch wandelbare gesellschaftliche und kulturelle“ Kategorien.22 Es wird demnach, wie schon in der Begriffsbestimmung hervorgehoben, zwischen sex als biologischem Geschlecht und gender als kulturell-gesellschaftlichem Konstrukt unterschieden. Gender als Konstrukt regelt, laut Joan Wallach Scott, die sozialen Beziehungen von Männern und Frauen durch kulturelle Symbole, durch Normen und Werte, durch Institutionen und durch das individuelle Identitätsgefühl.23 In der Textanalyse wird aufgezeigt, wie mit diesen Regelungen umgegangen wird.

Analog zu der Kategorie gender ist das Schreiben über die Geschlechterfrage historisch wandelbar. In diesem Sinne geht es in den ausgewählten Texten nicht nur um eine kulturelle, sondern auch um eine zeitbezogene Darstellung der Geschlechterordnung und gesellschaftlichen Moral. Durch die Untersuchung der in den literarischen Texten thematisierten Geschlechterdifferenzen sind insofern zeitbedingte Einstellungen und Aussagen über die soziale und kulturelle Ordnung der afrikanischen und europäischen Gesellschaften zu erkennen, als Verhalten und Einstellungen literarischer Figuren Aufschluss über gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen, Normen und Prägungen geben.24

Details

Seiten
214
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653044362
ISBN (ePUB)
9783653984040
ISBN (MOBI)
9783653984033
ISBN (Hardcover)
9783631652954
DOI
10.3726/978-3-653-04436-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juni)
Schlagworte
Weiblichkeitsentwürfe Genitalverstümmelung Diskursanalyse Geschlechterstudien
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 214 S.

Biographische Angaben

Sewa Okpar (Autor:in)

Sewa Okpar, Studium der Germanistik mit Schwerpunkt Deutsche Literatur in Lomé (Togo) und Berlin; Gymnasiallehrer; DAAD-Stipendiat und Promotion 2013 an der Universität Mainz.

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