Lade Inhalt...

Studien V: Entwicklungen des Öffentlichen und Privatrechts II

von Wilhelm Brauneder (Autor:in)
©2015 Monographie 296 Seiten

Zusammenfassung

Die Beiträge des Buches umfassen nahezu alle Aspekte der Rechtsgeschichte: die Staatsordnungen Europas im 19. Jahrhundert, Grundrechte 1848 und für Bosnien 1910, die Stellung der Länder in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, Mehrsprachigkeit in der Habsburgermonarchie, Kirchenstaatspläne 1916/1918 sowie die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Aber auch mittelalterliches Landrecht, Eheschließungsrecht, Naturrecht, Baurecht als Sozialreform und Literaturgeschichte werden behandelt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Entwicklung des Öffentlichen Rechts
  • Die deutsche Staatlichkeit zur Zeit Goethes
  • Vom Europa der Staatenbünde und Allianzen zum Europa der Bundesstaaten und Bündnisse
  • I. Das napoleonische Europa
  • A. Grundstrukturen
  • B. Staatenbünde
  • C. Gemeinsames Rechtssystem
  • D. Bilanz
  • II. Das Europa des Wiener Kongresses
  • A. Grundstrukturen
  • B. Die europäische Ebene: multilaterale Allianzen
  • C. Die staatliche Ebene: Staatenbünde
  • D. Zwischenstaatliche Verflechtungen neben Staatenbünden
  • E. Bilanz
  • III. Krise und Ende der supranationalen Allianzen und Staatenbünde
  • A. Das Ende der supranationalen Allianzen
  • B. Bundesstaaten statt Staatenbünde
  • C. Bilanz
  • IV. Ausblick: Die Zeit der Staaten und der Bündnisse
  • V. Zusammenfassung
  • Verfassungsänderungen als Systemwechsel: Österreich 1848 bis 1938
  • I. Perioden
  • II. Die Zäsur 1848
  • 1. Der Bruch im Regierungssystem
  • 2. Die Situation in den Ländern und Provinzen
  • III. Die Zäsur von 1852
  • 1. Die theoretische Grundlage
  • 2. Die Brüche: Staatsform und Regierungssystem
  • 3. Kontinuitäten
  • 4. Der modifizierte Staatsaufbau von 1860/61
  • IV. Die Zäsur von 1867
  • 1. Gleitender Übergang zum neuen Regierungssystem
  • 2. Die Kontinuität in Land und Gemeinde
  • V. Der Kontinuitätsbruch von 1918
  • 1. Anfang und Ende von Staaten
  • 2. Die Republik Deutschösterreich
  • VI. Systemwechsel 1929 durch bloße Novellierung
  • VII. Die Zäsur von 1934
  • VIII. Zusammenfassung
  • Zum Charakter der ersten Grundrechtskataloge Österreichs 1848 und 1849
  • I. Die Fragestellung
  • II. Das Wesen der Grundrechte bis und in den Verfassungsdiskussionen 1848/49
  • III. Österreichs Verfassung 1848
  • IV. Der Kremsierer Grundrechteentwurf
  • V. Die Verfassung 1849
  • VI. Zusammenfassung
  • Gesamtstaat – Gouvernementsbezirke – Länder – Kreise 1848/49
  • I. Die Situation vor 1848
  • A. Der Gouvernementsbezirk
  • B. Das Land
  • II. Die Lösungen von 1848/49
  • A. Gestaltungsmöglichkeiten
  • B. Für und wider die Duplizität
  • C. Länder und Parlamente
  • D. Zusammenfassung
  • III. Unterwanderung der Länder
  • A. Die Kreise des Kremsierer Entwurfs
  • B. Die Verwaltungsorganisation 1849
  • IV. Staatsrechtliche Bedeutung der Länder
  • V. Ausklang
  • Historisches Staatsrecht in der Praxis: Österreich 1852 bis 1861/1867
  • I. Vorbemerkung: Herkunft von Verfassungsinhalten
  • II. Die neue juristische Methodik
  • III. Historische Rechtsschule und Verfassungsgestaltung
  • A. Die ersten Spuren
  • B. Die Durchführung der Verfassungsgrundsätze 1852
  • C. Der Höhepunkt des Historischen Staatsrechts 1860
  • IV. Die Reichsverfassung 1861
  • A. Eine Verfassung eigener Art
  • B. Das Historische Staatsrecht 1861
  • V. Historisches Staatsrecht und Konstitutionalismus
  • Die Habsburgermonarchie: ein mehrsprachiger Rechtsraum
  • I. Normadressaten und Sprache
  • II. Frühe Übersetzungsproblematik
  • III. Sprachengleichheit – Sprachenvielfalt
  • IV. Arten der Mehrsprachigkeit
  • A) Die Sprachen der Landesgesetzblätter
  • B) Die Sprachen in Parlament und Landtagen
  • V. Folgen der Mehrsprachigkeit
  • VI. Zusammenfassung
  • Der Grundrechtskatalog für Bosnien-Herzegowina 1910
  • A. Der institutionelle Rahmen
  • B. Vorbild 1867
  • C. Unterschiede zu 1867
  • D. Einzelne Grundrechtsbeispiele
  • E. Wesen und Wirkung
  • F. Ergebnisse
  • Kirchenstaatspläne 1916/1918: Tirol statt Liechtenstein?
  • I. „Römische Frage“ und Erster Weltkrieg
  • II. Kirchenstaat Liechtenstein 1916
  • III. Kirchenstaat Tirol 1918/19
  • IV. Zusammenhang der Kirchenstaatspläne Liechtenstein und Tirol
  • V. Zusammenfassung
  • Österreichs Länder vor und nach der Gründung der Republik 1918
  • I. Allgemeines
  • II. Das Land vor 1918
  • III. Der Gouvernementsbezirk
  • IV. Die Entwicklung gegen 1900
  • V. Die Zäsur von 1918
  • VI. Die Länder nach 1918
  • Die Spur des Ersten Weltkriegs in der österreichischen Verfassungsentwicklung
  • Die Symbolik der Berufsstände der Verfassung 1934
  • I. Der Ständestaat
  • II. Die Berufsstände und ihre Symbole
  • 1. Öffentlicher Dienst
  • 2. Freie Berufe
  • 3. Geld-, Kredit- und Versicherungswesen
  • 4. Gewerbe
  • 5. Handel und Verkehr
  • 6. Kulturelles Schaffen
  • 7. Landwirtschaft
  • 8. Industrie und Bergbau
  • III. Ideologiefreie Ständesymbolik
  • Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Österreich
  • I. Grundsätzliches
  • II. Verfassung und Rechtsordnung
  • III. Weitere Maßnahmen
  • A. Entnazifizierung
  • B. Kriegsverbrechen
  • C. Die Sondergerichtsbarkeit der Volksgerichte
  • D. Entschädigungen im weiteren Sinne
  • 1. Rückstellung
  • 2. Opferfürsorge
  • 3. Entschädigungen im engeren Sinn
  • a) Nationalfond der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus
  • b) Versöhnungsfond 2000
  • c) Der allgemeine Entschädigungsfonds
  • IV. Haltungsänderungen
  • Entwicklung des Privatrechts
  • Landrecht nach österreichischen Rechtsquellen
  • I. „Landrecht“ in Privaturkunden
  • II. Die Landrechtsbücher
  • III. Lokales „Landrecht“
  • IV. Formale Rechtskreise, materielle Identität
  • V. Zusammenfassung
  • Landesgrenzen überschreitendes Landrecht
  • I. Landrecht: Recht eines Landes?
  • II. Mehrere Landrechte – Übereinstimmung
  • III. Mehrere Länder – ein Landrecht
  • IV. Mit Gemeinem Recht zur heimischen Praxis
  • Kombinierte Rechtsbücher
  • I. Vorbemerkung
  • II. Süddeutschland mit Österreich und Böhmen
  • III. Süd- und Norddeutschland
  • IV. Östliches Deutschland
  • V. Folgerungen
  • Wein und Recht: Vom Anbau bis zum Trinken
  • I. Grundsätzliches
  • II. Besitzformen
  • III. Arbeitsverhältnisse
  • IV. Anbauregelungen
  • V. Produktionsregelungen
  • VI. Verkaufsregelungen
  • VII. Weinrechtsordnung
  • VIII. Weinwirtschaftsverwaltung
  • IX. Rechtsbezirk „Weinberg“
  • X. Ergebnis
  • Eine Pfandherrschaft Kaiser Maximilians I. im 20. Jahrhundert
  • I. Ein „historischer“ Grundbucheintrag
  • II. Eine „ältere Satzung“
  • III. Neues Rechtsdenken: Hypothek
  • IV. Der Niederschlag im Grundbuch
  • Eheschließung ohne Trauung: Das Naturrechtskonzept des ABGB und was daraus wurde
  • I. Das ABGB als Naturrechtskodifikation
  • II. Eheschließung von Katholiken
  • 1. Das Konzept des ABGB
  • 2. Die Praxis
  • III. „Staatsklugheit“ und Verordnungspraxis
  • Exkurs: Die Eheschließung Erzherzog Johanns 1823/29
  • IV. Die „Katholisierung“ des ABGB-Eherechts
  • V. Die Problematik der ABGB-Regelungen nach neuem Verständnis
  • VI. Lösungsmöglichkeiten
  • VII. Ausblick
  • Die eheliche Gütergemeinschaft im ABGB: ein Nachtrag
  • I. Legistik
  • II. Vertragspraxis
  • Österreichs Baurechtsgesetz 1912: Rechtsreform als Sozialreform
  • I. Wohnreform und Wohnreformer
  • II. Franz Klein und das Baurechtsgesetz 1912
  • 1. Recht als Reform-„Arsenal“
  • 2. Konstruktion neuer Rechtsinstitute
  • 3. Nebengesetz und Kodifikation
  • III. Rechtsvergleichendes: BGB und ZGB
  • IV. Reformziel: die Gartenstadt
  • Die Wahrnehmung von FGB und ZGB/DDR im Rahmen des DDR-Rechts in Österreich
  • I. Einleitung
  • II. Bibliotheksbestände in Wien
  • III. Wahrnehmungen von ZGB/DDR und FGB in der österreichischen Literatur
  • IV. Fachzeitschriften
  • V. Das vermittelte Wissen über ZGB/DDR und FBG
  • VI. Wahrnehmungen des DDR-Rechts in Legistik und Rechtssprechung
  • VII. Wissenschaft
  • Geschichte
  • Eisenbahn in Deutschland und Österreich: erst seit 175 Jahren?
  • Das Bergwerk: Mutter der Eisenbahn
  • I. „Eisenbahn“
  • II. Schiene – Räder - Antrieb
  • III. Die Entwicklung am europäischen Kontinent
  • IV. Besondere Einzelbeispiele
  • V. Übersee
  • Nordamerikaauswanderung: Realität und Vision
  • I. Transatlantische Kulturbeziehungen
  • II. Die Realität der deutschen Auswanderung
  • III. Auswanderermotive
  • IV. Auswandererschicksal in der Fremde
  • V. Schluss
  • Ein Autor historischer Romane?
  • Kein May in Ossiach
  • I. Aufenthalts-Behauptungen
  • II. Die Beweismittel in Ossiach
  • A. Die Glasfenster
  • B. Das Karl-May-Porträt
  • C. Renkers Begegnung mit May
  • III. Weiteres Beweismittel: Wollschlägers Biographie
  • IV. Die Gegenbeweise
  • A. Lokalgeschichte Ossiachs
  • B. Die May/Heidenreich-Korrespondenz
  • C. Mays Aufenthalte zu „Ossiach-Zeiten“
  • 1. May-Porträt: 1869
  • 2. Wollschläger: 1888
  • 3. Kärntner Tageszeitung: 1896
  • 4. Rencker: 1902
  • D. Ergebnis

| 17 →

Entwicklung des Öffentlichen Rechts

| 19 →

Die deutsche Staatlichkeit zur Zeit Goethes

Goethe wurde in Frankfurt/Main in dreierlei hineingeboren: in das zu Ende gehende Römisch-deutsche Reich, in die für dieses typische Kleinstaaterei, in die Eingriffe Frankreichs.

Das Reich verkörperte sich gerade in der Freien Reichsstadt Frankfurt/Main in besonderer Weise: Sie war Wahl- und Krönungsstätte der Römisch-deutschen Kaiser und zählte damit zu den Hauptorten des Reiches wie etwa Nürnberg als Aufbewahrungsort der Reichsinsignien oder Wien als Residenz des Kaisers1. Die Kleinstaaterei bestimmte Goethes weiteres Lebensumfeld. Da war die Freie Reichsstadt selbst mit ihrem nur sehr kleinen Territorium, dann zahlreiche angrenzende Territorien2, nämlich Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt, das Kurfürstentum Mainz, das Fürstentum Isenburg und die Grafschaft Solms, in der Nähe auch Hessen-Homburg und die Grafschaft Hanau. Frankreichs Eingriffe in die deutsche Politik hatte Goethe als Kind durch die französische Besetzung von Frankfurt/Main um 1760 hautnah miterlebt. Was dies auf Dauer bedeuten konnte spürte er zu seiner Straßburger Studienzeit im Elsaß: ein von Frankreich annektiertes Reichsgebiet. Als er 1808 Napoleon in Erfurt traf geschah dies hier auf französischem Boden, denn Erfurt bildete einen Teil Frankreichs als dessen Militärlager mitten in Deutschland.

In allen drei Facetten traten zur Lebenszeit Goethes große, ja höchst tiefgreifende Veränderungen ein. Das Reich erlebte mit dem Reichsdeputationshauptschluß 18033 eine umstürzende Verfassungsänderung im Zeichen moderner Staatlichkeit durch die Bildung großflächiger Territorien auf Kosten der Kleinstaaten: Sie wurden den sie umgebenden großen Territorien durch Mediatisierung zugeschlagen wie etwa die Reichsstädte. Dazu kam weiters die Säkularisierung der geistlichen Reichsfürstentümer, d. h. ihre Umwandlung in weltliche wie etwa Salzburgs. Eben diese Umstrukturierung führte mit der Politik der beiden deutschen Großstaaten der Hohenzollern und der Habsburger das Reichsende herbei: Gerade die neugeschaffenen Staaten wie etwa Bayern, dessen Besitzstand sich etwa verdoppelte und das 1806 zum Königreich erhöht wurde, oder das rangmäßig zum Großherzogtum beförderte Baden, dessen Gebiet sich sogar verzehnfacht hatte, sprengten ← 19 | 20 → den Reichsverband, indem sie sich 1806 zum Rheinbund zusammenschlossen und aus dem Reich austraten, worauf Kaiser Franz II. das Reich für aufgelöst erklärte, was so gut wie ohne Protest von den übrigen Reichsständen hingenommen wurde. Der Rheinbund4 trat als Organisation Deutschlands nahezu an die Stelle des Reiches, mit Preußen und Österreich als wichtigste Ausnahmen gehörten ihm schließlich alle deutsche Staaten an. Nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Staatensystems trat ab 1815 an seine Stelle der Deutsche Bund. 1833 entstand der Deutsche Zollverein als Beginn der wirtschaftlichen Einigung Deutschlands.

Was die buchstäbliche und sprichwörtliche deutsche Kleinstaaterei betraf, so gab es im Jahre 1792 305 Reichsstände5. Goethes spätere Wirkungsstätte Sachsen-Weimar-Eisenach bildete in der Gruppe der „Thüringischen Staaten“ den größten Kleinstaat. Er besaß aber keineswegs ein arrondiertes Territorium, sondern setzte sich vielmehr aus fünf Teilen in Streulage zusammen mit einigen zusätzlichen kleineren Exklaven. Derartige Situationen verstanden sich aus Teilungen einer Dynastie, wie im thüringischen Fall der Ernestinischen Linie der Wettiner, die im wesentlichen auf Grund fiskalischer Erwägungen beruhten, nämlich einer Teilung in Gebiete mit einem bestimmten Steueraufkommen. Die Streulage von Sachsen-Weimar-Eisenach führte übrigens dazu, daß es an acht weitere Reichsstände grenzte, darunter das modern strukturierte Preußen. Nach dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 reduzierte sich die Zahl der Reichsstände von 112 auf knappe zwei Drittel. Dadurch reichte das um solche vergrößerte Bayern nun von den Mainquellen bis an das nördliche Ende des Gardasees, das Großherzogtum Baden vom Bodensee bis zum Main, an Gewicht gewonnen hatten beispielsweise auch Württemberg und Hessen-Kassel.

Für Goethe war die deutsche Kleinstaaterei selbstverständlich6: „Da sitzt einer in Wien, ein anderer in Berlin, ein anderer in Königsberg, ein anderer in Bonn oder Düsseldorf, alle durch funfzig bis hundert Meilen voneinander getrennt, so daß persönliche Berührungen und ein persönlicher Austausch von Gedanken zu den Seltenheiten gehört … Nun aber denken sie sich eine Stadt wie Paris, wo die vorzüglichsten Köpfe eines Reiches auf einem einzigen Fleck beisammen sind“ (S. 540: 3.5.1827). Das klang im immer mehr nationalstaatlich denkenden 19. Jahrhundert nicht positiv. Aber Goethe sah dies anders wie 1828 sozusagen zur Blütezeit des Deutschen Bundes: „Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit ← 20 | 21 → Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin oder gar nur eine, dann möchte ich doch sehen wie es um die deutsche Kultur stände, ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht“ (S. 606: 3.12.1828). Und er führt als Beweis dafür die zahlreichen Universitäten an, die noch größere Anzahl an „öffentlichen Bibliotheken, an Kunstsammlungen und Sammlungen von Gegenständen aller Naturreiche“, auch „Gymnasien und Schulen für Technik und Industrie sind im Überfluss da“ und es gäbe „kaum ein deutsches Dorf, das nicht seine Schule hätte“, gedenkt weiters der „Menge deutscher Theater … als Träger und Beförderer höherer Volksbildung“ und betont dazu als Kontrast gerade zur Zahl der Schulen: „Wie steht es aber um diesen letzten Punkt in Frankreich!“. So wurde Goethe nahezu zum Verfechter des deutschen Föderalismus. Mit beispielhaftem Hinweis auf „Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck“, den vier Freien Städten im Deutschen Bund, folgerte er: „Würden sie aber bleiben, was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränität verlieren und irgendeinem großen deutschen Reich als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? Ich habe Ursache, daran zu zweifeln“ (S. 607: 3.12.1828).

Was das Reich anlangt, so hatte Goethe noch seinen alten Glanz miterlebt. Dazu zählte die Kaiserkrönung Josefs II. 1764. Der Pomp schien ihm überholt. Ernüchtert betrachtete er auch eine Reichsinstitution, nämlich das von ihm 1772 erlebte Reichskammergericht, wegen der langen Prozeßdauer. Neuere Forschungen7 erweisen jedoch, daß es im Durchschnitt damit nicht allzu schlecht stand, nicht bloß im Vergleich mit anderen Gerichten. Vor allem aber gewährte das Reichskammergericht ähnlich einem Verfassungsgericht Schutz gegen die Übergriffe von Obrigkeiten. In Goethes Reichskammergerichtszeit fällt übrigens die Entstehung der drei Fassungen seines „Götz von Berlichingen“ 1771 bis 1804: Das ganze Reichsszenarium entrollt sich hier vor dem Leser, für den das Stück in erster Linie gedacht war, aber natürlich auch auf der Bühne: Kaiser, Reichsritter, der Bischof von Bamberg als geistlicher Reichsfürst, aber auch das gemeine Volk der Bauernkriege. In idealisierter Weise tritt der Römische Kaiser auch in Faust/2. Teil auf.

Schon allein aus diesen Gründen konnte das Geschehen um das Reich 1806 an Goethe nicht unbemerkt vorbeigehen. Seinen Tagebucheintrag vom 7. August 1806 zitiert man gerne dafür, er habe das Reich in keiner Weise geschätzt: „Zwiespalt des Bedienten und Kutschers auf dem Bocke, welcher uns mehr in Leidenschaft versetzte als die Spaltung des Römischen Reichs“8. Allerdings war erst Tags zuvor die Reichsauflösung in Wien verkündet worden. Konnte ← 21 | 22 → Goethe bei einer Abfahrt um sechs Uhr Morgens von Hof davon überhaupt schon Kenntnis haben? Auch ist ja nicht vom Ende des Römischen Reichs die Rede, sondern von dessen „Spaltung“! Tags zuvor, also am 6. August, hatte Goethe die „Nachricht von der Erklärung des Rheinischen Bundes und dem Protektorat“9 Napoleons über denselben erreicht; das war fünf Tage nach der Rheinbundgründung am 1. August! Zu diesem Zeitpunkt hatte dieser tatsächlich noch nicht das Ende, sondern die zitierte „Spaltung des Römischen Reichs“ bewirkt. Den Rheinbund hat also Goethe im Auge, wenn er am 7. August davon spricht, der Streit „des Bedienten und Kutschers“ habe „uns“, nämlich die Passagiere in der Kutsche, „mehr in Leidenschaft versetzt“ als jenes politische Ereignis. Und dies ist aus einem weiteren Grund verständlich: Bei dem Streit handelte es sich um einen solchen von Goethes Diener mit dem Kutscher, dessen Auswirkung die Insaßen in höchste Aufregung versetzte, denn die Kutsche schlingerte hin und her und drohte umzufallen. Wen würde auch heute die Rede eines Regierungschefs im Autoradio mehr interessieren als das Schleudern seines Fahrzeugs mit der Gefahr des Umkippens? Die zitierte Stelle dazu zu verwenden, Goethe wollte damit eine Mißachtung des Reiches ausdrücken, ist von den Fakten her falsch.

Im Jahre 1808 traf Goethe, wie schon erwähnt, den Repräsentanten der neuen Staatlichkeit, Kaiser Napoleon, in Erfurt. Eine zeitgenössische Karikatur stellt den Kaiser als Bäcker dar, der von ihm neu gebackene Monarchen, als Repräsentanten neuer Staaten, aus dem Backofen holt. Das Treffen zwischen den beiden Großen verlief übrigens nichtssagend. Neu am napoleonischen Staatensystem10 war der Erlaß von Verfassungsurkunden vor allem für so unhistorische Staaten wie das Königreich Westfalen von 1807, zusammengefügt aus Teilen von insbesondere Hannover, Braunschweig, Hessen und Sachsen, unter Napoleons Bruder Jerôme als König. Hier wie auch im sozusagen neuen Bayern diente die Verfassungsurkunde vor allem als Klammer des (fast) neuen Staates: einheitliche Organisation, einheitliches Rechtswesen, einheitlicher Staatsbürgerschaftsstatus.

Wenn aber Goethe von „Verfassung und dergleichen“ sprach wie etwa 1825 (S. 114) oder 1828 von der „Freien Verfassung“ Englands (S. 592: 12.3.1828), so meinte er nicht eine Verfassungsurkunde, sondern, in der älteren Bedeutung des Ausdrucks, den Gesamtzustand eines Staates11. Sachsen-Weimar-Eisenach hatte allerdings schon 1816 eine „Landständische Verfassungs-Urkunde“ erhalten, wie ← 22 | 23 → übrigens von den habsburgischen Ländern im selben Jahr Tirol, und zwar auf Grund einer entsprechenden Verpflichtung dem Deutschen Bund gegenüber.

Mit dem Deutschen Bund als Staatenbund souveräner Staaten stand Goethes Idee von der „Einheit Deutschlands“ in Einklang. Dieses (S. 605/606: 23.10.1828) könne er sich nicht so vorstellen, daß es nur „eine einzige große Residenz“ habe. Vielmehr hielt er, wie schon erwähnt, die föderale Gestaltung Deutschlands für richtig. Die Wege zur „Einheit Deutschlands“ sah er nahezu allein durch wirtschaftliche Maßnahmen herstellbar: Die „künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige tun“, dazu eine einheitliche Währung, ein Entfall der Zollkontrollen („daß mein Reisekoffer durch alle 36 Staaten ungeöffnet passieren könne“), Einheit „in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel und hundert ähnlichen Dingen“, und es „sei von Inland und Ausland unter deutschen Staaten überall keine Rede mehr“ (S. 605: 23.10.1828). Schon 1827 wollte er „erleben, eine Verbindung der Donau mit dem Rhein hergestellt zu sehen“ (S. 515: 21.2.1827). Vieles erinnert an den Nationalökonomen Friedrich List, einen jüngeren Zeitgenossen, der – erst – 1833 die Errichtung eines deutschen Eisenbahnnetzes vorschlug und auch für einen Abbau der Zollschranken eintrat. Auch Metternich glich Goethe. Erst ab 1841 allerdings faßte er12 die Bedeutung einer wirtschaftlichen Einigung parallel zum Deutschen Bund ins Auge und initiierte im gleichen Jahr ein Programm zum Bau von Eisenbahnen von Wien nach München und Dresden einerseits, nach Triest und Mailand andererseits. Und den Ausdruck „deutsche Einheit“ ließ er nahezu im Sinne Goethes durch „deutsche Einigkeit“ ersetzen.

Was hatte Goethe von seinen Visionen noch erlebt? Der Bau der ersten Fernbahn im damaligen Deutschland, dem Deutschen Bund, von Linz/Donau nach Budweis fiel in die Jahre 1825 bis 1830, die erste Fahrt dieser mit Pferden betriebenen Bahn erfolgte am 1. August 1832, gute vier Monate nach Goethes Tod. Die nächste und – in Hinblick auf die eben genannte Bahn – angeblich erste deutsche Eisenbahn Nürnberg – Fürth 1835 und die Fernbahn Leipzig – Dresden 1837/39 erlebte Goethe also nicht. Nicht erlebte er auch den ersten Main-Donau-Kanal, den Ludwigs-Kanal von 1836. Aber geraume Zeit vor seinem Tod, nämlich 1828/ 29, entstand der Mitteldeutsche Handelsverein unter Teilnahme auch Sachsen-Weimar-Eisenachs, der über die Mitglieder Kurhessen und Hannover Zugang zur Nordsee gewann13.

In Goethes Lebenszeit fallen viele und tiefgreifende Umbrüche der europäischen Staatenwelt – das ist der objektive Befund. Was aber die subjektive Wahrnehmung anlangt, so ist es sicherlich ein Irrtum der Historiker, zu glauben, Zeitgenossen hätten das, was sie, die Historiker, für wichtig halten, ebenso zur Kenntnis nehmen oder sich gar daran aktiv beteiligen müssen. So fallen ← 23 | 24 → beispielsweise in das – objektiv wichtige – Jahr des Reichsendes 1806 die – subjektiv bedeutsamen – Ereignisse von Goethes Heirat und der Fertigstellung von Faust 1. Teil. Daher meint Goethe zur französischen Revolution von 183014: „Ein paar Verse, die ich zu machen habe, interessieren mich mehr als viel wichtigere Dinge auf die mir kein Einfluß gestattet ist, und wenn ein jeder das gleiche tut, so wird es in der Stadt und im Hause wohl stehen“.


Aus: H. Zeman (Hg.), Jahrbuch der Österreichischen Goethe-Gesellschaft 114/115/114 Wien 2013, 103 ff.

1 U. a. W. Brauneder, Haupt- und Residenzstadt, in: ders., Studien IV, Frankfurt/Main 2011, S. 105 ff.

2 Zur historischen Staatenlandschaft siehe Geschichts-Atlanten.

3 H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte II, Karlsruhe 1966, S. 56 ff.; W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 11. Aufl., Wien 2009, S. 97, 109.

4 Zum Folgenden Conrad, wie Fn. 3, S. 60 ff.

5 G. Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches (dtv), München 1974, S. 137 ff.; Sachsen-Weimar-Eisenach: Geschichts-Atlanten.

6 Seitenangaben im Text beziehen sich auf R. – P. Wersig (Hg.), Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe, Berlin – Weimar 1982.

7 Vgl. A. Laufs, Reichskammergericht, in: A. Erler – E. Kaufmann (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG) IV, Berlin 1990, Sp. 655 ff.

8 K. Eibl (Hg.), Johann Wolfgang Goethe II. Abt./Bd. 6, 1993, 75; z. B. bei P. Sethe, Geschichte der Deutschen, 1962, 168, zu „Das Ende des Reiches“.

9 Eibl, wie Fn. 8, 74.

10 H. Brandt – E. Grothe, Rheinbündischer Konstitutionalismus, Frankfurt/Main etc. 2007.

11 W. Brauneder, Verfassung, in: Enzyklopädie der Neuzeit XIV, Stuttgart – Weimar 2011, Sp. 62 ff.

12 H. v. Srbik, Metternich II, München 1925, S. 103 ff., 109.

Details

Seiten
296
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653059946
ISBN (ePUB)
9783653950779
ISBN (MOBI)
9783653950762
ISBN (Hardcover)
9783631666500
DOI
10.3726/978-3-653-05994-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Verfassungsgeschichte Kirchenstaat Trivialliteratur Verwaltungsgeschichte Privatrechtsgeschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 296 S.

Biographische Angaben

Wilhelm Brauneder (Autor:in)

Wilhelm Brauneder ist Verfasser zahlreicher Publikationen zur Rechts- und Verfassungsgeschichte (Österreichische Verfassungsgeschichte, Europäische Privatrechtsgeschichte). Bis zur Emeritierung war er Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät.

Zurück

Titel: Studien V: Entwicklungen des Öffentlichen und Privatrechts II
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
296 Seiten