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Grenzlandsprache. Untersuchung der Sprachen und Identitäten in der Region Lebus

von Anna Zielińska (Autor:in)
©2019 Monographie 470 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Die Autorin des Buches untersucht die Sprachsituation in der Region Lebus, welche Deutschland 1945 an Polen verloren hat. Hier fand gleich nach dem Krieg ein vollständiger Bevölkerungsaustausch statt. Das führt zu den Fragen: Was geschah dort nach dem Weggang der Deutschen? Wer nahm ihren Platz ein, und wie hat man sich in der neuen Umgebung eingerichtet? Doch die wichtigste Frage für diese Arbeit war: Welche Sprachen benutzte man, und welchen Einfluss hatte das auf die gesellschaftlichen Verhältnisse? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wurden zahlreiche Interviews mit den ältesten Bewohnern der Region Lebus geführt und dann nach anthropologischen und linguistischen Gesichtspunkten analysiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort Zur Deutschen Ausgabe
  • Inhalt
  • EinfüHrung
  • Region Lebus und Ihre Bewohner
  • Wie entstand die Region Lebus?
  • Schicksal der Bevölkerung in der Region Lebus
  • Einheimische
  • Siedler
  • Zwangsumgesiedelte
  • Vertriebene
  • Flüchtlinge
  • Opfer ethnischer Säuberungen
  • Unsicherheit und Angst – die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg
  • Wahrnehmung der Grenze
  • Von Der Dialektkarte Zur Grenzlandsprache – Theoretische Probleme Der Sprachenvielfalt
  • Linguistische Studien zu den polnischen Westgebieten
  • Begriffe und Termini der Kontaktlinguistik
  • Konzept der Grenzlandsprache
  • Polnisch-Deutsche Zweisprachigkeit
  • Soziolinguistische Situation
  • Polnische Enklave im Deutschen Reich vor dem Zweiten Weltkrieg
  • Situation der Sprecher außerhalb der polnischen Enklave
  • Emotionale Bindung an die deutsche Sprache
  • Bemerkungen zum deutschen Sprachgebrauch
  • Bewahrung mundartlicher Züge in Neu Kramzig
  • Polnisch zweisprachiger Personen
  • Zweisprachigkeit der Ukrainer und Lemken
  • Soziolinguistische Situation
  • Merkmale des lemkischen Dialekts und der Mundarten vom San
  • Identität der Lemken und Ukrainer
  • Emotionale Bindung an die Sprache
  • Familien- und Nachbarschaftssprache
  • Sprache und Religion
  • Gebrauch des Ukrainischen und Lemkischen
  • Bewahrung lemkischer Merkmale
  • Kontaktgestützte morphologische Merkmale aus dem Polnischen
  • Durch Sprachkontakt verursachte Prozesse
  • Kodewechsel
  • Modelle phonetischer Transpositionen
  • Übertragung grammatischer und phraseologischer Modelle
  • Zweisprachigkeit in Balkow
  • Soziolinguistische Situation
  • Sprachliche Vielfalt in Polesien
  • Familien- und Nachbarschaftssprache
  • Gebrauch der polesischen Mundart in Balkow
  • Bewahrung mundartlicher Elemente aus Polesien
  • Folgen des Sprachkontakts
  • Zweisprachigkeit der Bukowiner
  • Soziolinguistische Situation
  • Mundart der polnischen Goralen in der Bukowina
  • Charakteristik der Mundart
  • Bewahrung mundartlicher Elemente
  • Polnisch der Südlichen Kresy
  • Grenzlandsprache in der Lebuser Region
  • Sprache Als Stigma
  • Erste Phase des Stigmas – Erkennen des Unterschieds
  • Zweite Phase des Stigmas – Maskierung
  • Dritte Phase des Stigmas – Folgen der Stigmatisierung
  • Texte
  • Deutsche Texte
  • Text 1
  • Text 2
  • Text 3
  • Texte aus Neu Kramzig
  • Text 1
  • Text 2
  • Texte mit Primärsprache Deutsch in der Jugend
  • Text 1
  • Polnische Texte der südlichen Kresy
  • Text 1
  • Text 2
  • Text 3
  • Polesische Texte
  • Text 1
  • Text 2
  • Text 3
  • Ukrainische Texte
  • Text 1
  • Text 2
  • Text 3
  • Lemkische Texte
  • Text 1
  • Text 2
  • Text 3
  • Text 4
  • Bukowinische Texte
  • Text 1
  • Text 2
  • Text 3
  • Text 4
  • Anhang
  • Herkunft der Informanten
  • Liste der Sprecher und Orte
  • Bibliographie
  • Abbildungen
  • Kartenverzeichnis
  • Nachwort des Übersetzers
  • Sachregistersachregister
  • Reihenübersicht

cover

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Autorenangaben

Die Autorin
Anna Zielińska ist Professorin am Institut für Slavistik der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Zu ihren Arbeitsgebieten zählen: polnische und slavische Sprachwissenschaft, vornehmlich Dialektologie, Soziolinguistik und Sprachkontakte. Sie ist Autorin von ca. 100 wissenschaftlichen Arbeiten.

Über das Buch

Anna Zielińska

Grenzlandsprache. Untersuchung der Sprachen
und Identitäten in der Region Lebus

Die Autorin des Buches untersucht die Sprachsituation in der Region Lebus, welche Deutschland 1945 an Polen verloren hat. Hier fand gleich nach dem Krieg ein vollständiger Bevölkerungsaustausch statt. Das führt zu den Fragen: Was geschah dort nach dem Weggang der Deutschen? Wer nahm ihren Platz ein, und wie hat man sich in der neuen Umgebung eingerichtet? Doch die wichtigste Frage für diese Arbeit war: Welche Sprachen benutzte man, und welchen Einfluss hatte das auf die gesellschaftlichen Verhältnisse? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wurden zahlreiche Interviews mit den ältesten Bewohnern der Region Lebus geführt und dann nach anthropologischen und linguistischen Gesichtspunkten analysiert.

Zitierfähigkeit des eBooks

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VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Das Buch Grenzlandsprache. Untersuchung der Sprachen und Identitäten in der Region Lebus erschien 2013 zunächst in polnischer Sprache. Dank großzügiger Finanzierung der Übersetzung und Übernahme der Druckkosten durch das polnische Ministerium für Wissenschaft und Hochschulwesen kann ich nun zu meiner großen Freude die Arbeit dem deutschsprachigen Publikum vorstellen.

Die Monographie untersucht einen Teil der Gebiete, und zwar die Region Lebus, welche Deutschland 1945 an Polen verloren hat. Das wirft viele Fragen auf. Was geschah dort nach dem Weggang der Deutschen? Wer nahm ihren Platz ein, und wie hat man sich in der neuen Umgebung eingerichtet? Doch die wichtigste Frage für mein Forschungsvorhaben war: Welche Sprachen benutzte man, und welchen Einfluss hatte das auf die gesellschaftlichen Verhältnisse? Eine Antwort auf diese Fragen suchte ich bei Personen, welche das Jahr 1945 und die nächsten Jahre dort verbracht haben. Deshalb machte ich zahlreiche Interviews mit den ältesten Bewohnern der Region Lebus, die dann nach anthropologischen und linguistischen Gesichtspunkten analysiert wurden. Inzwischen erschienen zwei weitere wichtige Arbeiten zur Region Lebus in der Nachkriegszeit, auf die ich hier näher eingehen möchte. Beide Beiträge zeigen aus der Sicht der Zeitzeugen den Wandel des einst deutschen Gebiets zu einem Teil des neuen polnischen Staats. Die Monographien verleugnen dabei nicht die deutsche Vergangenheit der Region, was keineswegs immer in polnischen wissenschaftlichen Arbeiten geschieht. Deshalb verdienen sie meiner Meinung nach ganz besondere Aufmerksamkeit.

Die dramatischen Erlebnisse der Bewohner dieser Region in den frühen Nachkriegsjahren 1945–1948 schildert Beata Halicka in ihrer Arbeit Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945–1948. Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh 2013. Der Titel ihrer Monographie spielt auf den Film Prawo i Pięść [Faustrecht] von Jerzy Hoffman aus dem Jahre 1964 an, der als bester polnischer Western angesehen wurde. Die Analogie mit der amerikanischen Mythologie von der Eroberung des Wilden Westen sollte das damalige Klima von Chaos und das Rechts des Stärkeren in den neuen von Eroberern und Siedlern kolonisierten Territorien zeigen sowie gleichzeitig ein Gefühl vom Abenteuer und Kampf des Guten mit dem Bösen vermitteln. Die Bezeichnung Polens Wilder Westen für die Region wurde, wie Beata Halicka schreibt, in der nichtoffiziellen Sphäre im Unterschied zum von den Kommunisten offiziell eingeführten Schlagwort von den wiedergewonnenen Gebieten gebraucht.

Doch der Mythos vom Wilden Westen konkurrierte nach meiner Meinung keineswegs mit dem von den wiedergewonnenen Gebieten. Er war eher sekundär und ein Mythos der kommunistischen, nationalistischen Propaganda. Die Anwendung des Begriffs Wilder Westen auf die an Polen angeschlossenen Gebiete suggeriert, dass es sich um verlassene und herrenlose Flächen handelte, die man zunächst ausbeuten und dann kolonisieren konnte.

Zum Mythos des Wilden Westen gehört logischerweise auch die Plünderung und offizielle Aneignung von allem, was deutsch war. Dieser offensichtlich verfälschte, aber bestechende Begriff vom Western entspricht genau dem Mythos der wiedergewonnenen Gebiete.

Die Figur des Pioniers vereint in sich die beiden nationalistischen Mythen der wiedergewonnenen Gebiete mit dem Wilden Westen, und verbindet die polnische Kultur mit der Kolonisation der USA. Der Pionier ist ein Kolonisator und Eroberer, der Recht, Ordnung, Sitten in wilden, niemand gehörenden, vernachlässigten, zerstörten und leeren Gebieten einführt. Aufgabe der Pioniere war der Aufbau der polnischen, sozialistischen Wirklichkeit in den nach 1945 angeschlossenen deutschen Gebieten. Diese Figur funktioniert bis heute im öffentlichen Raum und lebt weiter dank zahlreicher Siedlervereine.

Beata Halicka beschreibt die Besiedlung der an Polen angegliederten Gebiete aufgrund von schriftlichen Erinnerungen der Bewohner in der Region. Diese wurden im Rahmen der vom Instytut Zachodni in Posen in den Jahren 1957, 1966 und 1970 ausgeschriebenen Wettbewerbe eingeschickt. Das Ziel der Wettbewerbe war die Sammlung von Erinnerungen an die Umsiedlung und an die ersten Jahre in der neuen Stadt. Sie verfolgten vor allem das propagandistische Ziel, auf diese Weise zu belegen, dass aus der Ansammlung von Siedlern aus verschiedenen Teilen Polens, mit unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, schon eine neue an das Leben im sozialistischen Polen angepasste Gesellschaft entstanden war. Die Teilnehmer an den Wettbewerben wussten also, wie sie schreiben mussten, um zu gewinnen.

Insbesondere in den Erinnerungen aus den 1950er Jahren wird oft ein patriotisches Motiv angeführt, das Beata Halicka so beschreibt: „So sahen sich viele Ostpolen vor der Entscheidung, die Heimat zu verlassen und der patriotischen Pflicht folgend nach Westen zu ziehen, und am Wiederaufbau des Vaterlandes in den neuen Grenzen mitzuwirken…“ (S. 126). Ich bezweifele diese Auslegung, denn die Verfasser dieser Erinnerungen führten ein patriotisches Motiv an, weil sie wussten, was die Organisatoren des Wettbewerbs von ihnen erwarteten. Die Erinnerungen sind nämlich in dem vom Staat propagierten pathetischen Stil abgefasst. Folglich übernahmen die Verfasser die Mythen von den wiedergewonnenen Gebieten sowie vom Wilden Westen und identifizierten sich in ihrer Autobiographie mit dem von der Propaganda lancierten Pionier.

Die von Beata Halicka untersuchten Erinnerungen enthalten neben diesen propagandistisch gefärbten Passagen viele wertvolle Informationen über Gründe und Bedingungen der Umsiedlung sowie über die Lebensbedingungen, denen die Umsiedler in den ersten Jahren auf dem neuen Gebiet begegneten. Die in der Monographie ausgewerteten Memoiren spiegeln die historischen Vorgänge aus der Perspektive einfacher Leute wider. Außerdem vermitteln die zahlreichen Abbildungen im Buch ein plastisches Bild vom Leben der Umsiedler.

Im Jahre 2017 erschien Katarzyna Taborskas Buch Literatura miejsca. Piśmiennictwo postlandsberskie. [Stadtliteratur. Schrifttum aus Landsberg nach dem Krieg] Gorzów Wielkopolski: Wydawnictwo Naukowe Akademii im. Jakuba z Paradyża, 2017. Es entstand in Landsberg an der Warthe in Zusammenarbeit mit zahlreichen dort tätigen kulturellen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Institutionen. Die Autorin hat für ihr Buch Recherchen in polnischen Archiven sowie im Haus Brandenburg der Stiftung Brandenburg in Fürstenwalde durchgeführt. Ferner hat sie direkte Kontakte zu Zeitzeugen hergestellt, zu Deutschen, die sich an Landsberg an der Warthe vor 1945 erinnerten sowie zu neuen Bewohnern, die 1945 und später kamen. Dank deren Entgegenkommen und ihrer Bereitschaft, die Forschung zu unterstützen, konnte sie nicht öffentlich zugängliche, private Archive mit Briefen, Chroniken, Tagebüchern und Bildern einsehen. Taborska gelang es sogar, zu den in privater Hand befindlichen Exponaten aus der bekannten Landsberger Sammlung von Wilhelm Ogoleit, des Buchhändlers und Sammlers von mit Goethe und Schiller verbundenen Artefakten, vorzudringen. Ogoleit besaß übrigens die nach Umfang zweitgrößte Goethesammlung im Vorkriegsdeutschland.

Die Monographie zeigt eine neue Sicht auf die Narration, wie das ehemals brandenburgische Landsberg an der Warthe, größter Ort der Neumark, zum polnischen Gorzów Wielkopolski wurde. Die Autorin nennt diese Periode „postlandbergisch“ und den Ort während der Metamorphose „Post-Landsberg“. Es ist die Zeit, in der noch nicht alle Deutschen die Stadt verlassen hatten, dort die Soldaten der Roten Armee das Regiment führten und allmählich die neuen Bewohner aus verschiedenen Gegenden Polens eintrafen sowie die ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter und Lagerhäftlinge aus dem Westen zurückkehrten. Diese Periode umfasst den Zeitraum vom 30. 1. 1945 bis 1948/49. Die Analyse der „postlandbergischen“ Periode stützt sich auf vielfältige literarische und publizistische Texte sowie Aufzeichnungen von Zeitzeugen wie Notizen, Erinnerungen, Briefen und Tagebüchern, aber auch auf Grabinschriften sowie Inschriften auf Gedenktafeln und Propagandalosungen von unterschiedlichem Umfang in den vier Sprachen Latein, Deutsch, Polnisch und Russisch. Es wurden nicht oder kaum bekannte Texte wie eine Fotoreportage der sowjetischen Propaganda in deutscher Sprache vorgestellt. Die Texte sind schriftliche Zeugnisse des Gedächtnisses der Stadt und zeigen die Selbstdarstellung der Hauptakteure in der postlandbergischen Zeit. Ihre Autoren sind emotional stark mit der Stadt verbundene Landsberger, Neusiedler, die vielfältige Beziehungen zum neuen Wohnort aufzubauen beginnen, und Rotarmisten als Sieger und Eroberer der Stadt. Wichtige Kriterien für die Auswahl der Texte waren Ort und Zeit der Veröffentlichung, d.h. 1945 und die unmittelbare Nachkriegsperiode in der Stadt, welche die Autorin Post-Landsberg nennt. Nicht berücksichtigt wurden in der Analyse später niedergeschriebene Erinnerungen, sondern nur die unter dem Eindruck der Ereignisse vor Ort verfassten Texte. Aus den verschiedensprachigen und verschiedenartigen Texten erhält der Leser einen Eindruck vom Alltag in der Stadt während der gewaltsamen Veränderungen, ohne dass einzelne Aspekte des Dramas überbetont werden. Das Bild der sich verändernden Stadt zeichnet Katarzyna Taborska detailliert und zeigt dabei charakteristische Vorgänge in der untersuchten Stadt und Zeit. Methodologisch stützt sie sich auf Ansätze der historischen Anthropologie mit ihren vertieften Umfragen und kritischen Detailanalysen.

Jede dieser kleinen Geschichten fügt ein Detail zum Gesamtbild von PostLandsberg hinzu, und manche von ihnen stellen sogar eigenständige Werke dar. Ein Beispiel ist die Geschichte des katholischen Priesters Paul Dubianski (1906–1963), des letzten deutschen Pfarrers der einzigen katholischen Gemeinde in Landsberg. Der Gemeindepfarrer kam ins KZ Dachau wegen seiner Predigten, in denen er u.a. für die Juden betete. Er kehrte am 9. Juli 1945 in seine Kirche zurück mit der Absicht, seine seelsorgerische Tätigkeit fortzusetzen. Aufgrund der verschiedenen, im angeführten Buch beschriebenen Streitigkeiten musste der Priester Dubianski aber die Stadt verlassen. Um sich vor der Ausweisung zu schützen, schrieb er einen Brief in deutscher Sprache an den Bevollmächtigten der polnischen Regierung Florian Kroenke. Der Pfarrer gab an, Polnisch lernen zu wollen, und wies auf seinen polnischen Namen hin, der seine polnische Abstammung verrät. Ferner erinnerte er daran, dass er während des Kriegs vielen Polen und anderen Ausländern geholfen habe. Dabei entwickelte er die Vision von einem über nationale Grenzen hinausreichenden Katholizismus. Sein Einspruch rettete ihn dennoch nicht vor der Ausweisung aus der Stadt. Bevor er die Gemeinde verließ, brachte er an verschiedenen Stellen, z.B. an den Bänken in der Kirche, lateinische Texte an, die seine tragische Geschichte bezeugen:

Der letzte Landsberger Pfarrer mit polnischen Namen wurde von einem polnischen Pfarrer mit deutschen Namen aus seiner Gemeinde hinausgeworfen. Ich protestiere gegen meine Ausweisung (S. 98).

Ich denke, dass diese kurze Geschichte den Leser gut in die komplizierte Thematik des polnisch-deutschen/deutsch-polnischen Grenzlands einführt, welche meine Studie behandelt und hoffe, dass das Buch Grenzlandsprache. Untersuchung der Sprachen und Identitäten in der Region Lebus auch in seiner deutschen Fassung mit Interesse aufgenommen wird.

Anna Zielińska, Warschau 24.05.2019

INHALT

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

EINFÜHRUNG

REGION LEBUS UND IHRE BEWOHNER

Wie entstand die Region Lebus?

Schicksal der Bevölkerung in der Region Lebus

Einheimische

Siedler

Zwangsumgesiedelte

Vertriebene

Flüchtlinge

Opfer ethnischer Säuberungen

Unsicherheit und Angst – die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg

Wahrnehmung der Grenze

VON DER DIALEKTKARTE ZUR GRENZLANDSPRACHE –THEORETISCHE PROBLEME DER SPRACHENVIELFALT

Linguistische Studien zu den polnischen Westgebieten

Begriffe und Termini der Kontaktlinguistik

Konzept der Grenzlandsprache

POLNISCH-DEUTSCHE ZWEISPRACHIGKEIT

Soziolinguistische Situation

Polnische Enklave im Deutschen Reich vor dem Zweiten Weltkrieg

Situation der Sprecher außerhalb der polnischen Enklave

Emotionale Bindung an die deutsche Sprache

Bemerkungen zum deutschen Sprachgebrauch

Bewahrung mundartlicher Züge in Neu Kramzig

Polnisch zweisprachiger Personen

ZWEISPRACHIGKEIT DER UKRAINER UND LEMKEN

Soziolinguistische Situation

Merkmale des lemkischen Dialekts und der Mundarten vom San

Identität der Lemken und Ukrainer

Emotionale Bindung an die Sprache

Familien- und Nachbarschaftssprache

Sprache und Religion

Gebrauch des Ukrainischen und Lemkischen

Bewahrung lemkischer Merkmale

Kontaktgestützte morphologische Merkmale aus dem Polnischen

Durch Sprachkontakt verursachte Prozesse

Kodewechsel

Modelle phonetischer Transpositionen

Übertragung grammatischer und phraseologischer Modelle

ZWEISPRACHIGKEIT IN BALKOW

Soziolinguistische Situation

Sprachliche Vielfalt in Polesien

Familien- und Nachbarschaftssprache

Gebrauch der polesischen Mundart in Balkow

Bewahrung mundartlicher Elemente aus Polesien

Folgen des Sprachkontakts

ZWEISPRACHIGKEIT DER BUKOWINER

Soziolinguistische Situation

Mundart der polnischen Goralen in der Bukowina

Charakteristik der Mundart

Bewahrung mundartlicher Elemente

POLNISCH DER SÜDLICHEN KRESY

GRENZLANDSPRACHE IN DER LEBUSER REGION

SPRACHE ALS STIGMA

Erste Phase des Stigmas – Erkennen des Unterschieds

Zweite Phase des Stigmas – Maskierung

Dritte Phase des Stigmas – Folgen der Stigmatisierung

TEXTE

Deutsche Texte

Text 1

Text 2

Text 3

Text 4

Texte aus Neu Kramzig

Text 1

Text 2

Texte mit Primärsprache Deutsch in der Jugend

Text 1

Text 2

Polnische Texte der südlichen Kresy

Text 1

Text 2

Text 3

Polesische Texte

Text 1

Text 2

Text 3

Ukrainische Texte

Text 1

Text 2

Text 3

Lemkische Texte

Text 1

Text 2

Text 3

Text 4

Bukowinische Texte

Text 1

Text 2

Text 3

Text 4

ANHANG

Herkunft der Informanten

Liste der Sprecher und Orte

Bibliographie

Abbildungen

Kartenverzeichnis

NACHWORT DES ÜBERSETZERS

SACHREGISTER

←14 | 15→

EINFÜHRUNG

Das vorliegende Buch1 untersucht und beschreibt die sprachliche Vielfalt in der Region Lebus, welche sich räumlich mit der Woiwodschaft Lebus deckt und im historischen deutsch-polnischen Grenzraum liegt. Dieses Gebiet gehörte in seiner Gänze bis 1945 zum Deutschen Reich. Nach 1945 und in den folgenden Jahren kam es dort zu einem vollständigen Bevölkerungsaustausch. Die vormalige Bevölkerung, Bürger des 3. Reichs, verließ das Land. Sie floh größtenteils Ende Januar 1945 vor der Roten Armee, und der Rest wurde nach 1945 vertrieben oder ausgesiedelt. Nur ein kleiner Teil blieb an der Grenze von 1919 in Bomst und Umgebung, d.h. in Neu Kramzig, Alt Kramzig, Groß Posemuckel, Klein Posemuckel, Groß Dammer und Betsche, wo in Deutschland eine polnische Enklave existierte. Außerdem leben über die ganze Region verteilt noch einzelne Personen, die aus unterschiedlichen Gründen Haus und Hof nicht aufgeben wollten und ausharrten. Nach 1945 kamen zunächst die sogenannten Szabrownicy (Banditen), welche die verlassenen Häuser ausplünderten, und später folgten freiwillige Siedler aus Großpolen, Masowien und im geringeren Umfang aus anderen Teilen Polens sowie Zwangsumsiedler aus den ehemaligen polnischen Woiwodschaften im Osten, die 1945 von der Sowjetunion annektiert wurden2. Hinzu kamen 1947 zwangsumgesiedelte Ukrainer und Lemken aus dem Südosten Polens, die im Rahmen der Aktion Wisła ihre Häuser verloren.

In der Folge entwickelte sich hier eine komplexe Sprachsituation, und es bestanden nebeneinander autochthone Sprachvarietäten: Brandenburgisch, ein ostmitteldeutscher Dialekt, der bis heute von einigen vor dem Krieg geborenen Bewohnern der Woiwodschaft Lebus gesprochen wird, sowie großpolnische Mundarten entlang der Grenze von 1919 in den obengenannten Dörfern bei ←15 | 16→Bomst. Die Dorfbewohner waren zweisprachig und beherrschten neben ihrer großpolnischen Mundart auch Deutsch, das hier bis 1945 Staatssprache war. Nach 1945 kamen weitere Varietäten hinzu, und zwar des Polnischen, Weißrussischen und Ukrainischen aus den östlichen Woiwodschaften der 2. Polnischen Republik sowie aus den nördlichen an die Sowjetunion angeschlossenen Teilen Rumäniens, ferner großpolnische Mundarten aus der Vorkriegswoiwodschaft Posen, masowische Mundarten, darunter aus der Kurpie in Zentralpolen. Mit den während der Aktion Wisła ausgesiedelten Ukrainern und Lemken kamen weitere Varietäten des Ukrainischen und Lemkischen hinzu. In Sprachkontakt traten hier folglich vier im unterschiedlichen Maße miteinander verwandte Sprachen, nämlich Polnisch, Deutsch, Ukrainisch und Weißrussisch sowie verschiedene Mundarten. In Landsberg wohnte außerdem eine größere Gruppe von Roma. Ihre Sprache, die nicht Gegenstand meiner Untersuchung ist, gehört ebenfalls zur Sprachlandschaft.3 Teil der komplizierten kulturellen und sprachlichen Situation in der Region Lebus sind auch kleinere, schon weitgehend verschwundene Gruppen wie die Tataren.4 Piotr Klatta gibt ferner an, dass auf dem Gebiet der gegenwärtigen Woiwodschaft Lebus, und zwar überwiegend in Sorau, vorübergehend 16.000 Juden lebten, die kurz nach dem Krieg alle emigrierten.5

In den ersten Nachkriegsjahren war die Sprache ein Indikator für die Herkunft der Sprecher. Anhand der sprachlichen Merkmale ließen sich die Einen von den Anderen abgrenzen. Besondere Wertschätzung erlangte die polnische Standardsprache als Kommunikationsmittel, weil sie die Herkunft ihres Benutzers verbergen konnte. Die Wahl der Sprache, der Sprachformen, die Art zu sprechen und der Übergang von der Zweisprachigkeit zur Einsprachigkeit waren Teil des Aushandelns der individuellen und Gruppenidentität.

Details

Seiten
470
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631804742
ISBN (ePUB)
9783631804759
ISBN (MOBI)
9783631804766
ISBN (Hardcover)
9783631799277
DOI
10.3726/b16251
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Mehrsprachigkeit Grenzraum Sprachbiografien Sprachliche Identität Vertreibungen und Übersiedlungen Sprachkontakt
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 470 S., 26 s/w Abb., 17 Tab.

Biographische Angaben

Anna Zielińska (Autor:in)

Anna Zielińska ist Professorin am Institut für Slavistik der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Zu ihren Arbeitsgebieten zählen: polnische und slavische Sprachwissenschaft, vornehmlich Dialektologie, Soziolinguistik und Sprachkontakte. Sie ist Autorin von ca. 100 wissenschaftlichen Arbeiten.

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