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Interkulturelle Literatur in deutscher Sprache

Das große ABC für interkulturelle Leser

von Carmine Chiellino (Autor:in)
©2016 Andere 250 Seiten

Zusammenfassung

Als Leser, Herausgeber und Forscher von interkultureller Literatur hat Carmine Chiellino im Laufe von drei Jahrzehnten eine elementare deutschsprachige Terminologie erarbeitet, um über seine Erfahrungen mit der interkulturellen Literatur in Westeuropa und in Nordamerika anders als in den geläufigen Diskursen zu denken und zu schreiben. Die Terminologie ist aus der schlichten Notwendigkeit hervorgegangen, Schreibmodelle und Strategien, eigene Motivationen und fremde Zwänge beim Sprachwechsel, interkulturelle Lebensläufe und Entstehungskontexte, Projekte und Fragestellungen, die in Werken von interkulturellen Schriftstellern aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen vorkommen, stichwortartig zu erfassen. Dieser Band stellt rund 100 Stichwörter vor, die durch Textbeispiele, Werkbeispiele, Autorenbeispiele oder Kontextbeispiele erläutert werden und den Leser unterstützen sollen, die betreffenden Werke interkulturell lesen zu können. Die Textbeispiele sind in der Originalsprache und mit der deutschen Übersetzung wiedergegeben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Stichwörter
  • A
  • B
  • D
  • E
  • F
  • G
  • H
  • I
  • K
  • L
  • M
  • N
  • O
  • P
  • R
  • S
  • T
  • U
  • V
  • Z
  • Corpus der interkulturellen Literatur in Europa
  • Namensregister
  • Verzeichnis bzw. Liste der Stichwörter

Vorwort

Zur Entstehungsgeschichte des vorliegenden Bandes

Als Leser, Herausgeber und Forscher von interkultureller Literatur habe ich mir im Laufe von drei Jahrzehnten eine elementare Terminologie erarbeitet, um über meine Erfahrungen mit der interkulturellen Literatur in Westeuropa und in Nordamerika anders als in den geläufigen Diskursen denken und schreiben zu können. Es ist nie meine Absicht gewesen, die einzelnen Begriffe als Elemente eines gesamten literaturwissenschaftlichen Systems zu verstehen bzw. sie als solche entwickeln zu wollen. Sie sind also aus der schlichten Notwendigkeit hervorgegangen, Schreibmodelle und Strategien, eigene Motivationen und fremde Zwänge beim Sprachwechsel, interkulturelle Lebensläufe und Entstehungskontexte, Projekte und Fragestellungen, die in Werken von interkulturellen Schriftstellern aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen vorkommen, stichwortartig zu erfassen.

Bei einem solchen freihändigen Vorgehen ist es mir nicht erspart geblieben, in Sackgassen zu geraten, die ich erst aus der Distanz erkannt habe. Ein Beispiel dafür ist der Titel des ersten Versuchs, mich über das Aufkommen der interkulturellen Literatur in deutscher Sprache öffentlich zu äußern. Der Titel lautete Literatur und Identität in der Fremde. Zur Literatur italienischer Autoren in der BRD. Das Bändchen ist im Selbstverlag 1985 erschienen.1 Meinen unbedachten Umgang mit dem Begriff „Identität“ erkläre ich mir aus dem damals empfundenen Druck, ins Gespräch mit dem Gastgeber zu treten und zu bleiben.

In den 1970er Jahren gehörte „Identität“ zu den unverzichtbaren Stichworten, um sich zur „Geistigen Situation der Zeit“2 äußern zu können, um so mehr für die Einwanderer, denen neben einer Identitätsfrage eine existenzielle Zerrissenheit in der Sprache des Gastgebers nahegelegt wurde. Es gehörte zum öffentlichen Anstandscodex, dem Gastgeber in seiner Sprache weder zu widersprechen noch ihn zu widerlegen. So gesehen gab es kaum eine Möglichkeit, sich der Sprache des „öffentlichen Diskurs[es]“ über die aufkommende interkulturelle Literatur in deutscher Sprache zu entziehen. ← 9 | 10 → Es hat seine Zeit gedauert, bis die Einsicht sich bei mir durchgesetzt hat, dass wer nicht zugehörig ist, seine Zugehörigkeit eher über autonome Vorschläge ausleben kann denn durch Beteiligung am öffentlichen Diskurs über das eigene Anliegen. Diese Einsicht wird wohl der Auslöser meines Vorgehens beim Ausarbeiten meiner Stichworte in deutscher Sprache gewesen sein. Ebensowenig würde ich das damals geläufige Adjektiv „bikulturell“ im Zusammenhang mit Gedächtnis heute verwenden.3

Bei dem Entwurf von Begriffen ist der Einfluss durch Vordenker und Lehrmeister immer zu reflektieren bzw. sich dessen von Anfang an bewusst zu sein. Einige meiner Begriffe wie z. B. (→) „dialogischer Austausch“ oder (→) „stiller Zeuge“ haben eine lineare Herkunft: „dialogischer Austausch“ verdanke ich Michail M. Bachtins Abhandlung: „Das Wort im Roman“4 und „stiller Zeuge“ dem Hauptwerk von Alice Miller.5

Dies führt zur Frage, wie autonom und authentisch Forschungsergebnisse sein können, die mit „modifizierten“ Begriffen als hermeneutischen Instrumenten erzielt werden. Denn jede Unterstützung durch Vordenker und Lehrmeister beflügelt die Fantasie, und doch bleibt es dem Suchenden nicht erspart, sich der Tauglichkeit des aufgegriffenen Stichworts im Bereich seines Anliegens zu vergewissern.

Nicht anders ist es mir beim Aufgreifen des Stichworts „Identität“ ergangen. Der Begriff ist mir hilfreich gewesen, um ins Gespräch mit dem Gastgeber zu treten und für eine gewisse Zeit zu bleiben, jedoch hat er sich als untauglich für das Forschen im Bereich der interkulturellen Literatur in deutscher Sprache erwiesen. Denn die Einwanderer in der Bundesrepublik Deutschland, selbst wenn sie Gedichte, Erzählungen oder Zeitschriftenbeiträge eigenhändig darüber verfasst haben, haben weder unter Identitätsproblemen noch unter Zerrissenheit so zu leiden gehabt wie unter der Tatsache, dass es für sie und ihre Familien schwierig bis gesetzlich unmöglich war, ihr Lebensprojekt in einem Land umzusetzen, das fast unisono und 50 Jahre lang von sich pausenlos behauptet hat, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei.6 ← 10 | 11 →

Da ich selbst immer wieder den Wunsch gespürt habe, die hier versammelten Begriffe und Forschungsergebnisse aus der geschützten privaten Sphäre des eigenen Gebrauchs zu entlassen und so einer öffentlichen Instanz zu stellen, und da Forscher der interkulturellen Literatur, mit denen ich seit Jahrzehnten in Kontakt stehe, mir es immer wieder nahegelegt haben, sie weiterzugeben, habe ich mich dazu entschieden, Begriffe und Ergebnisse stichwortartig auszuformulieren. Hierzu hat sich das Format eines ABC für interkulturelle Leser angeboten, weil sie dadurch am einfachsten zu vernetzen waren und am leichtesten zu erreichen sind. Wieso für Leser und nicht für Forscher? Weil die Stichwörter dafür gedacht sind, jeden Leser zu unterstützen, der den Wunsch verspürt, die betreffenden Werke interkulturell zu lesen und weil man zum Forscher erst durch eigene Fragestellungen an die interkulturelle Literatur wird.

Zum Aufbau des ABC

Das ABC setzt sich aus Stichwörtern unterschiedlicher Typologie zusammen, die auf folgende Weise eingeführt und vernetzt werden:

Je nach Bedarf werden zur Erläuterung der Stichwörter Beispiele oder belegende Zitate eingeführt. Bei den Beispielen handelt es sich um Text-, Werk-, Autoren- oder Kontextbeispiele. Beispiele und Zitate werden, soweit es typographisch möglich ist, in der Originalsprache des Werkes zusammen mit der deutschen Übersetzung wiedergegeben.

Grundlage des ABC ist eine reine persönliche Auswahl von mehr als hundert Dichtern und Romanciers, die durch ihre Werke dazu beigetragen ← 11 | 12 → haben, dass die Sprachen Europas eine erstaunliche Austauschsymbiose eingegangen sind. Die Auswahl der Schriftsteller ist allerdings aufgrund der interkulturellen Komplexität ihrer Werke erfolgt und nicht umgekehrt. Zugleich hat gerade der Wohnort der Sprachwechsler eine entscheidende Rolle bei der Auswahl gespielt. Für mein Verständnis von interkultureller Literatur in Europa reicht der Sprachwechsel allein nicht aus. Ebenso wichtig hierzu sind ein Landwechsel bzw. ein Leben in der Fremde, in dem betreffenden Kultur- und dem Alltagsraum der Sprache, in der die Werke geschrieben werden. Das Leben in der Fremde kann angehende Schriftsteller von inhaltlicher (→) Sprachlosigkeit befreien, die andernfalls dazu beiträgt, sie in ihrem Vorhaben scheitern zu lassen.

Soweit es mir möglich gewesen ist, habe ich in einer zweiten Instanz Dichter und Romanciers bevorzugt, die ihre Hauptwerke schon geschrieben oder Werke verfasst haben, die zu ihren Hauptwerken zu zählen sind. Selbst wenn hier und dort Bezug auf Werke von jüngeren Schriftstellern im Kontext der Einwanderung genommen wird, geschieht dies als Seitenblick auf eine literarische Welt, die anders zu lesen ist als die Werke der Gründer der interkulturellen Literatur in Westeuropa, da sie unter anderen Voraussetzungen entstanden sind.

Aus einer Auswahl von ca. vier- bis fünfhundert Werken – Romane, Lyrikbände, Essays, Poetik- und Interviewbände – habe ich im Laufe der Zeit Prosapassagen, Gedichte, Stellungnahmen und Formulierungen notiert, die mir als Textbeispiele oder Zitate für die Erklärung des betreffenden Begriffs heute noch besonders geeignet erscheinen. Bei der endgültigen Auswahl der Beispiele und Zitate ist mir wiederum wichtig gewesen, jedes Mal sämtliche Entstehungskontexte der interkulturellen Literatur in Europa zu berücksichtigen. Mir ist auch bewusst, dass durch die Zweckmäßigkeit der Auswahl der Beispiele die zitierten Stellen, Werke und Autoren in eine irreführende Nähe zueinander geraten. Sie ist zu berücksichtigen, indem man sich vergegenwärtigt, in welchem Kontext das zitierte Werk entstanden ist, denn nur so kann man den Beispielen das Eigene abgewinnen. Das Heranziehen von interkulturellen Werken aus anderen Zeiten und Kulturräumen dient lediglich dazu, nützliche kontrastive Vergleiche vorzunehmen und gewiss nicht, um ihren historischen und territorialen Entstehungskontext zu missachten. Dabei ist mir sehr bewusst, dass es bei einer einführenden Arbeit wie der vorliegenden nicht gegeben ist, die ästhetische und thematische Komplexität der erwähnten Werke gebührend zu würdigen.

Mit den hier und dort vorkommenden Punkten: „Schlussanmerkung“, „offene Frage“ und „Der Sonderfall“ wird auf spezifische Situationen, Fragen und Fälle extra hingewiesen, da es sich lohnen würde, sie ausführlicher zu berücksichtigen. ← 12 | 13 →

Danksagung

Bedanken möchte ich mich bei Pasquale Gallo und Ulrike Reeg (Bari), Antonio d’Alfonso (Montreal), Antonino Mazza (Ottawa), Ana Ruiz, Ana Perez, Yolanda Garcia, Maria Falcon und Margarita Alfaro (Madrid), Immacolata Amodeo (Villa Vigoni), Julio Monteiro Martins (Lucca), den Mitgliedern der Forschergruppe Parola vissuta: Szilvia Lengl, Adrian Bieniec, Sandrine Okou, Raluca Hergheligiu, Chantal Wright und Natalia Shchyhlevska, für die vielen Gespräche über Literatur und Interkulturalität und Stefanie Wilk (Innsbruck).

„Sympathisch und solidarisch“ bedanke ich mich bei den Teilnehmern des Augsburger Kompaktseminars über interkulturelle Literatur, das zwischen 2003–2012, stattgefunden hat. Mit ihren so unterschiedlichen Fragen haben sie Wesentliches zur Klärung der hier versammelten Begriffe beigetragen.

Ein „doktorväterlicher“ Dank geht an Szilvia Lengl, die sämtliche Zitate und Quellenangaben, Bibliographie und einiges mehr mit großer Geduld überprüft hat.

Ein besonderer Dank geht an die Verantwortlichen des Zentrums für Interkulturelle Studien der Universität Mainz. Die dortige Honorarprofessur war der fruchtbare Anlass, um Das große ABC zu schreiben.

Franco Biondi, dem Mitstreiter in Sachen ‚Sackgassen vermeiden und interkulturell Denken‘ seit unserem ersten Treffen am 26. Mai 1979 im Theatercafé des Frankfurter Schauspielhauses, sei hier von Herzen gedankt.

Augsburg, Januar 2012 – Juni 2013. ← 13 | 14 → ← 14 | 15 →


1      Gino Chiellino: Literatur und Identität in der Fremde. Zur Literatur italienischer Autoren in der BRD. Augsburg: Selbstverlag 1985. Eine erweiterte Auflage ist beim Neuer Malik Verlag, Kiel 1989, erschienen.

2      Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“. 1. Band: Nation und Republik – 2. Band: Politik und Kultur. Hg. Jürgen Habermas. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1979.

3      Gino Chiellino: „Das bikulturelle Gedächtnis als Weg zur offenen Gesellschaft.“ Zuletzt als Einführung erschienen in Fruttuoso Piccolo: Buchstäblich. Grenzüberschreitende Literatur. Eine Dokumentation. Bonn: Avlos Verlag, 1999, S. 7–13.

4      Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. Rainer Grübel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1979, S. 154–300.

5      Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1979.

6      Laut Heiner Geißler wollte Bundeskanzler „Helmut Kohl […] auf dem Dresdner Parteitag 1992 über den Satz abstimmen lassen: Deutschland ist kein Einwanderungsland, was Volker Rühe als Generalsekretär nur mit Mühe verhindern konnte.“ In: Süddeutsche Zeitung, 18./19. 9. München: 2010, Nr. 215, S. V2/6.

A

Abtreibung → Böse, das, in der interkulturellen Literatur

Adressat

Aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte ist die interkulturelle Literatur in Europa kaum als herkömmliche Minderheitenliteratur mit definierten Zielsetzungen zu verstehen. Sie ist als engagierte Literatur entstanden und betreibt Aufklärung in Sachen koloniale Aggression, Exil, Aus- und Einwanderung und weiteren interkulturellen Prozessen. Ihr Adressat erhält somit ein variables Profil je nach dem thematischen (→) Entstehungskontext des betreffenden Werkes. Am häufigsten muss der Leser von interkultureller Literatur mit einem impliziten oder expliziten Adressaten rechnen.

Der implizite Adressat

Aus der existenziellen Notwendigkeit, das Eigene zu begreifen, spricht das lyrische Ich oder der Ich-Erzähler sich selbst als impliziter Adressat an.

Details

Seiten
250
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783035108996
ISBN (ePUB)
9783035197181
ISBN (MOBI)
9783035197174
ISBN (Paperback)
9783034320467
DOI
10.3726/978-3-0351-0899-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Interkulturalität Aus- und Einwanderung Umsiedlung Adressat-Gesprächspartner Gedächtnisses Mutter- bzw. Herkunftssprache Sprachlatenz Lebensprojekt
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2016. 250 S.

Biographische Angaben

Carmine Chiellino (Autor:in)

Carmine Chiellino (geboren 1946 in Carlopoli, Italien) ist ein interkultureller Literaturwissenschaftler, der bis 2012 an der Universität Augsburg tätig war. Zu seinen Arbeiten gehören: Am Ufer der Fremde. Literatur und Arbeitsmigration 1870–1991 (1995), Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch (Hg.) (2000) und Liebe und Interkulturalität. Essays 1988–2000 (2001).

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