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Formen des Nicht-Verstehens

von Oliver Niebuhr (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband XVI, 224 Seiten

Zusammenfassung

Für viele Sprachwissenschaftler ebenso wie für Sprachbenutzer ist Nicht-Verstehen eine unabsichtlich entstehende Randerscheinung in der Kommunikation, die es zu vermeiden gilt. Die Beiträge in diesem Band rücken das negative Image des Nicht-Verstehens ein wenig zurecht. Sie analysieren und kategorisieren die Formen des Nicht-Verstehens aus unterschiedlichen ingenieurs- wie geisteswissenschaftlichen Blickwinkeln heraus für verschiedene Sprachen und Medien. Nicht-Verstehen ist – mal mehr, mal weniger ausgeprägt – in geschriebener wie gesprochener Sprache allgegenwärtig und wird von Sprachbenutzern auch gezielt instrumentalisiert. Zudem werden einige Formen des Nicht-Verstehens überschätzt – oder durch die Forschung selbst erst geschaffen, die das (Nicht-)Verstehen noch nicht verstanden hat.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Dirk Westerkamp: Formen und Kategorien des Nichtverstehens
  • 1. Die symbolische Als-Struktur des Verstehens
  • 2. Sich auf etwas nicht verstehen
  • 3. Produktivität und Ubiquität des Nichtverstehens: Anoêsis und Dianoêsis
  • 4. Anoetik: Phänomenologische Analytik der Sprechakte und Kategorientafel
  • 5. Erste Kategorie: Verständnishorizonte
  • 6. Zweite Kategorie: Nichtverstehensqualitäten
  • 7. Dritte Kategorie: Nichtverstehensdispositionen
  • 8. Vierte Kategorie: Nichtverstehensmodi
  • Literatur
  • Manja Kürschner: Vom Verstehenwollen und dem Wertschätzen des Nichtverstehens – Unzuverlässiges Erzählen als Naturalisierungsstrategie beim Lesen postmodernistischer Romane
  • 1. Das Andere verstehen: Ein Spannungsverhältnis mit Potential
  • 2. Die Suche nach dem Sinn
  • 3. Nichtverstehen beim Lesen
  • 4. David Lodges Therapy
  • 5. Vom Ende einer Geschichte
  • Literatur
  • Thorsten Burkard: Mythen und freie Erfindungen in der lateinischen Grammatik – das Nicht-Verstehen einer toten Sprache und seine Konsequenzen
  • 1. Einleitung
  • 2. Beispiele für Mythen und Konstrukte
  • 2.1. Das Übersetzen einzelner Wörter
  • 2.1.1. Die Übersetzung von ille
  • 2.1.2. Die „wörtliche“ Übersetzung von hyle
  • 2.2. Stilistische Kategorien
  • 2.2.1. Vulgarismen
  • 2.2.2. Archaismen
  • 2.3. Konkurrenzkonstruktionen
  • 2.3.1. Genitivus und Ablativus qualitatis
  • 2.3.2. Konkurrenzkonstruktionen bei Verben
  • 2.4. Die Wortstellung
  • 2.5. Die Erfindung des Versakzents
  • 3. Fazit und Ausblick
  • Literatur
  • Martin Durrell: How awful is the German language? Was Mark Twain right?
  • References
  • Konstantin Tacke / Stephanie Thieme: Verständliche Gesetze? – Aus der Praxis der Sprachberatung im Gesetzgebungsverfahren
  • 1. Schwerverständlichkeit von Gesetzen – eine kurze Einführung
  • 2. Merkmale der Sprache in Gesetzen
  • 2.1 Vermischung von verschiedenen Fachsprachen
  • 2.2 Abstrakt-generelle Regelungen
  • 2.3 Fachperspektive
  • 3. Sprachberatung im Gesetzgebungsverfahren
  • 4. Grundsätze der Sprachprüfung
  • 4.1 Wer ist Adressat?
  • 4.2 Sprachliche Richtigkeit und Verständlichkeit – Was wird geprüft?
  • 4.3 Kommunikation
  • 5. Grenzen der Sprachberatung
  • 6. Fazit
  • Literatur
  • Lieselotte Anderwald: You Just Don't Understand – Nichtverstehen zwischen Männern und Frauen
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Fragestellung
  • 1.2 Populäre und wissenschaftliche Ansätze
  • 2. Unterschiede zwischen Männern und Frauen
  • 2.1 Männer unter Männern
  • 2.2 Frauen unter Frauen
  • 2.3 Gründe für Unterschiede im Verhalten
  • 2.4 Kritik
  • 3. Sind Männer und Frauen wirklich so unterschiedlich? Eine Metastudie
  • 4. Warum die anhaltende Popularität?
  • Literatur
  • Oliver Niebuhr / Tina John: (K)eine Spur von Missverständnissen – Suprasegmentalia und die Disambiguierung reduzierter Wörter im Standarddeutschen
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Hintergrund
  • 1.1.1 Palatalität
  • 1.1.2 Glottalisierung und Nasalierung
  • 1.1.3 Dauer
  • 1.1.4 Signalexterne „top-down“ Effekte
  • 1.2 Untersuchungsrahmen
  • 1.2.1 Ziele
  • 1.2.2 Gegenstand
  • 1.2.3 Hypothesen
  • 2. Methode
  • 2.1 Stimulus- und Hörtesterstellung
  • 2.2 Durchführung des Experiments
  • 3. Ergebnisse
  • 4. Zusammenfassung und Diskussion
  • 5. Fazit und Ausblick
  • Literatur
  • Evelin Graupe / Karin Görs / Oliver Niebuhr: Phonologische Prozesse im Deutschen – Behinderung oder Bereicherung der lautsprachlichen Kommunikation?
  • 1. Einleitung
  • 2. Reduktion und die Behinderung der Kommunikation
  • 2.1 Phonetisches Detail in der Dekodierung reduzierter Äußerungen
  • 2.2 Die relative Dauer in der Dekodierung reduzierter Äußerungen
  • 2.3 Zwischenfazit
  • 3. Reduktion und die Bereicherung der Kommunikation
  • 3.1 Markierung von Informationsstruktur
  • 3.2 Markierung von Sprechereinstellungen
  • 3.3 Markierung des Beendens und Weiterführens von Redebeiträgen
  • 3.4 Weitere Indizien für die Funktionalität der Reduktion
  • 4. Fazit
  • Literatur
  • Tina John / Rabea Landgraf / Christian Lüke / Sebastian Rohde / Gerhard Schmidt / Anne Theiß / Jochen Withopf: Über die Verbesserung der Sprachkommunikation in geräuschbehafteten Umgebungen
  • 1. Einleitung
  • 2. Akustische Eigenschaften von geräuschbehafteten Umgebungen
  • 3. Sprachkommunikation im Fahrzeug
  • 4. Nachbildung von geräuschbehafteten Umgebungen
  • 5. Systeme zur Verbesserung der Sprachkommunikation
  • 6. Evaluation von Systemen zur Sprachverbesserung
  • 7. Zusammenfassung und Ausblick
  • Literatur
  • Kerstin Fischer: Wenn Verstehenssignale Nichtverstehen anzeigen: Probleme expliziter Verständigungssicherung
  • 1. Einleitung
  • 2. Empirische Studie
  • 2.1. Versuchspersonen
  • 2.2. Roboterverhalten
  • 2.3. Abhängige Variablen
  • 2.4. Ergebnisse
  • 3. Explizites Feedback als „offizielle“ Information
  • 4. Schlussfolgerungen: Die Funktion von explizitem Feedback
  • 5. Konsequenzen für das Design von Dialogsystemen
  • Literatur
  • Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes

Vorwort

Die linguistische Forschung zielt im Allgemeinen darauf ab, die Voraussetzungen für das Funktionieren sprachlicher Kommunikation zu erklären. Esgeht darum, das Verstehen zu verstehen. Wenn wir Äußerungen eines Sprechers aufnehmen und hinsichtlich ihrer artikulatorischen oder akustischen Eigenschaften analysieren, gehen wir normalerweise davon aus, dass der Sprachcode dieserÄußerungen „heil“ ist und die Intentionen des Sprechers korrekt widerspiegelt. Wenn wir Wahrnehmungsexperimente durchführen, nehmen wir an, dass unsere Hörer ihre sprachlichen Stimuli alle gleichermaßen richtig und in der gleichen Weise dekodieren. Und wer sich mit grammatischen Strukturen in der gesprochenen Sprache beschäftigt, der versucht hinter der scheinbaren Irregularität und Ungeordnetheit der Alltagsrede die Prinzipien und Regeln zu entdecken, die das Verstehen sichern.

Neben der Tatsache, dass unser praktisch vorbehaltloses Vertrauen in die sprachliche Kommunikation in hohem Maße gerechtfertigt ist, wird es doch auch aus einer gewissen Ehrfurcht vor dem Phänomen Sprache zusätzlich befeuert. Wir staunen nicht selten über die Vielfalt an Lauten, Wörtern, Sprechereinstellungen und emphatischen Ausdrücken sowie über den Reichtum an Steuersignalen für den Gesprächsablauf, die areale und soziale Sprecheridentität und die Informationsstruktur, die je nach Sprache auf sehr unterschiedliche Weisen grammatisch und phonetisch kodiert durch den Kommunikationskanal zwischen Sprecher und Hörer geschleust werden; und wir bewundern die redundanzbasierte Robustheit und Effizienz, mit der dieses Hindurchschleusen trotz der Komplexität der beteiligten Zeichensysteme geschieht. Dabei ist es nicht übertrieben zu sagen, dass wir uns in der gesprochenen Sprache bis zur echten multi-modalen Kommunikation, also der Verbindung von Sprachsignal, Mimik und Gestik, noch gar nicht richtig vorgewagt haben. In dieser ehrfurchtsvollen Perspektive mag man – außer natürlich unter pathologischen Gesichtspunkten – etwas so Defektivem oder Defizitärem wie Nicht-Verstehen keinen Raum geben.

Doch es wird niemand leugnen wollen, dass es in der sprachlichen Kommunikation nicht nur Verstehen, sondern auch Nicht-Verstehen gibt, und der entscheidende Punkt ist, dass wir mit großer Sicherheit auch aus der Analyse dieses Nicht-Verstehens viel über unsere Interaktionspartner, das Kommunikationsmedium und den Sprachcode selbst lernen können. Dies war der Anlass für das Forschungszentrum „Arealität und Sozialität in der Sprache“ der Universität Kiel, im Sommersemester 2012 eine Ringvorlesung mit dem Thema „??? – Formen des Nicht-Verstehens“ zu organisieren. Die Ringvorlesung umfasste über ein Dutzend Vorträge (http://www.isfas.uni-kiel.de/de/linguistik/forschung/ ← ix | x → ringvorlesung-formen-des-nicht-verstehens), von denen die meisten in dem vorliegenden Sammelband enthalten sind.

Die Vorstellung von Nicht-Verstehen, mit der ich, und sicherlich auch viele der ReferentInnen und ZuhörerInnen in diese Ringvorlesung hineingegangen sind, wird durch die Titelabbildung dieses Sammelbandes symbolisiert: Ein Sprecher produziert eine Äußerung und kann dabei gleichsam zusehen, wie sich über den Köpfen seiner Gesprächspartner die Fragezeichen auftürmen. Damit sind die vermeintlichen Merkmale des sprachlichen Nicht-Verstehens vorgezeichnet. Sprachliches Nicht-Verstehen ist (1) das Gegenteil von Verstehen, (2) eine Randerscheinung in der Sprache, (3) grundsätzlich negativ, (4) nicht intendiert, und (5) vor allem eine Erscheinung der gesprochenen Sprache. Doch wer wie ich glaubte, dass sich das Nicht-Verstehen in diesen Attributen erschöpft, der hatte das Nicht-Verstehen eindeutig noch nicht verstanden.

Wer hätte etwa mit Blick auf (1) und (2) gedacht, dass Verstehen und Nicht-Verstehen weniger Gegenteile als vielmehr Gegenpole sind, zwischen denen sich ein Kontinuum erstreckt. Mehr noch, dem Leser dieses Sammelbandes wird in den ersten beiden Beiträgen von WESTERKAMP und KÜRSCHNER vor Augen geführt, dass keiner dieser Pole jemals erreicht werden kann. So verfügt der Empfänger einer geschriebenen oder gesprochenen Äußerung nie über den vollständigen und identischen Kontext, in dem die Äußerung entstanden ist. Schon aufgrund dieser Tatsache – und auch wegen des begrenzten Inventars sprachlicher Zeichen – kann es kein vollständiges Verstehen geben. Es bleibt immer eine „Kluft zwischen Meinen und Sagen“. Andererseits ist aber auch vollständiges Nicht-Verstehen unmöglich. Wenn also nachfolgend von Nicht-Verstehen die Rede ist, sind immer Grade desselben gemeint. Wer einen sprachlichen Stimulus empfängt, sei es mit den Augen oder mit den Ohren, und dabei „nur Bahnhof“ versteht, der hat ja zumindest das verstanden und wäre wohl auch in der Lage, die klangliche oder graphische Form des Stimulus in gewissem Maße zu imitieren. Und wer etwas mehr als „nur Bahnhof“ versteht, der befindet sich schon auf dem Kontinuum zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen, bei Phänomenen wie dem Missverstehen oder dem Anders-Verstehen. Dabei ist, ganz im Gegensatz zu These 3, das Nicht-Verstehen nicht grundsätzlich negativ zu bewerten, sondern kann, wenn man sich dessen bewusst wird, selbst zur Quelle eines vertieften Verstehens und neuer Ideen werden.

Nicht-Verstehen kann auch geradezu beabsichtigt sein. KÜRSCHNER weist in ihrem Beitrag auf die Notwendigkeit und den Unterhaltungswert von Formen des Nicht-Verstehens am Beispiel unzuverlässigen Erzählens in postmodernistischen Romanen hin. Leser werden bewusst in die Irre geführt oder im Unklaren gelassen. Nicht-Verstehen kann also sehr wohl auch intendiert, ja sogar konventionalisiert sein und ist in dieser Form keinesfalls auf die gesprochene Sprache beschränkt. Damit widerlegt KÜRSCHNER zugleich die Vorurteile (4) und (5) der Nicht-Verstehen-Merkmale. ← x | xi →

KÜRSCHNERS Punkte finden sich auch im Aufsatz von WESTERKAMP wieder. Auf Basis eines Plädoyers für einen negativ-hermeneutischen Ansatz entwickelt WESTERKAMP eine neue, umfassende Typologie des Nicht-Verstehens und liefert damit ein wichtiges Bezugssystem für disziplinenübergreifende Erkenntnisse in diesem kaum erforschten Bereich der Sprache.

Die Aufsätze von BURKARD und DURRELL demonstrieren am Beispiel des Lateinischen bzw. einer Kontrastierung des Deutschen mit dem Englischen, wie Nicht-Verstehen zur Quelle neuen Sinns oder Unsinns werden kann und welche fatalen oder skurrilen Folgen damit einher gehen können. BURKARD setzt sich kritisch mit den Erkenntnissen und Traditionen in seinem eigenen Fach, der Latinistik, auseinander und weist auf Mythen und freie Erfindungen hin, die sich aufgrund der „Unerträglichkeit des Nicht-Verstehens“ im Laufe der Zeit in der lateinischen Grammatik etabliert haben. Dies betrifft die gesamte Spanne der sprachlichen Strukturen von der Phonologie über die Syntax bis zum Lexikon. Dabei handelt es sich nach der Typologie von WESTERKAMP nur teilweise um Formen des Nichtverstehenkönnens, bedingt durch den offensichtlichen Mangel an Daten, Textsorten und Muttersprachlern. Denn einige dieser Mythen und Erfindungen halten sich trotz empirischer Gegenevidenzen und sind somit eher Ausdruck eines Nichtverstehenwollens.

Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Formen des Nicht-Verstehens, dem Nichtverstehenkönnen und dem Nichtverstehenwollen, ist auch der Beitrag von DURRELL angesiedelt. Er geht von der Warnung Mark Twains vor „the awful German language“ aus und zeigt, dass dieser zweifelhafte Ruf des Deutschen als besonders schwierige Sprache, der von Muttersprachlern durchaus mit gewissem Stolz gepflegt und von Sprechern anderer Sprachen wie dem Englischen gern als Argument gegen Deutsch als Fremdsprache ins Feld geführt wird, ungerechtfertigt ist. Zum einen basiert dieser Ruf auf Nicht-Verstehen in der deutschen Grammatik, die das Erlernen des Deutschen unnötig verkompliziert. Das heißt, die deutsche Grammatik ist bei näherem Hinsehen und mit Bezug auf den tatsächlichen Sprachgebrauch in vielen Punkten einfacher und regelmäßiger als Linguisten und Fremdsprachenlehrer es traditionell darstellen. Zum anderen ist jede Sprache, einschließlich die englische, auf ihre Weise „awful“, in dem sie für den Lerner grammatische Tücken bereithält und so Nicht-, Miss- und Anders-Verstehen generiert, insbesondere zwischen Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern. Gegenüber den deutschen Tücken liegen die englischen Tücken lediglich in anderen Bereichen der Sprache, die weniger explizit erlebbar und vermittelbar sind und so vom Sprachlerner zumindest anfänglich nicht als Hürden erkannt oder generell unterschätzt werden. Als Beispiel nennt DURRELL den Gebrauch der Artikel im Englischen.

Auf einen weiteren Aspekt des Nicht-Verstehens macht der Artikel von TACKE/THIEME anhand vieler Beispiele aus der Praxis der Sprachberatung in Gesetzgebungsverfahren aufmerksam. Die Autoren stellen mit Blick auf die ← xi | xii → juristische Fachsprache fest, dass es neben den Formen des Nichtverstehenkönnens und Nichtverstehenwollens auch noch ein gegenüber den Rezipienten durchaus intendiertes Nichtverstehensollen gibt. So richten sich etwa viele Gesetzestexte an bestimmte Adressatenkreise und sind daher aus Effizienzgründen in einer Wortwahl verfasst, die sich in der Regel nur diesen jeweilgen Kreisen auf Anhieb erschließt. Zudem ergänzen TACKE/THIEME auf dem Kontinuum vom Nicht-Verstehen zum Verstehen die Landmarken des schweren und leichten Verstehens, über die das Kontinuum neben der inhaltlichen obendrein eine kognitive Dimension erhält.

Die verbleibenden fünf Beiträge setzen sich schließlich alle auf verschiedene Weisen mit Nicht-Verstehen oder Missverstehen im alltäglichen Sprachgebrauch auseinander. ANDERWALD nimmt die vermeintlichen Unterschiede im Konversationsverhalten zwischen Frauen und Männern genauer unter die Lupe, die insbesondere von der populärwissenschaftlichen Ratgeberliteratur immer wieder mit großem (ökonomischen) Erfolg postuliert werden. Diese Thesen stehen im Kontrast zu den Ergebnissen einer Reihe linguistischer Untersuchungen zum geschlechtsspezifischen Sprachgebrauch im Englischen. Anders als die populistischen Thesen basieren diese Untersuchungen auf aufgezeichneten, realen Gesprächsausschnitten, in denen Männer mit Männern, Frauen mit Frauen und schließlich Frauen mit Männern reden. Die Forschungsbefunde legen nach ANDERWALD nahe, dass das Postulat geschlechtsspezifischer Eigenheiten und daraus resultierender Missverständnisse im Gespräch zwischen Frauen und Männern selbst ein Missverständnis ist, und zwar ein intendiertes. Zwar gibt es in der Tat Unterschiede im Gesprächsverhalten zwischen den Geschlechtern, allerdings müssen diese „nicht zwangsläufig dazu führen, dass Männer und Frauen sich nicht verstehen können“. Vielmehr werden diese geringen Unterschiede zum einen überbetont und zu ökonomischen Zwecken (auf Kosten der Gesellschaft) instrumentalisiert; zum anderen lassen sie sich bequem als Vorwand für ein Nichtverstehenwollen heranziehen, etwa um einem Konflikt oder einer Aufforderung des Ehepartners aus dem Weg zu gehen.

Ganz unabhängig von den – echten oder vermeintlichen – Verständnisschwierigkeiten im Umgang mit historischen Sprachen (Latein), im rezenten Sprachkontakt (Englisch/Deutsch) und in der Interaktion zwischen Frauen und Männern birgt jede Form alltäglichen Sprechens ein erhebliches Risiko des Nicht-Verstehens oder seiner mannigfaltigen Ausprägungen wie dem Miss- und Anders-Verstehen. Denn in der Regel sprechen wir nicht so, wie es die Regeln der Standardlautung suggerieren, sondern sehr viel reduzierter. Beispielsweise können die Phrasen nun wollen wir mal oder können wir mit bei informeller Sprechweise rasch wie Norma oder Kermit klingen, und von Modalpartikeln wie eigentlich bleibt oft nur das ei übrig, das zudem in Äußerungen wie Das ist ein ganz guter Wein fast gänzlich verschwinden kann, indem es mit dem initialen Diphthong des unbestimmten Artikels ein verschmilzt. ← xii | xiii →

Mit der Frage, warum solche scheinbar nicht-verstehbaren Formen trotzdem in der Regel problemlos dekodiert werden können, beschäftigen sich die Beiträge von NIEBUHR/JOHN und GRAUPE/GÖRS/NIEBUHR. NIEBUHR/JOHN zeigen anhand von Wahrnehmungsexperimenten, dass ein höherer Reduktionsgrad in der gesprochenen Sprache nicht zwangsläufig auch mit einem höheren Risiko von Missverständnissen und Nicht-Verstehen einhergeht. Das hängt vor allem damit zusammen, dass schon das Konzept der „Reduktion“ auf einem sprachwissenschaftlichen Nicht-Verstehen basiert, das mit der segmentell-phonematisch geprägten Perspektive auf die Sprache zusammenhängt. Als „reduziert“ und damit eigentlich unverständlich können Wörter zwar erscheinen, wenn man ihre sprechsprachliche Realisierung mit dem Maß der idealisierten Aussprachenorm misst, nach der alle Segmente korrekt artikuliert werden müssen. Tatsächlich greift dieses Konzept der Reduktion aber zu kurz. Denn zumeist ist die „phonetische Essenz“ der ursprünglichen Laute noch als subphonematisches phonetisches Detail im lautlichen Umfeld vorhanden oder wird in Form von „artikulatorischen Prosodien“, also etwa durch Besonderheiten in der Vokalfärbung oder Vokaldauer, zum Ausdruck gebracht. Beides entzieht sich dem allein an Lautsegmenten orientierten Sprachbetrachter.

Details

Seiten
XVI, 224
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653027068
ISBN (ePUB)
9783653999181
ISBN (MOBI)
9783653999174
ISBN (Hardcover)
9783631626252
DOI
10.3726/978-3-653-02706-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (September)
Schlagworte
Nichtverstehen Prosodie Zweitspracherwerb Geschlechterrollen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XVI, 224 S., 5 s/w Abb., 4 Tab., 25 Graf.

Biographische Angaben

Oliver Niebuhr (Band-Herausgeber:in)

Oliver Niebuhr studierte Phonetik und Digitale Sprachverarbeitung an der Universität Kiel. Nach Forschungsaufenthalten an den Universitäten Marseille und York kehrte er als Juniorprofessor für die Analyse gesprochener Sprache an die Universität Kiel zurück.

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Titel: Formen des Nicht-Verstehens
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