Lade Inhalt...

Krieg für die Kultur? Une guerre pour la civilisation?

Intellektuelle Legitimationsversuche des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Frankreich (1914–1918)

von Olivier Agard (Band-Herausgeber:in) Barbara Beßlich (Band-Herausgeber:in)
©2018 Konferenzband 320 Seiten

Zusammenfassung

Der Erste Weltkrieg fand nicht nur auf dem Schlachtfeld statt, sondern wurde als «Krieg der Geister» auch von Intellektuellen publizistisch mit der Feder geführt. Dabei lassen sich in Frankreich und Deutschland ähnliche Kriegsdiskurse beobachten. In beiden Ländern sollte die Definition von (nationalen) Kulturwerten den Krieg legitimieren. Gleichzeitig erfüllten diese Kriegsschriften als intellektuelle Aufrüstung auch einen propagandistischen Zweck. Die Beiträge des vorliegenden Bandes widmen sich Kriegstexten von deutschen und französischen Philosophen, Historikern, Soziologen und Schriftstellern und analysieren deren argumentative Strategien und ideengeschichtliche Voraussetzungen in der Kulturkritik der Jahrhundertwende.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Krieg für die Kultur? Une guerre pour la civilisation? Intellektuelle Legitimationsversuche des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Frankreich (1914–1918) (Oliver Agard / Barbara Beßlich)
  • Diagnostic culturel et légitimation de la guerre en France et en Allemagne. Emile Boutroux et Rudolf Eucken (Olivier Agard)
  • Französische Zivilisation und deutsche Kultur in der Kriegspublizistik Karl Joëls (Barbara Beßlich)
  • Schöpferische Zerstörung? Über ein Philosophem deutscher Intellektueller im Kulturkrieg. Dargestellt am Fall der Kathedrale von Reims (Michael Großheim)
  • La cathédrale de Reims en flammes, une icône au service du débat de la lutte de la civilisation contre la barbarie (1914–1915) (Emmanuelle Danchin)
  • Les clercs ont ils trahi ? La Nouvelle Revue française et la Grande Guerre (Yaël Dagan)
  • Wissensvermittlung, Kulturpolitik und Kriegspropaganda. Thesen zur Kriegspublizistik der deutschen Rundschauzeitschriften 1914–1918 (Kai Kauffmann)
  • Die Expressionisten und der Erste Weltkrieg (Sabina Becker)
  • Nationale Mythen und moderne Psychologie. Thomas Manns Friedrich und die große Koalition (1915) und Hugo von Hofmannsthals Maria Theresia (1917) (Gregor Streim)
  • Richard Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain und Frankreich – Nachzeichnung einer völkischen Perspektive (Anja Lobenstein-Reichmann)
  • Durkheimiens en guerre, ou la justification sociologique du conflit (Jean-Christophe Marcel)
  • Guerre juste et progrès moral. Les discours de guerre de Bergson (1914–1918) (Florence Caeymaex)
  • Krieg, Nation und Kapitalismus 1914–1918. Werner Sombart im Vergleich mit einigen seiner Freunde und Kollegen (Friedrich Lenger)
  • Historismus und „deutscher Wille“. Ernst Troeltschs politische Entwicklung zwischen 1914 und 1919 (Gérard Raulet)
  • Das Frankreichbild deutscher Historiker und ihre kulturelle Deutung des Krieges (Christian Jansen)
  • Abstracts
  • Autoren
  • Veröffentlichungen der Groupe de recherche sur la culture de Weimar
  • Reihenübersicht

← 6 | 7 →

Oliver Agard/Barbara Beßlich

Krieg für die Kultur? Une guerre pour la civilisation? Intellektuelle Legitimationsversuche des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Frankreich (1914–1918)

Der Erste Weltkrieg provozierte bereits vom Moment seines Ausbruchs an intellektuelle Legitimationsversuche. Auf beiden Seiten des Rheins führte man den Krieg im Namen von Kulturwerten, um deren Definition sich die intellektuellen Akteure mit philosophischen, historischen oder politischen Argumenten bemühten. Neben dem Krieg auf dem Felde brach in Europa ein „Krieg der Geister“ aus.1 In Deutschland und Österreich versuchte man, die „Kultur“ gegen eine mit Westeuropa in Verbindung gebrachte „Zivilisation“ zu verteidigen, während in Frankreich Henri Bergson sehr schnell den Krieg als einen Kampf der „civilisation“ gegen die deutsche „barbarie“ deutete.

Der vorliegende Band konzentriert sich vorwiegend auf deutsche und französische Texte von Philosophen, Historikern, Soziologen und Schriftstellern, die einen intellektuellen und theoretischen Anspruch mit ihren Kriegsschriften verbanden.2 Seit mehreren Jahren beschäftigt sich die Forschung mit der Art von Texten und Diskursen, die hier analysiert werden. Es besteht insbesondere in Deutschland und aus Gründen, auf die später eingegangen werden soll, ein altes und kontinuierliches Interesse an den „Ideen von 1914“.3 Rudolf Euckens und Thomas Manns ← 7 | 8 → Beiträge zur Kriegspublizistik sind etwa öfters in diesem Zusammenhang eingehend analysiert worden.4 In einer vergleichenden Perspektive hat Peter Hoeres die Kriegspublizistik der deutschen und englischen Philosophen erforscht.5 Der Soziologe Hans Joas hat schon vor einiger Zeit die Ansicht vertreten, dass man diese Texte durchaus ernst nehmen sollte, weil sie gegebenenfalls wichtige theoretische Einsichten enthalten und auch für die Geschichte der Soziologie durchaus von Bedeutung sind.6 In der Tat ist die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Krieg oft der Ursprung wichtiger Denkimpulse für die spätere Entwicklung der Autoren gewesen.7 Zum Beispiel findet man in Max Schelers Kriegsschriften die erste Formulierung einer Theorie der historischen Kausalität, die im Mittelpunkt seiner letzten Philosophie steht, und im vorliegenden Band weist Florence Caeymaex die zentrale Bedeutung des Krieges für die Entwicklung von Bergsons ← 8 | 9 → Theorie der Kultur nach. In Frankreich ist das Interesse für diese Art von Texten insgesamt geringer, nahm in den letzten Jahren aber deutlich zu.8

Was diese Texte kennzeichnet, ist meistens, dass die verschiedenen Autoren den Krieg im Lichte einer Theorie oder Auffassung der Kultur betrachten, die sie schon in den Jahren vor dem Krieg entworfen hatten. Im Mittelpunkt dieser Kriegsdiskurse steht eine kritische Kulturdiagnose und es besteht – sowohl in Deutschland als auch in Frankreich – eine gewisse Kontinuität zwischen diesen Legitimationsdiskursen und der Kulturkritik der Jahrhundertwende. Der vorliegende Band setzt so auch unsere gemeinsame Arbeit über Kulturkritik und Politik in Deutschland und Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts fort.9 Die Kriegstexte werden also hier aus einer ideengeschichtlichen Perspektive gelesen und nicht etwa vom institutionengeschichtlichen Standpunkt ihrer Einbindung in einen Zensur- und Propagandaapparat aus. Zweifellos spielt dieser Hintergrund eine nicht zu unterschätzende Rolle: Simmel, Scheler oder Bergson stellten sich in den Dienst dieses politischen Propagandaapparats, von dem sie regelrechte Aufträge erhielten. Scheler war für die Propaganda als katholischer Intellektueller von Interesse, um eben die katholische Öffentlichkeit in Deutschland und vor allem im Ausland anzusprechen. Bergson war wegen seiner Verbindung zur angelsächsischen Welt ein interessanter Vermittler. Hinter mancher Veröffentlichung steht somit auch eine politische Steuerung. Dieser Hintergrund sollte aber nicht zur Vernachlässigung und Unterschätzung der „Selbstmobilisierung“ („automobilisation“) führen, auf die Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker in den letzten Jahren in Frankreich den Akzent gelegt haben.10 Die Existenz des „Augusterlebnisses“ wurde von manchen Historikern relativiert und in Frage gestellt: Viele deutsche Bildungsbürger und ein großer Teil der französischen „bourgeoisie intellectuelle“ sind aber offensichtlich davon betroffen gewesen.11 Die im vorliegenden Band vorgestellten Diskurse erzielen einen propagandistischen Zweck, aber zeugen auch von der Zustimmung zum ← 9 | 10 → Krieg („consentement“) und von der Etablierung einer Kriegskultur („culture de guerre“) in beiden Ländern (und nur durch diese Zustimmung lässt sich für Audoin-Rouzeau und Becker die Durchhaltefähigkeit der Soldaten erklären). Eine andere Frage, die man sich stellen könnte und die in diesem Band nicht im Mittelpunkt steht, ist die der realen Resonanz jener Diskurse in der öffentlichen Meinung. Viele der hier behandelten Texte richten sich in der Tat an ein begrenztes Publikum: Der Genius des Krieges von Max Scheler gilt als Bestseller, aber verkauft wurden lediglich 5000 Exemplare.12

Neben der Fokussierung auf die Texte selbst und des ideengeschichtlichen Ansatzes ist die Einführung einer vergleichenden Perspektive ein anderer Aspekt, der uns interessiert hat. Wegweisend war das schon erwähnte Buch von Peter Hoeres für Deutschland und England, aber auch Nicolas Beauprés Arbeiten zu den deutschen und französischen Schriftstellern oder zum Gedächtnis des Krieges in Frankreich und Deutschland.13 Der von Hoeres unternommene Vergleich mit England ist durchaus aufschlussreich, da für viele deutsche Schriftsteller, Philosophen, Historiker und Soziologen England im Krieg der Kulturfeind überhaupt war. Dies ist bei Max Scheler besonders deutlich: Schelers Anglophobie kulminiert in Der Genius des Krieges in der Beschreibung des Cant, d.h. der angeblich doppelbödigen und heuchlerischen englischen gesellschaftlichen Moral. Diese Anglophobie ist jedoch keine spezielle Eigenheit von Scheler. Wie Matthew Stibbe nachgewiesen hat, haben die deutschen Eliten und weite Teile der öffentlichen Meinung England die Hauptschuld für den Krieg gegeben: England habe durch seine Unterstützung von Russland die Kultur verraten.14 Aber selbst wenn England in den Augen vieler der Hauptfeind ist, bleibt Frankreich ein zentraler ideologischer Gegner: Davon zeugt die Antithese, die zwischen den deutschen „Ideen von 1914“ und den französischen „Ideen von 1789“ aufgestellt und immer ← 10 | 11 → wieder propagiert wird; dieser Gegensatz ist ein zentrales Motiv in der intellektuellen Legitimierung des Krieges, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich.

Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es jedoch zahlreiche Kontakte zwischen französischer und deutscher Philosophie gegeben. Die 1900er Jahre waren durch die Entwicklung des internationalen wissenschaftlichen Lebens gekennzeichnet (ein Beispiel dafür sind die internationalen Philosophiekongresse). Es schien sogar eine gewisse Konvergenz in der Kulturdiagnose zu geben: Bergson wird in Deutschland intensiv rezipiert,15 während Eucken ins Französische übersetzt wird. Dieser Dialog hat natürlich Grenzen und ist von Missverständnissen begleitet (es ist auch die Zeit, in welcher der Nationalismus als politisches und historisches Phänomen einen Höhepunkt erreicht). Diese deutsch-französische Diskussion hörte 1914 nicht gleich auf. Simmel hat auf Bergsons „Zynismus“-Vorwurf zu antworten versucht und Scheler geht in seinem Text Das Nationale im Denken Frankreichs (1915) auf Boutroux’ und Pierre Duhems Analysen der angeblich deutschen Denkweise ein.16 Vor diesem Hintergrund ist es umso interessanter, die Verschiebungen zu beobachten, durch die der Übergang von einer Friedens- zu einer Kriegskultur möglich wurde, und die Kontinuitäten und Veränderungen in den Diskursen und Argumentationsstrategien zu verfolgen. Ein Beispiel für eine solche Verschiebung ist die Nationalisierung der Kulturdiagnose. Für Pathologien, die vor 1914 der modernen Kultur im Allgemeinen zugeschoben wurden, werden nun England oder Frankreich (in Deutschland) oder Deutschland (in Frankreich) verantwortlich gemacht. Ein anderer Mechanismus ist die Tendenz, das Problem der modernen Kultur dezisionistisch zur Existenzfrage zu dramatisieren: Der Krieg soll über das Überleben der Kultur (oder der civilisation) entscheiden. Es handelt sich für diese Autoren nicht mehr darum, die Geister zu erziehen, sondern am historischen Geschehen teilzunehmen und es zu bestimmen.

In der hier von uns bevorzugten ideen- und intellektuellengeschichtlichen Annäherungsweise lässt sich eine bestimmte Diskrepanz zwischen Frankreich und Deutschland feststellen. Es besteht in Deutschland seit langem ein kontinuierliches ← 11 | 12 → Interesse für die intellektuelle Produktion der Kriegsjahre.17 In Frankreich ist diese Forschung wesentlich weniger umfangreich. Die intellektuelle Produktion (der Kriegsschriften) wird wenig als solche behandelt und gelesen. Meistens wird sie im Zusammenhang mit allgemeineren Fragestellungen gedeutet, mit der Frage der Propaganda und ihrer Resonanz und vor allem der Frage der Kriegskultur und der Zustimmung zum Krieg: Ein zentraler Strang in der französischen Forschung zum Ersten Weltkrieg ist die Erforschung der alltäglichen Erfahrung des Krieges (an und hinter der Front). Das Problem der Zustimmung der Bevölkerung hat in den letzten Jahren in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung erlangt und wurde zum Gegenstand heftiger Kontroversen, was mit der Stellung des Ersten Weltkriegs im französischen kollektiven Bewusstsein zusammenhängt (in Deutschland hat die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg eine deutlich andere Form angenommen).18

Die einzige ideengeschichtliche Synthese über die französischen Intellektuellen im Krieg bleibt heute noch ein amerikanisches Buch aus dem Jahre 1996: Mobilization of intellect von Martha Hanna.19 Nicolas Beauprés wichtige Studie zu den Schriftstellern im Krieg geht nur am Rande auf die Frage der intellektuellen Legitimierung des Krieges ein. In den letzten Jahren haben sich vor allem Anne Rasmussen und Christophe Prochasson mit dieser Frage beschäftigt.20 Ein wichtiger Beitrag ist Yaël Dagans Buch zur Zeitschrift La NRF (Nouvelle Revue française), in dem sie unter anderem André Gides Einstellung zum Krieg analysiert (siehe auch ihr Artikel in dem vorliegenden Band).21 Andere Arbeiten setzen sich spezifisch mit den Kriegsdiskursen der Soziologen und Philosophen auseinander und ergänzen so die auf die 1980er Jahre zurückgehenden Standardwerke von Philippe ← 12 | 13 → Soulez zu Bergson22 und zu den französischen Philosophen im Allgemeinen.23 Alle diese Beiträge heben die Kontinuität der Kriegstexte mit dem geistigen Kontext der Vorkriegszeit hervor. Rasmussen und Prochasson widmen diesem Kontext ein Kapitel ihres Buches und Dagan weist nach, dass die Themen der Dekadenz und der Regenerierung, mit denen die Autoren der NRF in ihrer Deutung des Krieges operieren, schon vor dem Krieg präsent waren. Trotz dieser Bestrebungen der neuen Forschung besteht in Frankreich eine Tendenz, diese Kriegsschriften als bloße Entgleisungen zu begreifen (was sie zweifelsohne auch sind) und sie also als nicht wirklich lesenswert zu betrachten, weil sie vor allem der Ausdruck einer „Trahison des clercs“, eines „Verrats der Intellektuellen“ seien.

Im Gegensatz dazu wurden diese Kriegstexte in Deutschland aufmerksam gelesen, weil die Ideologie, die in ihnen zum Vorschein kommt, die These vom geistigen deutschen Sonderweg zu bestätigen schien. In ihrem Willen, eine Abgrenzung vom „Westen“ zu begründen und Deutschland als Bindeglied zwischen Ost und West zu installieren, enthalten viele Kriegstexte eine affirmative Sonderwegstheorie, die von der modernen Forschung kritisch dekonstruiert wird und als Ideologie des deutschen Bildungsbürgertums beschrieben wird. Es lässt sich in der Tat zeigen, dass viele dieser Texte auf Motive und Begriffe zurückgreifen, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in dieser sozialen Schicht kursieren. Georg Bollenbeck versteht diese Kriegsphilosophie als Versuch des Bildungsbürgertums, die „semantische Hegemonie“ zurückzugewinnen und die „bildungsbürgerliche Semantik“ neu zu beleben.24

In der Tat eröffnet aus der Sicht von Scheler und Simmel der Krieg die Perspektive einer radikalen Veränderung der Kultur und setzt den Pathologien, die die Vorkriegsgesellschaft kennzeichneten, ein Ende. Der Krieg erscheint so als eine Bestätigung ihrer negativen Kulturdiagnose der Jahrhundertwende und bringt die Hoffnung auf eine Regenerierung der Gesellschaft, denn er unterbricht angeblich die Herrschaft des Utilitarismus. Im Falle von Scheler ließ sich bereits vor dem Krieg eine Radikalisierung seiner Kulturkritik beobachten: In den 1910er Jahren erfolgt die Kritik des Pragmatismus, des Utilitarismus, des Liberalismus nicht mehr nur im Namen der geistigen Werte, sondern auch im Namen des Lebens und der vitalen Werte. Diese Kritik orientiert sich zunehmend an Nietzsche, insbesondere 1912 im Buch über das Ressentiment (Das Ressentiment im Aufbau ← 13 | 14 → der Moralen).25 Scheler legt nun den Akzent darauf, dass die Nützlichkeitswerte in der modernen Welt Vorrang vor den vitalen Werten haben, was der absoluten Hierarchie der Werte nicht entspreche und ein „désordre du cœur“ („Unordnung des Herzens“) herbeiführe. Scheler beschreibt die herrschende kulturelle Ordnung als der Dekadenz verhaftet. Sie sei durch ein „Nachlassen der zentralen, leitenden Kräfte im Menschen“ gekennzeichnet.26 Der Genius des Krieges fügt dieser Diagnose nichts Entscheidendes hinzu, es sei denn, dass diese Kriegsschrift von einem neuen Vertrauen in die Dynamik der Geschichte zeugt: Die Dekadenz kann für Scheler also durch einen Krieg vermieden werden, eine Möglichkeit, die im Ressentiment-Buch nicht erwähnt wurde. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass die radikalsten Kulturkritiker und Verbreiter der „Ideen von 1914“ nicht unbedingt einer nationalistischen oder völkischen Tradition angehören, denn Scheler war ein katholischer Modernist und sicher kein großer Freund des preußisch-deutschen Staates.27

Der relativ große Umfang der intellektuellen Kriegsliteratur in Deutschland erklärt sich aber nicht nur durch diesen kulturkritischen Hintergrund, sondern auch dadurch, dass die deutschen Autoren in mancher Hinsicht eine defensive Haltung einnahmen. Man darf nicht vergessen, dass sich die Propaganda nicht zuletzt an das neutrale Ausland richtete. Die französischen Autoren hatten es als Bürger einer parlamentarischen Demokratie einfacher, als sie Werte wie Fortschritt, Demokratie, Freiheit für sich beanspruchten, während die deutschen Autoren erst einmal erklären mussten, was die „deutsche Freiheit“ sei und was ihre Überlegenheit ausmache.28 Hinzu kamen die Kriegsverbrechen des deutschen Heeres, die im Ausland Empörung auslösten und die Stellung der deutschen Intellektuellen erschwerten: die Verletzung der belgischen Neutralität, die Zerstörung Löwens ← 14 | 15 → (insbesondere der Bibliotheksbrand), die Bombardierung der Kathedrale von Reims.29 Diese Ereignisse wurden natürlich in Frankreich genutzt, um die Deutschen als Barbaren darzustellen, aber das Thema der deutschen Barbarei war bereits vor diesen tragischen Ereignissen in der Propaganda ohnehin allgegenwärtig.

Die besondere Mentalität des deutschen Bildungsbürgertums sollte also nicht überschätzt werden und über die Ähnlichkeiten zwischen den drei europäischen Großmächten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) hinwegtäuschen: Wir haben es zu diesem Zeitpunkt mit „imperialen Gesellschaften“ zu tun, in denen ähnliche politische, soziale und ideologische Kräfte wirksam sind.30 Mit der kritischen Sonderwegsthese ist also Vorsicht geboten: Sie wird ja auch seit Blackbourn und Eley von vielen in Frage gestellt.31 Sicher ist die akademische Philosophie und Soziologie in Frankreich damals noch von einem Vertrauen in die Wissenschaft und die Republik geprägt. Das bedeutet aber nicht, dass man im intellektuellen und künstlerischen Feld keine Sorge angesichts der Modernisierungsprozesse antrifft: Nietzsche wird in literarischen Kreisen intensiv rezipiert. Selbst in der Revue de métaphysique et de morale wird Bezug auf ihn genommen. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1910 erklärt Georges Guy-Grand, dass „die höchsten Fragen der Philosophie, diejenigen sind, die Nietzsche aufgeworfen hat: Der Konflikt zwischen Leben und Kultur, zwischen Instinkt und Wissen, zwischen Gesellschaft und Einsamkeit“.32

Schelers Kritik am liberalen Kapitalismus stützt sich teilweise auf französische Autoren (insbesondere Bergson und Guyau), auch wenn Schelers Deutung dieser Autoren eindeutig vom deutschen Kontext geprägt ist. Wie François Azouvi nachgewiesen hat, spielt auch in Frankreich die Infragestellung des Fortschrittsoptimismus eine Rolle in der Rezeption von l’Évolution créatrice.33 Das Motiv der kulturellen Regenerierung durch den Krieg ist auch in Frankreich präsent. ← 15 | 16 → In einem Gespräch mit Jacques Chevaliers (am 27. März 1915) sagt Bergson: „Et pourtant j’ai une confiance absolue dans le succès final. Il aura fallu faire de terribles sacrifices; mais ce sera, j’en suis sûr, avec le rajeunissement et l’agrandissement de la France, la régénération morale de l’Europe“.34 Wie Simmel oder Scheler ist Bergson der Meinung, dass der Krieg negative Tendenzen der Vorkriegszeit korrigieren wird: Er vertraut zum Beispiel darauf, dass die moralischen Faktoren nun ihren Vorrang gegenüber den materiellen wiedererlangen werden. 1915 erklärt er in einer Rede:

Au lendemain de la guerre, quand la victoire aura redressé et mis plus haut encore les grandes choses que nos ennemis avaient foulées aux pieds – droit – des individus et droit des peuples, liberté, justice, sincérité, loyauté, humanité, pitié –, on se demandera ce que valent les progrès des arts mécaniques et les applications de la science positive, le commerce, l’industrie, l’organisation méthodique et minutieuse de la vie matérielle, là où ils ne sont pas dominés par une idée morale. Il apparaîtra aux yeux de tous que le développement matériel de la civilisation, quand il prétend se suffire à lui-même, à plus forte raison quand il se met au service de sentiments bas, peut conduire à la plus abominable des barbaries.35

Wie bei vielen deutschen Autoren erhält also die Kulturdiagnose bei Bergson einen nationalen Charakter, aber diese Diagnose war schon ansatzweise vorhanden, auch wenn l’Évolution créatrice – selbst wenn sie der praktischen und wissenschaftlichen Intelligenz die lebensnahe und schöpferische Intuition entgegensetzte – noch von einem gewissen Technikoptimismus, den Bergson in seinem Spätwerk Les deux sources de la morale et de la religion nuancieren sollte, geprägt ist. Die deutsche Geschichte lässt sich für Bergson als Sieg des Mechanismus über das Leben beschreiben. Preußen verkörpere die Synthese zwischen drei lebensfernen mechanischen Formen: Verwaltung, Armee, Industrie (in gewisser Hinsicht ist Bergson hier nicht weit von dem entfernt, was Scheler in vielen seiner Aufsätze erklärt, wenn er die Verbindung von Preußentum und Industrialismus denunziert).

Trotz der frontalen Gegnerschaft und ihrer ideologischen Inszenierung werden also in Frankreich und Deutschland ähnliche argumentative Strategien angewandt. Ohne hier unbedingt im Nachhinein aus der komfortablen Position der Nachgeborenen ein moralisches Urteil fällen zu wollen, muss man feststellen, dass man es in beiden Ländern mit einer ähnlichen Blindheit der tödlichen Realität des ← 16 | 17 → Krieges gegenüber zu tun hat. Nur wenigen dieser Kulturkritiker wurde klar, dass dieser europäische Krieg im Grunde das Ende der bürgerlichen Kultur, für die sie standen, bedeutete, und dass dieser Krieg in Wirklichkeit einen fatalen „Entzivilisationsprozess“ (Norbert Elias) und eine folgenreiche „Brutalisierung“ der Gesellschaft und der Politik (George L. Mosse) mit sich brachte. Die Intellektuellen erscheinen in dieser Hinsicht als „Schlafwandler“.36

Wir haben uns bemüht, möglichst viele Bereiche der intellektuellen Produktion einzubeziehen, um einen wenn natürlich auch nicht vollständigen, so doch umfassenden Überblick zu vermitteln. Emmanuelle Danchins Beitrag erweitert die Perspektive auf einen anderen Typus von Propaganda, der mit dem Medium Bild operiert und sich an die breite Bevölkerung richtet. Aber wie Michael Großheim zeigt, ist dieses bildhafte Motiv der in Flammen stehenden Kathedrale von Reims auch ein philosophisches Motiv in der deutschen Kriegspublizistik. Yaël Dagans Vorstellung der Nouvelle Revue française im Krieg steht Kai Kauffmanns Überblick über die deutschen Rundschau-Zeitschriften gegenüber. Wie unterschiedlich die Argumentationen in der kapitalismuskritischen Abteilung des „Kulturkriegs“ ausfallen konnten, zeigen die Beiträge von Gérard Raulet über Ernst Troeltsch und von Friedrich Lenger über Werner Sombart. Die verschiedenen Stilebenen der Kriegspublizistik werden sichtbar, wenn man die Reden und Aufsätze der Universitätshistoriker (die Christian Jansen untersucht) vergleicht mit den frankreichkritischen Schriften des Weltanschauungsliteraten Houston Stewart Chamberlain, dem sich Anja Lobenstein-Reichmann widmet. Inwiefern die Kriegspublizistik des deutschen Expressionismus in ihrem Verhältnis zur Kulturkritik neu bestimmt werden muss, erläutert die Studie von Sabina Becker, während Gregor Streim deutsche (Thomas Mann) und österreichische (Hugo von Hofmannsthal) Kriegsschriften miteinander vergleicht und analysiert, wie die beiden Großschriftsteller Geschichtspolitik betreiben, indem sie Friedrich den Großen und Maria Theresia für ihre Sache zu vereinnahmen suchen.

Vorliegender Band ist aus einer Reihe von Forschungstreffen und Tagungen in Heidelberg und Paris hervorgegangen, die zwischen 2012 und 2014 innerhalb eines Forschungsprogramms des CIERA (Centre interdisciplinaire d’Études et de de Recherches sur l’Allemagne) stattgefunden haben. Wir danken allen Institutionen, die dieses Programm und diese Veröffentlichung gefördert haben: dem CIERA, der Universität Heidelberg, der Université Paris-Sorbonne, dem Forschungszentrum SIRICE, dem DAAD und der Groupe de Recherche sur la ← 17 | 18 → Culture de Weimar. Insbesondere danken wir auch Christiane Deussen, die es uns ermöglichte, 2014 in der Maison Heinrich Heine in der Cité Universitaire in Paris zu tagen. Franziska Feger und Bernhard Walcher gebührt ein herzlicher Dank für die redaktionelle Einrichtung der Beiträge.

Paris und Heidelberg, im Oktober 2017


1 Vgl. Hermann Kellermann (Hg.), Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914, Weimar, Duncker 1915.

2 Die populärere Propaganda, die beispielsweise Michael Jeismann (Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart, Klett-Cotta 1992) analysiert hat, wird von uns nur am Rande berücksichtigt. Vgl. hierzu auch Nicolas Detering (Hg.), Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg, Münster, München, Waxmann 2013. Und für die österreichische Propaganda vgl. Elisabeth Buxbaum, Des Kaisers Literaten. Kriegspropaganda zwischen 1914 und 1918, Wien, Ed. Steinbauer 2014.

3 Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel, Stuttgart, Schwabe 1963; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin, Fest 2000; Ulrich Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München, Hanser 2013. Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin, Akademie 2003. Joachim Müller, Die „Ideen von 1914“ bei Johann Plenge und in der zeitgenössischen Diskussion. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des Ersten Weltkrieges, Neuried, Ars Una 2001.

4 Nicolas de Warren, „Rudolf Eucken. Philosophicus Teutonicus (1913–1914)“, in: Sarah Posman / Cedric van Dijck / Marysa Demoor (Hg.), The Intellectual Response to the first World War. How the conflict Impacted on Ideas, Methods and Fields of Enquiry, Brighton / Portland / Toronto, Sussex Academic Press 2017, 44–64. Michael Vollmer, Die Macht der Bilder. Thomas Mann und der Erste Weltkrieg, Berlin, be.bra wissenschaft 2014. Alexander Honold, Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs, Berlin, Vorwerk 2015. Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, Frankfurt am Main, Fischer 2008. Heinrich Detering, „Im Krieg der Gedanken. Von Thomas Manns ,Gedanken im Kriege‘ zur Republikrede“, in: Merkur 58/2004, 836–846. Barbara Beßlich, Wege in den ‚Kulturkrieg‘. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000.

5 Peter Hoeres, Der Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn, Schöningh 2004.

6 Hans Joas, „Die Sozialwissenschaften und der Erste Weltkrieg. Eine vergleichende Analyse“, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München, Oldenbourg 1996, 17–29.

7 Vgl. auch Matthias Schöning, Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2009. Mathias Mayer, Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven, München / Paderborn, Fink 2010. Niels Werber (Hg.), Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart / Weimar, Metzler 2014. Werner Frick, Günther Schnitzler (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Spiegel der Künste, Freiburg, Rombach 2017.

8 Arnaud François / Camille Riquier (Hg.), Annales bergsoniennes VII: Bergson, l’Allemagne, la guerre de 1914, Paris, PUF 2014; Emile Durkheim, L’Allemagne au-dessus de tout, hrsg. von Bruno Karsenti, Paris, Éditions EHESS 2015.

9 Olivier Agard / Barbara Beßlich (Hg.), Kulturkritik zwischen Deutschland und Frankreich (1890–1933), Frankfurt am Main, Peter Lang 2016.

10 Stéphane Audoin-Rouzeau / Annette Becker, La Grande guerre 1914–1918, Paris, Gallimard 1998, 64.

Details

Seiten
320
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631742440
ISBN (ePUB)
9783631742457
ISBN (MOBI)
9783631742464
ISBN (Hardcover)
9783631742358
DOI
10.3726/b13086
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Kulturkritik Nationalismus Politische Ideengeschichte Kriegsapologie 20. Jahrhundert Literatur
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 320 S. 19 s/w Abb., 1 s/w Tab.

Biographische Angaben

Olivier Agard (Band-Herausgeber:in) Barbara Beßlich (Band-Herausgeber:in)

Olivier Agard ist Professor für deutsche Ideengeschichte an der Université Paris Sorbonne (Paris IV). Sein Forschungsschwerpunkt ist die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Ländern. Barbara Beßlich ist Professorin am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Literatur und Geschichte vom 18.–21. Jahrhundert, Narratologie, Klassische Moderne sowie Kulturkritik.

Zurück

Titel: Krieg für die Kultur? Une guerre pour la civilisation?
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
322 Seiten