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Studien zur «Biblia pauperum»

von Hanna Wimmer (Band-Herausgeber:in) Malena Ratzke (Band-Herausgeber:in) Bruno Reudenbach (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 191 Seiten
Reihe: Vestigia Bibliae, Band 34

Zusammenfassung

Die Handschriften der um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen Bibelbearbeitung, die als Biblia pauperum bezeichnet wird, enthalten nicht einen fortlaufenden Text, sondern eine Folge von Bildern alt- und neutestamentlicher Ereignisse, die mit biblischen und exegetischen Texten kombiniert sind. Die «Studien zur Biblia pauperum» befassen sich mit dem allgemeinen Anlagekonzept dieser typologisch angelegten Folge, vor allem aber mit einer Analyse der Seitendispositionen und der damit immer wieder neu organisierten Anordnung von Bildern und Texten sowie mit der exemplarisch an einer Handschrift untersuchten Praxis des Umschreibens und Weiterbearbeitens der Texte. Die damit vorgeführte Vielfalt an Erscheinungsformen und das darin erkennbare kreative Potenzial verbieten es, die Geschichte der Biblia pauperum wie bisher als Abkehr von einem verbindlichen Ursprungskonzept und als Verfallsgeschichte zu lesen. Vielmehr wird in diesen Studien die handschriftliche Überlieferungsgeschichte als ein dynamischer Prozess permanenter Neugestaltung und -interpretation erkennbar.

Inhaltsverzeichnis


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BRUNO REUDENBACH

Heilsgeschichtliche Sukzession und typologische Synopse in Manuskripten der Biblia pauperum

Et sic scriptura est longissima quia in tractando incipit a mundi et temporis exordio in principio genesis et pervenit usque ad finem mundi et temporis scilicet in fine apocalypsis. […] Et quia nullus homo tam longaevus est quod totam possit videre oculis carnis suae nec futura potest per se praevidere providit nobis spiritus sanctus librum scripturae sacrae cuius longitudo commetitur se decursui regiminis universi.

[Die hl. Schrift ist deshalb von so großer Länge, weil sie am Anfang der Genesis die Darstellung mit dem Anfang der Welt und der Zeit beginnt und bis zum Ende von Welt und Zeit, bis zum Schluss der Apokalypse reicht. […] Und weil kein Mensch so lange lebt, dass er das Ganze mit den Augen des Fleisches überblicken und auch nicht die Zukunft vorhersehen kann, hat uns der Heilige Geist das Buch der Heiligen Schrift geschenkt, deren Länge sich nach dem Lauf des Regiments der Welt bemisst.]1

Mit diesen Worten formuliert um die Mitte des 13. Jahrhunderts Bonaventura (1217/18−1274) in seinem Breviloquium den Zusammenhang zwischen der Bibel als Buch und der Vorstellung von Zeit und Geschichte, wie sie den biblischen Texten zugrunde liegt und wie sie schon lange vor Bonaventura die Kirchenväter erkannt hatten.2 Die in der Bibel gegründete Geschichtskonzeption, die in den biblischen Erzählungen Weltgeschichte als Heilsgeschichte entworfen sieht, wird von Bonaventura explizit und mit rigoroser Direktheit zur Kongruenz von Buch und Welt zugespitzt. Das programmatische In principio, mit dem der erste Vers des Buches Genesis beginnt, ist der Anfang der Schöpfungserzählung, die die göttliche Weltordnung, die Disposition der Welt in Himmel und Erde, Licht und Finsternis darlegt. Als Zeitbestimmung ist das In principio zugleich der Anfang der Geschichte, die nach dem göttlichen ← 9 | 10 → Heilsplan verläuft.3 Im Buch der Heiligen Schrift ist er durch die Korrespondenz von Anfang und Ende artikuliert. Die Vision des Johannes von der himmlischen Stadt, die sich am Weltende auf die Erde herabsenkt, ist mit Blick auf den Anfang, auf Genesis 1,1 gestaltet: dem »creavit caelum et terram« des Anfangs wird das »vidi caelum novum et terram novam« (Apoc 21,1) am Ende gegenüber gestellt. Diese Korrespondenz und Kongruenz von Weltanfang und -ende mit Buchanfang und -ende ist für die Überlieferungs- wie für die Illustrationsgeschichte der Bibel von kaum zu überschätzender Bedeutung.

Schon Beda Venerabilis (672/73−735) verstand die Genesis als einen Urprolog und sah im Anfang der Welt auch aller Bücher Haupt und Anfang (»omnium librorum caput«). Damit rückten für ihn auch Struktureigenschaften der Bibel in den Blick, die letztlich wiederum das heilsgeschichtliche Konzept artikulieren: Die Aufteilung der scriptura divina in Altes und Neues Testament und die verschiedenen Modi der Texte, die Geistiges darlegen (»interna intimantur«), Ereignisse erzählen (»facta narrantur«) und Zukünftiges ankündigen (»futura pronuntiantur«).4

Auch ohne dass die Vielfalt der in den biblischen Texten versammelten Autoren, Kulturen und Gattungen zu einer Einheit homogenisiert worden wäre – insgesamt wurde diese über Jahrhunderte gewachsene Textsammlung demnach dennoch als Ausweis einer Geschichtskonzeption verstanden, die auch die christliche Vorstellung von Zeit und Geschichte begründete. Augustinus wandte sich in De civitate Dei gegen die philosophi, die »ohne Aufhören einen Kreislauf der entstehenden und vergehenden Zeitalter« behaupteten. Er zitierte dazu Ps 11,9: »In circuitu impii ambulant« − Im Kreise wandeln die Ungläubigen.5 Das christliche Geschichtsbild setzte nicht auf das zyklische Denken der impii, sondern auf die via recta der Linearität. Sie ist ausformuliert in der Aufeinanderfolge der biblischen Texte vom Anfang der Genesis bis zum Ende der ← 10 | 11 → Apokalypse, vor allem in den narrativen Büchern, die den Weg des Volkes Israel im Alten Testament nachzeichnen, im Neuen Testament die Wege Jesu durch Palästina und in der Apostelgeschichte die Missionsreisen der Apostel im Wechsel von Zeitstrecken und punktuellen Heilsereignissen schildern. Zwischen dem von Gott gesetzten Anfang und Ende entfaltet sich der göttliche Heilsplan, die Ereignisfolge der Heilsgeschichte, einzigartig und irreversibel.6

Diese Dimension der biblischen Texte war auch für die Illustrationsgeschichte der Bibel schon von deren Anfängen an von größter Bedeutung. Zwar erscheint die Überlieferung der illustrierten spätantik-frühchristlichen Manuskripte mit biblischen Texten ebenso lückenhaft wie zufällig.7 Umso aufschlussreicher ist es aber, dass die nur fragmentarisch belegte frühe Illustrationspraxis dennoch zu erkennen gibt, wie gerade durch Illustrationen und Illustrationszyklen und durch deren Ort im Anlagekonzept einzelner Manuskripte die Textkompilation der Bibel als kohärentes Geschichtsbuch ausgewiesen wurde. Man kann dazu allgemein auf den in den frühchristlichen Bibelillustrationen dominierenden Bildmodus des kontinuierenden Erzählens hinweisen, wie er z. B. im 6. Jahrhundert in der Wiener Genesis oder im Codex Rossanenesis vorgeführt wird, ein Bildmodus, der die Handlung nicht in einer Folge getrennter Einzelbilder, sondern in horizontalen Bildstreifen als ein fließendes Erzählkontinuum ohne strikte Szenentrennung entfaltet und somit visuell die Kontinuität einer Ereignisfolge stark macht. Wie Bild- und Textseiten im Codex Rossanensis ursprünglich angeordnet waren, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen; vielleicht waren die Bildseiten zu einem vom Text separierten eigenständigen Bildzyklus zusammengestellt.8 Im frühen Mittelalter ist ein derartiges Illustrationsverfahren jedenfalls etabliert und wird zur Entfaltung einer Art bildlicher Evangelienharmonie genutzt. Gerade die vier Evangelien bedeuten ja für die Vorstellung von der Bibel als einer linearen und irreversiblen Erzählung von Heilsgeschichte insofern ein Problem, als sie die Vita des Erlösers vier Mal schildern, die Erzählung also vier Mal neu ansetzt und damit eigentlich den linearen Ablauf des Geschichtsweges bricht.

Im Codex aureus aus Echternach (um 1030) hat man jedem Evangelium einen Bildzyklus von zwei Doppelseiten mit Szenen aus den Evangelien ← 11 | 12 → vorangestellt, auf den Evangelistenbild, Initialseiten und aufwändig gestaltete Textanfangsseiten folgen.9 Die Auswahl der Szenen ist dabei so getroffen, dass die Bildseiten zwar auf die vier Evangelien verteilt sind, aber dennoch das Leben Jesu zusammenhängend und ohne Wiederholung erzählen, indem sie einen Bogen schlagen von der Verkündigung am Anfang der Bildseiten vor dem Matthäusevangelium bis zu Himmelfahrt und Pfingsten als letzten Szenen vor dem Johannesevangelium.10 Die vier Illustrationsfolgen lassen also unberücksichtigt, dass die Vita Christi in den vier Evangelien jeweils neu erzählt wird. Sie schaffen stattdessen eine die Evangelien vereinende kontinuierlich angelegte Narration, mit einer Bildfolge zur Kindheit Jesu vor dem Matthäusevangelium, auf die die Wunder und dann die Gleichnisse vor dem Markus- und Lukasevangelium folgen und die von Passion, Himmelfahrt und Pfingsten vor dem Johannesevangelium abgeschlossen wird. Ein derartiges Bildprogramm nimmt die Zuschreibung der vier Evangelistensymbole an Inkarnation, Tod am Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt variiert auf.11 Im Codex aureus ist die die Evangelien vereinende Bilderzählung dabei auffällig dem Modus des linearen Lesens, Zeile für Zeile und Seite für Seite angeglichen, mit auf jeder Seite drei horizontalen Bildstreifen und einem darüber jeweils einzeiligen gerahmten Bildtitulus. Die Bilder überschreiben die vierfache Wiederholung der Vita Christi durch eine kohärente Bilderzählung, die im visuellen Modus eines linear und zeilenweise präsentierten Textes den geschriebenen Text der vier Evangelien überformt und visuell markant auf die Sukzession des Heilsweges verpflichtet.

Blickt man nun nochmals zurück auf die frühchristlichen Anfänge der Bildausstattung von Manuskripten mit biblischen Texten, dann zeigt sich, dass in der lückenhaften Überlieferung neben Bildern im Modus der Erzählung auch überraschend häufig diagrammatische Bilder vertreten sind, mit denen Einheit und Harmonie der biblischen Textkompilation ausgewiesen werden. Der Codex Rossanensis enthält beispielsweise ein heute auf fol. 5r platziertes, ganzseitiges Kreisdiagramm, das in den Hauptachsen Medaillonbildnisse der vier Evangelisten zeigt und das durch seine Beschriftung explizit als Darstellung der Harmonie der Evangelien zu verstehen ist (Abb. 1).12 Im Codex Amiatinus (um 700) wird ← 12 | 13 → anhand von drei Diagrammen die Vorstellung verschiedener Autoren zur Aufteilung der Heiligen Schrift in Altes und Neues Testament und in die biblischen Bücher erläutert. Bei allen drei Diagrammen aber dient als Ausgangspunkt ein Medaillon an der Spitze, das jeweils eine der drei Gestalten der Trinität zeigt. So wird deutlich, dass trotz der durch die Diagramme erläuterten Unterschiede die Heilige Schrift nur den einen Ursprung im trinitarischen Gott hat.13

Details

Seiten
191
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783035109269
ISBN (ePUB)
9783035196986
ISBN (MOBI)
9783035196979
ISBN (Hardcover)
9783034320597
DOI
10.3726/978-3-0351-0926-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Biblia pauperum Typologie Geschichte des Buches Kodikologie Layout Mittelalter Bibel Bibelillustration Bibelübersetzung
Erschienen
Bern, Bruxelles, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2016. 191 S.

Biographische Angaben

Hanna Wimmer (Band-Herausgeber:in) Malena Ratzke (Band-Herausgeber:in) Bruno Reudenbach (Band-Herausgeber:in)

Hanna Wimmer ist Juniorprofessorin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg und Mitglied des Sonderforschungsbereichs 950 – Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa. Malena Ratzke studierte Germanistik und Kunstgeschichte; derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilfach Ältere Deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Hamburg. Bruno Reudenbach ist Professur für Kunstgeschichte am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg, Wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Bibel-Archivs, Hamburg, und Mitglied des Sonderforschungsbereichs 950 – Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa.

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