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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹

Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938

von Primus-Heinz Kucher (Band-Herausgeber:in) Rebecca Unterberger (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 462 Seiten
Open Access
Reihe: Wechselwirkungen, Band 22

Zusammenfassung

Die Oktoberrevolution von 1917 und die Gründung der Sowjetunion zog politisch-ideologisch wie kulturell-künstlerisch im deutschsprachigen Raum hohe Aufmerksamkeit auf sich und polarisierte die intellektuelle Öffentlichkeit. Insbesondere in der Ersten Republik bzw. im ›Roten Wien‹ stießen manche ihrer Impulse auf Resonanz, andere auf dezidierte Zurückweisung. Auch im bürgerlichen Kunst- und Literaturbetrieb, zum Beispiel dem der Musik, des Theaters oder des Films wurden (sowjet)russische Entwicklungen wahrgenommen und diskutiert. Der Band widmet sich solchen Rezeptionsbeziehungen, arbeitet ihre zum Teil erstaunliche Resonanz heraus, verortet sie in zeittypischen Diskursen wie dem des Aktivismus, der Theater- und Musikavantgarde, aber auch, kontrastierend-komplementär, dem des zeitgenössischen Amerika-Diskurses.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitende Überlegungen
  • 1. „… alles Bedeutsame kommt aus Berlin oder Moskau“?
  • a. Aspekte einer spezifisch österreichischen Russland-Rezeption
  • Höhepunkte der österreichisch-sowjetischen Kulturkontakte 1918–1938
  • Die neuen „Russophilen“: Robert Müller, Heimito von Doderer, Joseph Roth und ihre Auseinandersetzung mit Russland
  • Zwischen spätexpressionistischer Revolutionsbegeisterung und (neu)sachlichen Berichten:
  • Ernst Fischers Auseinandersetzung mit der Oktoberrevolution und der jungen Sowjetunion in literarischen, essayistischen und filmkritischen Texten
  • „… zwischen der nüchternen Phantastik des Ostens und der phantastischen Nüchternheit des Westens“:
  • b. Russland-Reisen
  • Eine Frau erlebt den roten Alltag.
  • Die „schöne neue Welt“ des Sowjetimperiums in Joseph Roths Reportagenreihe „Reise in Rußland“
  • Geist und Gesicht des Bolschewismus – Deutungsmuster und Rezeptionslinien in René Fülöp-Millers Reisereportage von 1926
  • 2. Kunst- und Kulturtransfer
  • a. Theater und Musik
  • Joseph Gregors sowjetische Reise und Das russische Theater
  • „Entfesseltes Theater“ und „Blauer Vogel“.
  • Zur Rezeption des sowjetrussischen Theaters in der österreichischen Sozialdemokratie
  • „… bald heulen Sirenen ihr Lied“: Max Brands Oper Maschinist Hopkins aus der Perspektive der russischen Avantgarde
  • Wechsel-Wirkungen: Russische Musik im Wiener Verlag Universal-Edition in den 1920er und 1930er Jahren
  • b. Architektur, Bildende Kunst und Film
  • „Das sollen Würmer sein? Lächerlich!“
  • Otto Rudolf Schatz – Die produktive Verbindung von Neuer Sachlichkeit und Proletkult
  • Neues Bauen in einem Neuen Wien?
  • c. Literatur
  • Revolution und Literatur. Russland-Diskurse in der Zeitschrift Sowjet
  • „Hört Moskau!“ Russische Literatur in der Roten Fahne
  • „Endlich unser Vaterland, Sowjetrußland“
  • Schreiben zwischen Fakten und Fiktion?
  • Weiblichkeit – Macht – Literatur: Das Bild Katharinas der Großen in der Literatur, im Theater und in der Filmkunst der 1920er und 1930er Jahre
  • Abbildungsverzeichnis
  • Die Beiträgerinnen und Beiträger
  • Über die Autoren

Einleitende Überlegungen

Dass die Oktoberrevolution von 1917 mit ihren gesellschaftlich-ideologischen Projekten, ihren sozialrevolutionären Utopien, ihrer kulturell-künstlerischen Ausstrahlung, aber auch mit ihren politischen Gefährdungspotentialen in der 1918–19 ebenfalls von revolutionärer Umgestaltung geprägten (deutsch-)österreichischen Republik mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde, liegt auf der Hand. Seit den auch an der bolschewistischen Bewegung inspirierten Streikwellen in den Industrieregionen rund um Wien, Wiener Neustadt und Mährisch-Ostrau im Jänner 1918, dem sich Teile der Armee und der Marine (in Pola und Cattaro) anschlossen, waren die politischen Eliten herausgefordert, sich mit neuen Realitäten und Perspektiven auseinanderzusetzen. Noch vor dem Ende des Weltkrieges kam es daher zu Kontakten und informellen Vereinbarungen zwischen der kaiserlich-königlichen Regierung und dem sozialdemokratischen Parteivorstand. Einerseits zielten diese auf eine Eindämmung der revolutionären Fermente, um der Regierung den Rücken freizuhalten, andererseits eröffneten sie der österreichischen Sozialdemokratie Möglichkeiten, das Instrument der Arbeiter- und Soldatenräte als parallele Strukturen zu den etablierten Parteieinrichtungen vorzubereiten.1

Der Aufbau eines Netzwerks von Vertrauensleuten in der Wiener Garnison durch Julius Deutsch ab Oktober 1918 sowie die Gewinnung Friedrich Adlers für den Räte-Gedanken trug maßgeblich dazu bei, dass der revolutionäre Übergang vom habsburgischen Österreich in die Erste Republik im November 1918 ohne Straßenkämpfe, ohne militärisch-polizeiliche Repression und bürgerkriegsartige Eskalation verlaufen konnte. Er war somit durchaus atypisch, wenn auch nicht minder revolutionär. Es handelte sich dabei um eine im zentraleuropäischen Raum einzigartige wie in mehrfacher Hinsicht subversive Allianz aus tendenziell gegenläufigen Konzepten: aus dem revolutionären Räte-Gedanken und dem letztlich evolutionären austromarxistischen Demokratiebegriff. Auf der ersten und zweiten Reichskonferenz der Arbeiterräte im März beziehungsweise im Juni 1919 gelang es nämlich der österreichischen Sozialdemokratie, ←9 | 10→ihren Führungsanspruch auf diesem Feld in demokratisch offener Abstimmung eindrucksvoll zu bekräftigen. Max Adler, führender Theoretiker des Austromarxismus, steckte in seiner Broschüre Demokratie und Rätesystem (1919) dabei die Grenzen klar ab. Gestärkt durch das Wahlergebnis, das den Sozialdemokraten einen über 90-prozentigen Vertretungsanspruch zugestand, wies er die radikaleren politischen Forderungen der KP-Fraktion in Schranken, die auf nur knapp fünf Prozent gekommen war. Freilich musste die österreichische Sozialdemokratie auf einem zentralen ideologisch-ökonomischen Konflikt-Feld, dem der von ihr angestrebten Sozialisierung der Schlüsselindustrien, noch im Lauf des Jahres 1919 eine herbe Niederlage zur Kenntnis nehmen.

Vor diesem Hintergrund ist daher in Erinnerung zu rufen, dass – so auch der Rechtsphilosoph Hans Kelsen – durch den revolutionären Akt des Bruches zur monarchischen Staatstradition bereits vor Kriegsende (!) und durch die eingerichtete provisorische Regierung der Republik (Deutsch-)Österreich2 trotz Adaption alter Verfassungsbestände realpolitisch auch Elemente sowjet-bolschewistischer Strukturen (Arbeiter- und Soldatenräte), allerdings im Verbund mit sozialdemokratischen Politstrategien, zum Tragen gekommen sind. Manche Umstände der Genese der Ersten Republik weisen daher, was konservativ-katholische Programmzeitschriften bald aggressiv anprangerten,3 Parallelen zum sowjetrussischen Modell und zugleich konkurrierende Perspektiven demokratischer Staatswerdung zu ihm auf – und zwar schon seit Ende 1917: Letzteres belegen auch mehrere, meist anonym gezeichnete Beiträge von Otto Bauer in der Arbeiter-Zeitung beziehungsweise seine unter dem Pseudonym Heinrich Weber veröffentlichte Broschüre Die russische Revolution und das europäische ←10 | 11→Proletariat (1917).4 Im Bewusstsein der austromarxistischen Protagonisten der Debatten von 1918–1919 hatte dies eine andere Haltung dem entstehenden Sowjet-Russland gegenüber zur Folge, als zum Beispiel in der deutschen Sozialdemokratie, eine Haltung, die sich auf einen hegemonialen Vertretungsanspruch im linken Spektrum stützen konnte. Sie schloss nämlich Aspekte und Forderungen mit ein, die in der revolutionären Umbruchphase in Deutschland ausschließlich von der KPD, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und den von ihr dominierten Räte-Gruppierungen verfochten wurden. Sichtbar wurden diese vor allem in den Debatten über die Funktion der Arbeiter- und Soldatenräte, über deren Rolle im Hinblick auf den Aufbau des Sozialismus sowie im Kontext der Frage der Gewalt als politische Strategie, wo sich die Positionen entscheidend auseinanderentwickelten. Letzteres zeigte sich zum Beispiel im März 1919 im Zuge der Aufforderung Bela Kuns an die österreichische Arbeiterschaft sehr deutlich. Kuns Ansinnen, auch Österreich zu einer Rätediktatur nach ungarischem Vorbild zu bewegen, wurde nach kurzen kontroversen Diskussionen abgelehnt und mit negativen Einschätzungen der Realisierbarkeit einer „Diktatur des Proletariats“ begründet. Die Programmzeitschrift Der Kampf bietet hierzu 1919–20 ein Reihe instruktiver Beispiele, und die Berichterstattung in der Tagespresse, einschließlich der liberal-bürgerlichen, zeigt an, wie umkämpft dieses Terrain war und welche Präsenz es hatte. So legten recht unterschiedliche Repräsentanten des (links-)sozialdemokratischen Spektrums wie Max Adler und Therese Schlesinger 1919 Beiträge vor, die zum einen den Rätegedanken als wichtige Perspektive im Prozess der Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse anerkannten. Zum anderen zogen sie freilich in der Frage der Gewaltanwendung eine scharfe Trennlinie zu allen Versuchen, diese durch putschartige, nicht durch eine Mehrheit innerhalb der Arbeiterbewegung getragene Bewegung zu erlangen. Auch bürgerliche Künstler wie Adolf Loos und Arnold Schönberg wirkten an den Richtlinien für ein Kunstamt 1919 prominent mit, wenngleich sie sich später von ihren Sozialisierungsprojekten ←11 | 12→wieder distanzierten.5 Ähnliche Positionen, von Max Adler und Franz Blei inspiriert, vertrat Hermann Broch 1919–20 in seinem Essay Konstitutionelle Diktatur als demokratisches Rätesystem, in dem er sogar eine Teilung der Macht zwischen Parlament und Rätesystem als Denkmöglichkeit in Erwägung zog.6 Adler wiederum bekräftigte die austromarxistischen Trennlinien in seinem Nachruf auf Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, denen er mit Respekt Reverenz erwies, nicht ohne kritisch anzumerken, dass die Diktatur des Proletariats, die er 1919 keineswegs als Option ausschloss, „nur Werk der ganzen Klasse des Proletariats sein kann“.7

Rezeptionsgeschichtlich, aber auch kulturtheoretisch gesehen ergaben sich somit andere, partiell kompatibel wirkende, partiell schärfer in Konkurrenz stehende Wechselbeziehungen zwischen sowjetisch-russischen Konzepten und österreichischen (nicht nur) austromarxistischen Interessenslagen. In der ←12 | 13→politischen Semantik der Ersten Republik waren jedenfalls Begriffe wie „Rätesystem“, „Revolution“ oder „Diktatur des Proletariats“ – Schlüsselbegriffe der russisch-sowjetischen Oktoberrevolution – bis in das Jahr 1920 hinein hochaktuell und keineswegs ausschließlich von der kommunistischen Publizistik besetzt. Das belegen für 1919 mehrere Leitartikel und die breite Berichterstattung zu den Reichskonferenzen der Arbeiterräte in der Arbeiter-Zeitung, aber auch im (als liberal-kapitalistisch geltenden) Neuen Wiener Tagblatt und selbst in der Christlichsozialen Arbeiter-Zeitung, dort jedoch mit akzentuierter Polemik gegen die Institution der Arbeiterräte, die unter anderen als „Verbrechen an der Demokratie“ […] und als „Ende der geistigen und wirtschaftlichen Kultur“ denunziert wurden.8 Die Rote Fahne konnte zunächst nur mit Sektionsberichten, Nachrichten aus Deutschland und einem einzigen Grundsatzbeitrag („Kommunistische und sozialdemokratische Diktatur“, August 1919) dagegenhalten.9

Auch in der Bewertung von Lenin, um einen weiteren Aspekt anzusprechen, zeigen zum Beispiel die Nachrufe auf seinen Tod eine erstaunliche Bandbreite. Namhafte Exponenten der österreichischen Sozialdemokratie wie etwa Otto Bauer würdigten zur Überraschung mancher LeserInnen Lenins „historische Größe“, während andere Stimmen eher die tagespolitischen Deutungsmuster (‚Spalter‘ der Arbeiterklasse, Diktator und andere mehr) übernahmen. Daraus ergab sich in der Folge für einen Schriftsteller und Kritiker wie Ernst Fischer ein anregender Gestaltungsraum, auf den Jürgen Egyptien ausdrücklich hinweist.10 Auch im Nachhall zur Revolutionserinnerung an 1917/18 legten ←13 | 14→prominente Austromarxisten wie Friedrich Adler immer wieder Präzisierungen ihrer Ansichten zur Sowjetunion und ihrer Entwicklung vor. Im Zuge der Durchsetzung stalinistischer Ideologeme und Praktiken wie zum Beispiel jenem des ‚sozialistischen Realismus‘ oder im Umfeld der Auftritte von Tretjakow in Österreich entzündeten sich in der Programmzeitschrift Der Kampf, in der AZ und in der Roten Fahne ebenfalls neue Debatten, die auch Aspekte der Frauen- und Geschlechterfrage einschlossen.11 Umso überraschender ist es, sowohl in der Geschichtsforschung als auch in kulturwissenschaftlichen Studien kaum über umfassende, die Komplexität und Vielzahl zeitgenössischer Quellentexte, wechselseitiger Bezugnahmen und Rezeptionsbeziehungen aufarbeitende Darstellungen zu verfügen, die über generalisierende Einschätzungen hinausreichen, wenngleich hier in den letzten Jahren bemerkenswerte Fortschritte erzielt werden konnten.12

Das Interesse für Russland speiste sich aber nicht nur aus dieser spezifischen österreichischen politisch-ideologischen Konstellation mit strukturell verwandten Optionen und doch grundlegend anderen Entwicklungen 1918–19, sondern auch aus einem intensiven Konkurrenz- und Begegnungsverhältnis seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das primär (macht-)politischer, aber auch kulturpolitischer Natur war. Schärfere Konturen nahm dieses Verhältnis an, seitdem die nationale Frage angesichts ihrer Radikalisierung in den slawischsprachigen Territorien der Donaumonarchie, verbunden mit den Balkankriegen von 1912, zu einer Überlebensfrage beziehungsweise einer zunehmend unlösbaren Frage sich zugespitzt hatte und seitdem zum Beispiel das plurislawisch-plurikulturelle Galizien zu einem Auffang- und Durchgangsraum für russisch-jüdische Flucht- und Emigrationsströme seit 1900 geworden war. Auch unter nichtslawischen Intellektuellen und Künstlern aus dem galizisch-polnischen, ungarischen ←14 | 15→und deutschsprachigen Raum entwickelte sich eine besondere Aufmerksamkeit und Sensibilität, verbunden mit einer sprachlich vielgestaltigen Presse-Landschaft in Wien, Prag, Lemberg oder Czernowitz und einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit beziehungsweise Rezeption von russischen Themen in literarischen Texten, aber auch in anderen Künsten. Man denke hier nur an so unterschiedliche Autoren wie Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal oder Robert Musil mit ihren einschlägigen Tagebuchnotizen oder Kritiken, an Hermann Broch, Heimito von Doderer, Rudolf J. Kreutz, Robert Müller, Leo Perutz, Joseph Roth oder Stefan Zweig mit ihren essayistischen und narrativen Texten,13 ferner an Otto Heller, Leo Lania, Fritz Rosenfeld, Arthur Rundt beziehungsweise an Lili Körber mit filmisch interessanten Rezeptionszeugnissen oder authentischen Russland-Berichten. Bei aller Differenz vereint sie das Faktum, in verschiedenen Phasen ihrer schriftstellerischen Arbeit russische Themen unter mitunter erstaunlich „russophilen“ Perspektiven exploriert, kritisch rezipiert beziehungsweise dargelegt zu haben.

Man wird also die These formulieren dürfen, dass ein kulturwissenschaftlich unvoreingenommener Blick auf Österreich in der Zwischenkriegszeit um die vielfältigen Kulturtransfer- und Rezeptionsbeziehungen mit Russland nicht umhinkommen kann. Außerhalb des im engeren Sinn Politischen, aber auch nicht völlig ablösbar von ihm, sind daher nicht nur die bereits angesprochenen Interessenslagen bürgerlicher AutorInnen und KünstlerInnen zu sehen, sondern vor allem jene, die sich auf Verbindungen von revolutionärer Umgestaltung und revolutionär-avantgardistischer Kunst fokussierten, um zum Beispiel an Aspekten wie Funktionalismus, Rhythmus oder Maschinenkunst neue Wege ←15 | 16→einer Verknüpfung von Kunst und Leben auszuloten. Man denke hier nur an die Methode der Sozial- und Bildstatistik von Otto Neurath, die unter anderen von Begegnungen mit El Lissitzky mitinspiriert worden ist und auf diesen Eindruck gemacht haben muss, wie nachfolgende Kontakte und ein Besuch El Lissitzkys im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum 1928 in Wien nahelegen.14

Mit El Lissitzky ist neben Marc Chagall, Kazimir Malevič (gem. offiz. Transliteration) und insbesondere Vladimir Tatlin einer der Hauptvertreter des russischen Konstruktivismus mit angesprochen. Dieser wurde in Wien erstmals im Zuge eines Lichtbildervortrags im November 1920 einem zwar kleinen, aber interessierten Kreis präsentiert und ab 1921 wiederholt in der von Lajos Kossuth herausgegebenen Zeitschrift MA der ungarischen Exil-Avantgarde in Österreich thematisiert.15 1921 ist auch das Buch Drei Monate in Sowjet-Russland des aus Budapest gebürtigen Arthur Holitscher bei S. Fischer erschienen, das naturgemäß, vor allem mit Bezug auf monumentale Bau-Skulptur-Projekte Tatlins in St. Petersburg und Moskau, in Wiener Zeitungen rezipiert und kommentiert worden ist.16 Im selben Jahr hat auch Fritz Karpfen, vormaliger Miteigentümer des Genossenschaftsverlags und an mehreren expressionistisch-aktivistischen Zeitschriften-Unternehmungen (Daimon, Aufschwung, Ver! oder am Verlag der Revolution) beteiligt, sein Buch Gegenwartskunst. Rußland vorgelegt, womit zeitgleich zur Rezeption durch MA auch für österreichische, des Ungarischen nicht ←16 | 17→mächtige Kunstinteressierte einige der neuesten russischen Beiträge aus dem Umfeld der kubo-futuristischen Abstraktion zugänglich wurden.

Karpfen widmete sich in seinem schmalen, aber kompakten Band insbesondere dem kubistischen Bildhauer, „Bahnbrecher“ und frühen Emigranten Alexander Archipenko, ferner Marc Chagall, „der größte Künstler der russischen und einer der hervorragendsten der Gegenwartskunst überhaupt“, der Bewegung des Suprematismus sowie dem Expressionisten Alexej Javlenskij, auch Mitglied der Redaktion des Blauen Reiters. Kunst wurde dabei grundsätzlich in die Zeit positioniert: „Die Kunst der Zeit ist Emporstreben, Sturm, Aufschrei, Empörung, Umsturz, Revolution“.17 Im Fall Malevič, die „logische Fortentwicklung Kandinskijs ins Abstrakte“, zeigte sich Karpfen jedoch ratlos: „Hier stockt der Kritiker!“18 Die Schwierigkeit, Kunst und Revolution auf stringente Weise zusammenzubringen, hatte zur Folge, dass Karpfen seine Quelle am Beispiel von Aristarch W. Lentulow, eines in Vergessenheit geratenen Vertreters des Kubo-Futurismus, offenlegte. Es handelt sich um Konstantin Umanskijs Neue Kunst in Rußland, die 1920 bei Kiepenheuer erschienen war – und Karpfen zitierte ausgiebig daraus, auch um die Gruppe um Vladimir Tatlin besonders herauszuheben. Tatlin und durch ihn die sowjetische Maschinenkunst wurde breiteren Kreisen allerdings erst einige Jahre später, nämlich 1924 im Zuge der Internationalen Kunstausstellung der Gesellschaft zu Förderung moderner Kunst in den Räumen der Sezession beziehungsweise 1926 durch Fülöp-Millers breite Darstellung Geist und Gesicht des Bolschewismus, zugänglich gemacht. Die Wiener Zeitung widmete der erstgenannten Kunstausstellung ein fünfseitiges Feuilleton mit einer Standortbestimmung des Modernen insgesamt. In dieser mache sich „der Einfluß der Sowjetunion stark fühlbar“, insofern als er mit ideologischen Prämissen des Bolschewismus wie der Tendenz nach Substitution des Individuellen durch die „Typenform“ und Konzentration auf die Masse konvergiere.19 Kandinski, El Lissitzki, Archipenko und Tatlin bilden dabei zentrale Referenzen und firmieren somit für Konzepte wie gegenstandslose Malerei, Konstruktivismus und Maschinenkunst.

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Originalausgabe F. Karpfen: Gegenwartskunst. Russland. Wien 1921.

Nicht minder komplexe Rezeptionsbeziehungen entwickelten sich in den Bereichen der Musik und des (Musik-)Theaters ebenfalls schon zu Beginn der 1920er Jahre mit Höhepunkten in ihrer zweiten Hälfte. Eine der führenden Musikzeitschriften im deutschsprachigen Raum, die Musikblätter des Anbruch der Wiener Universal-Edition, die zugleich zahlreiche russische Komponisten unter Vertrag ←18 | 19→hatte, widmete der russisch-sowjetischen Musik gleich drei Schwerpunkthefte zwischen 1922 und 1931 und berichtete regelmäßig über den wechselseitigen Transfer in Form von Gastkonzerten und Besuchen. 1928 trat schließlich das Leningrader Opernstudio bei den Salzburger Festspielen auf, ein zunächst kulturpolitisch umstrittenes Projekt, schließlich aber ein erfolgreiches auf künstlerischer Ebene und von der Resonanz her selbst in der bürgerlichen Musikkritik.20 Es darf daher nicht übermäßig wundern, dass die Filmmusik für eines der wichtigsten und die Filmästhetik nachhaltig prägenden Filmwerke der 1920er Jahre, jene für Sergej Ejzenštejn Panzerkreuzer Potemkin von Edmund Meisel komponiert wurde und somit von einem Künstler, der zwar vorwiegend für Erwin Piscator in Berlin arbeitete, aber aus Wien stammte.

Der Verweis auf Meisel und seine primäre Wirkungsstätte Berlin wirft die Frage auf, inwieweit es sich bei den meisten der angesprochenen Transfer- und Rezeptionsbeziehungen im Bereich von Kunst, Literatur und Musik nicht um Phänomene handelt, die im gesamtdeutschsprachigen, ja zentraleuropäischen Raum in ähnlicher Weise zu beobachten gewesen sind und insofern die spezifisch österreichisch-russische Konstellation nicht ausreichend beziehungsweise zwingend kenntlich macht. Dem ist entgegenzuhalten, dass in bisherigen Darstellungen die zahlreichen und profunden Beiträge österreichischer Provenienz sowie die spezifischen Diskurslagen auf politisch-kultureller Ebene tendenziell dem kulturellen Leben der Weimarer Republik einverleibt worden und als solche somit kaum mehr kenntlich geblieben sind. Im Besonderen gilt dies für den literarischen Transfer- und Rezeptionsdiskurs, der nahezu ausschließlich aus einer Berliner Optik präsentiert und diskutiert wird, als wären die arbeitsbedingten Berliner Lebensabschnitte von Joseph Roth, Leo Lania oder Arthur Holitscher allein schon ausreichend, deren österreichischen Hintergrund als quantité négligeable auszublenden.21 Selbstverständlich fungierten das ‚Russkij Berlin‘ der 1920er Jahre mit seinen Verlagen, Zeitungen, Politzirkeln und Kabaretts22 sowie ←19 | 20→das Malik-Verlagsumfeld und der Bund Proletarisch Revolutionärer Schriftsteller (BPRS) als weit über den deutschen Raum hinausstrahlende Vermittlungsdrehscheiben, insbesondere innerhalb der linken Kultur- und Politdiskurse. Der im Ansatz hegemoniale Anspruch sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch im Österreich der Zwischenkriegszeit ein erstaunlich vitales Spektrum eigenständiger Rezeptionsschienen seit 1918/19 entwickelt hat, gestützt auch auf eine breite publizistische Begleitung. Erinnert sei hier nur an die Anthologie Rossija. Russlands Lyrik in Uebersetzungen und Nachdichtungen (1920), die unter anderem Texte von Blok, Bunin, Gorodetzkij und Ssasonow brachte und einen Nachfolgeband Revolutionslyrik ankündigte.23 Vor allem aber war hier der politisch-kulturelle Hintergrund für zum Teil sehr grundlegende Debatten (Rätesystem, Demokratie und proletarische Diktatur, Austromarxismus, proletarische Erziehung und Lebenskultur) aufgrund der profunden Differenzen zum Kräfteverhältnis innerhalb der Linken in der Weimarer Republik ein völlig anderer. Dies alles gewährte der in sich vielfältig ausdifferenzierten Kulturpolitik des (sozialdemokratisch-austromarxistischen) „Roten Wien“ seit Anfang der 1920er Jahre trotz ungünstiger Rahmenbedingungen ganz andere Spielräume, aber auch, gestützt auf eine reale Machtbasis in Wien und in einigen anderen industriellen Zentren (Linz zum Beispiel), konkretere Gestaltungsmöglichkeiten als dies in Berlin oder anderswo in der Weimarer Republik denkbar gewesen wäre. Dass diese Gestaltungsmöglichkeiten nicht gleichzusetzen sind mit einem ausgeprägten, kontinuierlichen oder gar programmatischen Interesse an der Rezeption sowjetischer Kunst und Kultur, steht auf einem anderen Blatt. Vielmehr entwickelten sich fast gleichzeitig Formen der Abwehr wie der Rezeption und Adaption. Man denke nur an die programmatische Distanz zur Proletkult-Bewegung in den publizistischen Foren der SDAPÖ (Arbeiter-Zeitung, Bildungsarbeit, Der Kampf, Kunst und Volk) einerseits und die gleichzeitige Ausbildung proletarischer Sprechchor-Stücke oder die Wirkung der Kerschenzew-Schrift Das schöpferische Theater (1922) auf die jüngere sozialdemokratische Parteilinke und deren Projekte rund um die Zeitschrift Politische Bühne (siehe J. Doll) andererseits. Auch die Versuche der Popularisierung des russisch-sowjetischen Films, insbesondere durch Fritz Rosenfeld, sowie die Begegnung Leo Lanias mit der Filmästhetik von Dziga Vertov oder dem Bühnenwerk Tretjakows ist in diesem ambivalent-produktiven Horizont zu sehen. Das hier anskizzierte ←20 | 21→Spektrum an Positionen, an Rezeptionsbeziehungen, aber auch an kritischen Abgrenzungen wird in den zwei Großabschnitten und fünf Sektionen der nachfolgenden Beiträge, die großteils im Rahmen einer Projekt-Tagung erstmals präsentiert worden sind, zur Diskussion gestellt.

Aspekte einer spezifisch österreichischen Russland-Rezeption werden in der ersten Sektion beleuchtet, die ein Aufriss von Julia Köstenberger einleitet: Basierend auf Akten staatlicher Behörden und der sowjetischen Auslandskulturorganisation VOKS skizziert Köstenberger österreichisch-sowjetische Kulturkontakte zwischen 1918 und 1930. Von der Gründung der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der geistigen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der UdSSR (ÖG) 1925 über den „Höhepunkt 1928“ – das Jahr, in das die Sowjetrussische Ausstellung in Wien, ein Gastspiel des Leningrader Opernstudios bei den Salzburger Festspielen sowie Stefan Zweigs Reise zu den Tolstoj-Feierlichkeiten nach Moskau datieren –, bis zum Beginn der 1930er Jahre erstreckt sich der Rahmen, als vor dem Hintergrund der Stalin’schen Politik in der Ersten Republik die öffentliche Stimmung zuungunsten der UdSSR kippte. Nach dem Zerfall der ÖG kamen die österreichisch-sowjetischen Kulturkontakte seit 1933 denn auch fast vollständig zum Erliegen. ‚Russlandbilder‘ nehmen die nachfolgenden Beiträge in den Blick: Alexander Belobratow diskutiert anhand von Publikationen beziehungsweise Reaktionen von Robert Müller, Joseph Roth und Heimito von Doderer – als drei repräsentative Beispiele für eine „neue Russophilie“ um 1920 – Facetten der kulturellen Rezeption, des kulturellen wie politischen Transfers. Im Fall von Doderer spricht Belobratow der Russland-Erfahrung – der Autor kehrte erst im Sommer 1920 aus sibirischer Kriegsgefangenschaft zurück – eine „initiale Bedeutung für sein Schreiben und seine Poetik“ zu. Frühe emphatische Bekenntnisse zu Russland haben „nachhaltige und vielfältige Spuren in seinem späteren Werk hinterlassen“: Aktuelle Ereignisse wie die Revolution oder der Bürgerkrieg blieben in journalistischen Beiträgen Anfang der 1920er Jahre aus der Betrachtung Russlands zwar weitgehend ausgeklammert, nicht aber in dem auf Erfahrungen der Kriegsgefangenschaft zurückgreifenden ersten Roman Das Geheimnis des Reichs von 1930.

Primus-Heinz Kucher nimmt mit Ernst Weiß, Robert Musil, Leo Lania und Arthur Rundt Exponenten aus maßgebenden künstlerischen Feldern der Zwischenkriegszeit (expressionistisches Theater, feuilletonistische Kritik, Film und Reisebericht) in den Blick, die ungeachtet divergierender Positionierungen im Einzelnen „ein grundlegendes Interesse an den Wandlungsprozessen in Sowjet-Russland“ sowie „ein weitgehend vorurteilsfreies“, tendenziell sachliches Visavis zu kulturellen Impulsen aus Russland eint. Mit Lania erinnert Kucher an einen aus dem literaturwissenschaftlichen Blickfeld geratenen Protagonisten des ←21 | 22→Literatur- und Kulturbetriebs, dessen Werk von Aufmerksamkeit für Debatten innerhalb der sowjetischen Kulturpolitik zeugt. Für den Montagefilm Im Schatten der Maschine von 1928 griffen Albrecht Blum und Lania auf Material von Dziga Vertov zurück. Im Schatten der Maschine als ein Beispiel für eine an der russischen Avantgarde orientierte Montagefilmkunst hat zeitgenössisch immerhin auch Ernst Fischer als wegweisend für die proletarische Filmkunst gewürdigt.

Die Oktoberrevolution und die Anfänge der Sowjetunion in der Wahrnehmung Ernst Fischers werden von Jürgen Egyptien beleuchtet, der dessen am journalistischen Werk offenbares Interesse für die Umwälzungen in der russischen Gesellschaft in Beziehung zu einer zwischen 1923 und 1933 eklatanten Neu-Justierung ästhetischer (Wert-)Maßstäbe hin zu Operativität und Sachlichkeit (Literatur als „Beitrag zum Klassenkampf“) nachskizziert. Egyptien präsentiert den Fall Fischer als beispielhaftes „sacrificium intellectus […], das die geistige Disposition für Fischers Weg in den Stalinismus offenlegt“ – und meint damit die allmähliche „Verabsolutierung des Politischen im Zeichen des sowjetischen Fünfjahresplans“, aus deren Perspektive „alle Kunst, die keine operative Funktion erfüllt, dem Generalverdacht der Ablenkung vom Klassenkampf [verfällt]“, als Verabsolutierung der unter anderen in Auseinandersetzung mit Sergej Tretjakow gewonnenen „proletarisch-revolutionären Funktionsbestimmung von Literatur“. Mit dem Essay „Der Geist des Amerikanertums“ von 1928 widmet sich Egyptien einem Fischer’schen Programmtext, der auch Gegenstand in dem Beitrag von Rebecca Unterberger über die für die Zwischenkriegszeit auffallende diskursive Engführung der beiden ‚Neuwelten‘ USA und Russland – nicht nur im Sektor Reiseschreibung, wie etwa anhand des kapitalismuskritischen Russland-Reiseberichts Julius Haydus oder Theodore Dreisers insbesondere für das bürgerliche Lager überraschend sozialismusaffinen Russland-Reisefeuilletons gezeigt wird, sondern auch bei literaturkritischen Diskussionen unter dem Stern der Neuen Sachlichkeit. Ann Tizia Leitich zum Beispiel, eine Gallionsfigur für anti-sozialistische, anti-sozialdemokratische Ressentiments, transparente bürgerliche philo-amerikanistische Positionierungen, nahm in ihrem Roman Ein Leben ist nicht genug gleichfalls die USA und die Sowjetunion in den Blick: Leitichs Protagonistin ist der Durchbruch als ‚rasende Reporterin‘ mit dem Reportageroman Als Arbeiterin durch das bolschewistische Rußland gelungen, was an die Vita der in Moskau als Tochter eines österreichischen Kaufmannes geborenen Lili Körber (1897–1982) erinnert. Deren „Tagebuch-Roman“ Eine Frau erlebt den roten Alltag widmet sich Walter Fähnders am Eingang der Sektion Russland-Reisen. Für ihren Romanerstling griff Körber, Mitglied des Bundes Proletarisch Revolutionärer Schriftsteller (BPRS), auf ihre Erfahrungen als ←22 | 23→Arbeiterin in den Leningrader Putilow-Traktoren-Werken während eines Russland-Aufenthalts 1930/31 zurück. Körbers Reportage-Roman wird zum einen als Beitrag zu dem zwischenkriegszeitlich boomenden Sektor Russlandreisebericht – Fähnders verweist unter anderem auf den Putilow-Bericht des österreichischen Metallarbeiters Leo Weiden – diskutiert und dessen Einschätzung als ‚Männerdomäne‘ durch Reiseschreibungen von Anni Geiger-Gog, Berta Lask, Frida Rubiner, Helene Stöcker, Martha Ruben-Wolf, Ilse Langner, Helene von Watter oder Elisabeth Thommen relativiert. Zum anderen fokussiert Fähnders Körbers ‚Glaubwürdigkeit‘ generierende und damit die Rezeption steuernde erzähltechnische Strategien, etwa „die dokumentarische, trotz aller Kritik an der Neuen Sachlichkeit doch bewährte Methode des Abdruckes von historischen, außertextlich verbürgten und empirisch überprüfbaren Dokumenten“. Reise-Reportagen aus Russland, deren Konjunktur den Informationshunger in Sachen Sowjetunion widerspiegelt, nehmen zudem die beiden nachfolgenden Beiträge von Ievgeniia Voloshchuk und Katja Plachov in den Blick: Gegenstand bei Voloshchuk ist Joseph Roths zuerst 1926 in der Frankfurter Zeitung erschienene Reportagenreihe „Reise in Rußland“ als „eines der prägnantesten Porträts des jungen Sowjetrussland“, in dem sich ‚der Rote Joseph‘ trotz seiner Sozialismus-Affinität „jenseits der ideologischen Links-Rechts-Front“ positioniert habe – bemüht, „die Differenzen und sich auftuenden Klüfte zwischen der sowjetischen Realität und den Mythen der bolschewistischen Propaganda“ zu dokumentieren. Roths „Paradigma der Entlarvung […], das sowohl die persönliche Enttäuschung über das bolschewistische Projekt als auch eine generelle Entzauberung der sowjetischen Wirklichkeit und Ideologie umfasste“, konzentriert sich auf kulturellen Verfall, technisch-pragmatische Modernität und kommunistischen Drill als „Kern des nachrevolutionären Sowjetrussland“. In das Jahr von Roths Russland-Reportagen datiert auch die Publikation von René Fülöp-Millers kompendiöser Monografie Geist und Gesicht des Bolschewismus. Darstellung und Kritik des kulturellen Lebens in Sowjet-Rußland, der, wie Katja Plachov zeigt, gleichfalls Reisen in die Sowjetunion (1922 und 1924) vorangegangen waren. Das im Wiener Amalthea Verlag erschienene, mit zahlreichen Fotografien und farbigen Illustrationen ausgestattete Werk wurde nicht nur in der Zwischenkriegszeit breit rezipiert, sondern stellte bis in die Zeit des Kalten Kriegs perpetuierte Deutungslinien bereit – ein Erfolg, der sich mit dem „scheinbar gegensätzliche[n];, in der Anlage jedoch einander ergänzende[n] Informations- und Deutungsangebot“ erklären lässt, mit dem sich sowohl eine politisch konservative als auch eine (mehr) kunstinteressierte, avantgardistisch orientierte Leserschaft identifizieren habe können: Obgleich Tatlins Maschinenkunst mit Blick auf die westliche Baukunst als ‚defizitär‘ dargestellt wurde, war es Verdienst ←23 | 24→Fülöp-Millers, für zeitgenössische sowjetische Kunsterscheinungen, insbesondere das Theater, zum Teil innovative Informationen bereitzustellen. Fülöp-Miller zeichnete denn auch für die 1928 gleichfalls bei Amalthea erschienene Monografie Das russische Theater. Sein Wesen und seine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Revolutionsperiode mitverantwortlich – nebst Joseph Gregor, an dessen Beispiel Kurt Ifkovits in seinem die Sektion Theater und Musik eröffnenden Beitrag grundlegende Aspekte der Rezeptionsbeziehungen und des Interesses auch bürgerlicher Intellektueller und Institutionen an der sowjetischen Theatermoderne offenlegt. Gregor, der bereits durch seine biografische Situation (kultureller Pendler zwischen Czernowitz und Wien, Interesse für performative Künste) eine gewisse Prädisposition für seine spätere Arbeit in der Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek einbrachte, darf als Schlüsselfigur für das Verständnis und die Formen des Zugangs zur russisch-sowjetischen Theatermoderne angesehen werden. Ifkovits arbeitet heraus, wie intensiv sich Gregor seit 1923–24 mit den aktuellen Entwicklungen auseinandersetzt, deren erstes Resultat die von ihm kuratierte Parallelausstellung zur Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik (1924) in der Albertina war. Im Unterschied zu anderen, stärker eurozentrisch geprägten Darstellungen gründen sich Gregors mitunter eigenwillig anmutenden Überlegungen auf ein tieferes Verständnis der russischen Kunst- und Kulturentwicklung. Dies erlaubt ihm die Theaterentwicklung nicht allein aus der Perspektive des Gegensatzes von vor- und nachrevolutionären Rahmenbedingungen, sondern diese als fast natürliche Überführung symbolistischer Ansätze in eine revolutionskompatible, konzentriert elementare Formensprache zu begreifen, zum Beispiel in Stanislavskijs angewandten Symbolismus, in das ›entfesselte Theater‹ Tairovs sowie in das ›dynamische‹ beziehungsweise ›biomechanische‹ Mejerhol’ds. Gregor dient Ifkovits aber auch als Modellfall für die kontrastierende und komparative Parallelisierung des Russland-Diskurses mit dem des zeitgenössischen Amerika und für die Schwierigkeiten, die sich im Zuge der innenpolitischen Polarisierung in Österreich seit 1927 auf der Ebene offizieller Kontakte, zum Beispiel im Zuge von Ausstellungsprojekten, einstellten. Neben den prominenten Exponenten der russisch-sowjetischen Theatermoderne beziehungsweise -avantgarde existierte auch die in den 1920er Jahren europaweit rezipierte Kleinkunst-Szene. Ihr widmet sich Barbara Lesák, wobei sie zunächst an das Moskauer Künstlertheater und Stansilavskij anknüpft, ferner an die Tanz- und Ballett-Tradition der Ballets Russes sowie an vorwiegend im Pariser Exil wirkende Künstler wie zum Beispiel Natalija Gončarova. Die Wiener Tourneen des Moskauer Künstlertheaters zählten ungeachtet ihrer wechselnden Zusammensetzungen zu den Theaterereignissen in den frühen 1920er Jahren schlechthin, also lange bevor ein offizieller ←24 | 25→Kulturaustausch in Gang kam. Ergänzend und kontrastierend zu den Moskauern präsentiert Lesáks Beitrag die beiden Gastauftritte Tairovs, die 1925 respektive 1930 nicht nur radikalen Theater-Konstruktivismus mit neuer Körpersprache boten, sondern auch am Beispiel von Operetten-Vorlagen und Pantomimen neue, revolutionäre Theaterästhetik umsetzten – eine Theaterästhetik, die auch vom Moskauer jiddisch-hebräischen Ensemble Habima wie dem Staatlichen Jüdischen Kammertheater geteilt wurde. Letztere gastierten 1926 und 1928 in Wien und brachten jiddische Legenden wie den Dybuk, aber auch Beer-Hofmanns Jáakobs Traum mit großem Erfolg und in zum Teil eigenwillig-exzentrischen Inszenierungen zur Aufführung. Dieses Interesse bildete auch den Nährboden für Kabarett und Kleinkunst, das von zahlreichen Ensembles bedient wurde, darunter dem 1917 in Moskau gegründeten Der Blaue Vogel als bekanntestes. Wurde dabei zwar das Credo der Abstraktion oft ins Dekorativ-Folkloristische gewendet, so zielte es zugleich auf eine spezifische Synthese von Bühnenbild, Bewegung und gestischer Sprache, was unter den kommerziellen Zwängen und durch die Nachahme-Ensembles nur selten gelingen konnte. Diesem beachtlichen, vorwiegend im bürgerlichen Kontext angesiedelten Rezeptionsinteresse stand die ambivalent distanzierte Haltung der sozialdemokratischen Theaterpolitik gegenüber, die Jürgen Doll mit Schwerpunkt auf die (mangelnde) Rezeption beziehungsweise eigenständige Entwicklung eines dem Proletkult vergleichbaren Agitations- und Massentheaters nachzeichnet. Erst ab 1927, als paradoxerweise in der Sowjetunion das Agitationstheater Die Blaue Bluse seiner Auflösung entgegen ging, rezipierte die junge Parteilinke um Ernst Fischer, Robert Ehrenzweig und Hans Zeisel zunächst die Programmschrift von Kerschenzew sowie die Beschreibungen des Mejerhol’d-Theaters bei Fülöp-Miller, um daraus sowie aus eigenen proletarischen Festspiel-Erfahrungen neue Zugänge zu einem proletarischen Theater beziehungsweise politischen Kabarett auszuloten und umzusetzen. Ein erstes spektakuläres Massenfestspiel kam dabei im Juni 1928 in Linz als „revolutionäre Sonnwendfeier“ zur Aufführung, gefolgt von einer multimedialen Bilderfolge anlässlich des 10. Jahrestages der Republikgründung. Die sehr erfolgreiche Aufführung von Sergej M. Tret’âkovs Brülle China, für Fritz Rosenfeld ein „Sieg des revolutionären Theaters“, bereitete vermutlich das Terrain für die Massen-Sprechchor-Festspiel-Inszenierung anlässlich der in Wien im Juli 1931 abgehaltenen Arbeiter-Olympiade auf, ferner für den Festzug der Gemeinde Wien im Jahr 1932 und das Agitprop-Theater der Roten Spieler bis 1933.

Den Musikteil decken die Beiträge von Marco Hoffmann und Olesya Bobrik ab, einmal in Form des Fallbeispiels des (familiengeschichtlich aus der Ukraine kommenden) Komponisten Max Brand, einmal in Form eines Übersichtsbeitrages ←25 | 26→zu Rezeptionsbeziehungen auf institutioneller Ebene. Brands bekanntestes Werk, Maschinist Hopkins (1929), wird von Hoffmann daraufhin befragt, inwieweit dessen futuristische Signatur trotz ihres Settings in einem amerikanischen proletarischen Ambiente nicht auch Züge der sowjetischen Musik-Maschinen-Avantgarde wie zum Beispiel Mosolovs Orchestersatz Zavod trage. Hoffmann zeichnet Aspekte dieser naheliegenden Verwandtschaft sowohl im Bereich des Musikalischen, etwa in den unterschiedlichen, aber strukturell verwandten Synthesen aus ‚Maschinenmusik‘ und symphonisch-musiktheatralischen Elementen mit Anbindungen unter anderem an Richard Strauss und Ernst Kreneks Jonny spielt auf nach, als auch solche auf ideologisch-konzeptueller Ebene. Im Kontext von Arbeit im Kollektiv zeichnet sich eine neue Vitalitätsvision des Proletariats im Einklang mit „dampfenden Maschinen“ und einem darauf aufbauenden, messianisch wirkenden Konzept ab. Letzteres lässt neben Mosolov auch Anklänge an Aleksej Gastev erkennen, (kubo-)futuristischer Lyriker und Begründer des Zentralinstituts für Arbeit (1920). Dennoch plädiert Hoffmann in seinem Fazit dafür, Brand trotz Sowjet-Sympathien in der konkreten musikalischen Ausgestaltung in eine Vielzahl zeitgenössischer Modernen/Avantgarden (vom Futurismus über Suprematismus, Jazz- und Maschinenmoderne mit Rezeptionsspuren hin zu George Antheils Ballét mécanique) zu platzieren und ihn als einen komplexen Fall für zeitgenössischen „kompositorischen Kulturtransfer“ anzusehen. Olesya Bobrik wiederum legt einen Überblick über die Beziehungen zwischen der (Wiener) Universal Edition (UE) als führende Musik-Vertriebsinstitution im deutschsprachigen Raum und den offiziellen sowjetrussischen Partnereinrichtungen vor. Bereits Mitte der 1920er Jahre wies die ‚Russische Abteilung‘ des UE-Katalogs über 400 russisch-sowjetische Kompositionen und etwa 110 Namen von Komponisten auf, darunter allein 60 von Sergej Rachmaninov und 53 von Sergej Prokof’ev, bald aber auch solche von Nikolaj Mjaskovskij, Samuil Feinberg, Nikolaj Roslavec oder Leonid Polovinkin, die in der Moskauer Gesellschaft für zeitgenössische Musik (ASM) führende Positionen einnahmen. Dass die Zusammenarbeit von beiden Seiten her gesehen nicht immer ohne Friktionen verlief – Friktionen, die 1932 zur Aufkündigung dieser Kooperation führten – beziehungsweise von unterschiedlichen Erwartungs- und Vertrauenshaltungen bestimmt war, wird an Korrespondenzen und anderen Dokumenten dargelegt ebenso wie an Details der Distributionspraxis oder der (Urheber-)Rechtslagen.

Die Sektion Architektur, Bildende Kunst und Film wird durch Michael Omasta und Brigitte Mayr mit einem Beitrag zu Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin, dem Begründer des Genres des Revolutionsfilms und aufgrund seiner konsequent durchgehaltenen, akzentuierten Montagetechnik unbestrittener Meilenstein der Filmgeschichte, eröffnet. Nach Zensurauflagen konnte der Film ←26 | 27→in der um vierzig Meter gekürzten deutschen Fassung von 1926 seinen europäischen Siegeszug, nochmals leicht gekürzt auch in Wien, antreten. Anteil an diesem Erfolg hatte auch die Filmmusik von Edmund Meisel sowohl und insbesondere für die Stummfilmfassung von 1925 als auch für jene des Tonfilms 1930. Omasta/Mayr arbeiten minutiös die Vorzüge dieser zum Rhythmus der Montage passenden Musik heraus, aber auch die Probleme, die sich im Zuge der Zensurschnitte und daraus resultierender Verzerrungen ergeben haben sowie die Synchronisierungspannen beim „tönenden Potemkin“. Haben letztere auch die Beziehung zwischen Eisenstein und Meisel bis hin zum Zerwürfnis belastet, so gelang es damit immerhin, den Film 1930 wieder ins Gespräch zu bringen und trotz divergierender Kritikermeinungen letztlich als Kunstwerk durchzusetzen, mit einer „Steigerung der revolutionären Wirkung“ für F. Rosenfeld, aber auch (verhaltener) Anerkennung durch bürgerliche (Film-)Kritiker. Ausgehend von einer kritischen Kommentierung hartnäckig tradierter und vielfach im Rückblick konstruierter Bilder von Isolation und Rückständigkeit des Kunstbetriebs der 1920er Jahre, welche die existierenden ‚Kristallisationszentren‘ der Moderne und der Avantgarde (Hagenbund-Kreis, Kontakte zu tschechischen Kubisten, Hans und Erica Tietze) oft nicht zur Kenntnis genommen haben, zeichnet Evelyne Polt-Heinzl am Beispiel von O. R. Schatz nach, welches Potential dieser erst in den 1990er Jahren wiederentdeckte Maler und Grafiker in die zeitgenössischen Debatten im Umfeld von Neuer Sachlichkeit, expressionistischer Dynamisierung, menschenleerer Industrieszenarien und sozialkritischer Kommentierung einzubringen vermochte. Dabei treten auch beeindruckende Dysfunktionalitäten in den Blick, die im Sinn einer kritischen Rezeption des Proletkult-Ansatzes die Übermächtigkeit und das Oppressive des Maschinenhaft-Technischen den keineswegs heroisiert dargestellten Arbeitern ebenso deutlich machen wie die Perspektivenlosigkeit von Arbeitslosen vor dem Hintergrund imposanter, bedrückend anonymisierter Häuserschluchten oder deprimierender Warteräume. Das spezifisch Österreichische dieser Proletkult-Rezeption, aber auch das gebrochen Moderne der Großstadtzeichnung wird an diesen Beispielen als konvergierende Bewegung gut sichtbar. Vor dem Hintergrund des Faktums, dass die österreichische Architektur – bereits zeitgenössisch – „in Bezug auf ihre Wahrnehmung eine weitaus marginalere Position ein[nahm] als noch vor dem Zerfall der Habsburgermonarchie“, skizziert Vera Faber eine „relativ enge Vernetzung“ der österreichischen Szene in die Weimarer Republik und in die USA. Dagegen lassen sich für Russland „kaum nennenswerte Verbindungen“ rekonstruieren: Richard Neutra, seit 1923 in den USA ansässig, wurde zwar „umfassend“ in der Sowjetunion rezipiert, jedoch als Vertreter des amerikanischen Bauens. Konzeptionelle Übereinstimmungen zwischen dem ←27 | 28→progressiven österreichischen Werkbund und konstruktivistischen beziehungsweise funktionalistischen Architekturströmungen sind nicht von der Hand zu weisen, nichtsdestotrotz stand Josef Frank als ein zentraler Vertreter des Werkbunds dem russischen Konstruktivismus reserviert gegenüber. Faber kann aber für Margarethe Schütte-Lihotzky, neben Ernst May wohl das prominenteste Mitglied der Architektenvereinigung Das Neue Frankfurt, ihr Wiener ‚Substrat‘ in Erinnerung rufen: In ihren Anfängen als Architektin ist Schütte-Lihotzky ja mit der Planung von Arbeiterwohnungen in Wien befasst gewesen und habe damit „gewissermaßen das Konzept der ‚Wohnung für das Existenzminimum‘ “ vorhergesehen – obschon ihr epochemachendes Konzept unter dem Namen „Frankfurter Küche“ bekannt geworden ist.

Die Sektion Literatur wird von Veronika Hofeneder eröffnet, die sich den Russland-Diskursen in der in Wien erschienenen, als kommunistischer Propagandaschrift konzipierten Zeitschrift Sowjet (1919–22) widmet. Obgleich das Hauptgewicht auf politischer Berichterstattung lag, fanden sich in den ersten Nummern auch Gedichte, Erzählungen und Kritiken zu Theateraufführungen von Werken russischer Autoren – und nicht zuletzt „Konzepte der Gesellschaftserneuerung mithilfe von Kunst und Literatur“, etwa die Programmschrift „Zur moralischen Bilanz der Bourgeoisie“ von Gina Kaus. In der Erzählung Der Altar, als der „erste bolschewikische Roman“ angekündigt, stehe Kaus dann aber den in früheren Essays offenbaren „radikalen Positionen“ („bedingungslose Revolution mit der anschließenden Diktatur des Proletariats“) reservierter gegenüber. Der Altar gilt Hofeneder als „Höhepunkt und ein vorläufiges Ende“ der Tendenz, die anfänglich radikale Programmatik des Sowjet vermittels literarischer Texte vorsichtig zu unterwandern. Dem seit 1919 erscheinenden, dem Titel nach an der gleichnamigen Tageszeitung der Kommunistischen Partei Deutschlands orientierten Zentralorgan der KPÖ Die Rote Fahne, widmen sich Stefan Simonek und Martin Erian. Die „Hypothese, dass sich auf den Seiten des Blattes eine breitere, durch die grundlegende historischen Veränderungen zusätzlich noch befeuerte Berichterstattung zur politisch links orientierten Kunst der russischen Avantgarde finden könnte“, kann Simonek falsifizieren: „Was die kulturpolitische Linie der Zeitung wesentlich prägte, war vielmehr eine weitgehende Hörigkeit in Richtung Moskau“. Um der Präsenz russischer Literatur in der Roten Fahne nachzuspüren, orientiert Simonek sich an der Berichterstattung im Umfeld der Todesdaten von den „im Kontext von Moderne und Avantgarde zentralen Dichter[n];“ Aleksandr Blok (1921), Sergej Esenin (1925) und Vladimir Majakovskij (1930). Anhand derer Lebens- und Kunst-Texte lassen sich zudem Entwicklungsphasen des kulturellen Lebens im ersten Dezennium der Sowjetunion – „vom Kriegskommunismus über die Zeit der NEP […] bis hin ←28 | 29→zur sukzessiven Monopolisierung und Reglementierung des kulturellen Lebens am Ende des Jahrzehnts“ – zur Darstellung bringen. Einen panoramatischen Überblick über „Annäherungen an das sowjetische Leben“ im Feuilleton der Roten Fahne präsentiert Erian: Für Sowjetnarrative von VertreterInnen der proletarisch-revolutionären Literatur werden Beiträge von Körber und Hans Maier neben Reiseberichten unter anderen von Frida Rubiner und Otto Heller, aber auch reisenden ‚Proletariern‘ (Arbeiterdelegationen zum Beispiel) analysiert. Heller etwa als „produktivster Berichterstatter aus der Sowjetunion“, 1926 von Wien nach Berlin übersiedelt, reiste im Sommer 1929 in seiner Funktion als Redakteur der Tageszeitung Welt am Abend nach Russland; Resultat waren mehrere Reiseberichte wie etwa Sibirien. Ein anderes Amerika. In dem Vorwort dazu beteuerte Heller seinen Glauben an die proletarische Weltrevolution und deklarierte Sibirien zum „Feuerkessel […] des Werdens einer neuen Welt“, in der auf einer neuerlichen Reise basierenden Schrift Der Untergang des Judentums (1931) dann zum „heute noch fast menschenleere[n] Zukunftsland der Juden der Sowjetunion“. Einer inzwischen nahezu vergessenen, zeitgenössisch vor allem von einer tendenziell (katholisch-)konservativen Leserschaft nachgefragten Autorin ist der Beitrag von Natalia Blum-Barth gewidmet: der aus der post-revolutionären Sowjetunion gemeinsam mit ihrem österreichischen Ehemann Arnulf von Hoyer emigrierten Alja Rachmanowa. Spätestens mit der Veröffentlichung von Milchfrau von Ottakring. Tagebuch einer russischen Frau von 1932 als drittem Teil einer Trilogie war Rachmanowa zu einer Erfolgsautorin avanciert, für deren Werke zeitgenössisch mit Hinweis auf deren Authentizität geworben wurde. Blum-Barth beleuchtet für Rachmanowas Schaffen einen „komplizierte[n] Fall kollektiver Autorschaft“ (von Rachmanowa, v. Hoyer und dem Verlagslektorat) ebenso wie dessen strikt anti-sowjetische, anti-bolschewistische Stoßrichtung (gegen den „Roten Terror“). Dies wird unter anderem mit kruden Gewalt-Exzessen im post-revolutionären Russland gemäß der Darstellung in Studenten, Liebe, Tscheka und Tod, dem ersten Band der Trilogie, veranschaulicht und mit der sowjetischen Idee beziehungsweise Ideologie des bei Blum-Barth auch unter der Prämisse von gender-Entwürfen diskutierten „Neuen Menschen“ kontrastiert und kontextualisiert.

Details

Seiten
462
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631781999
ISBN (ePUB)
9783631782002
ISBN (MOBI)
9783631782019
ISBN (Hardcover)
9783631766415
DOI
10.3726/b15295
Open Access
CC-BY
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Österreichisch-Russische Kultur-, Literatur- und Kunstbeziehungen Russland - Amerika Proletkult und Konstruktivismus Russland-Reisebilder Musik- und Filmavantgarde Russland in der feuilletonistischen Publizistik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 462 S., 32 s/w Abb., 1 Tab.

Biographische Angaben

Primus-Heinz Kucher (Band-Herausgeber:in) Rebecca Unterberger (Band-Herausgeber:in)

Primus-Heinz Kucher ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt. Er ist spezialisiert auf den Zeitraum von der Aufklärung/Romantik bis zur Gegenwart und leitet FWF-Forschungsprojekte zur Moderne und Antimoderne sowie zu Transdisziplinären Konstellationen in der Österreichischen Kultur und Literatur der Zwischenkriegszeit. Rebecca Unterberger war wissenschaftliche Mitarbeiterin in den FWF-Projekten Moderne und Antimoderne sowie Transdisziplinäre Konstellationen und Fulbright Scholar an der University of California, Santa Barbara.

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Titel: Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
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