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Die Literatur der Reformation und die Reformation in der deutschsprachigen Literatur

von Wolfgang Beutin (Autor:in)
©2019 Monographie 368 Seiten

Zusammenfassung

Das Vorhaben des Verfassers ist es, in einer zweiteiligen Untersuchung einen Überblick zu vermitteln über die Literaturgeschichte der Reformation von 1517 bis 1600 und über die Verwendung der Motive «Reformation» wie auch «Luther» in der Literatur des Zeitraums vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Als Textgrundlage hierfür dient das Schrifttum der Reformatoren, der Autoren der Gegenreformation sowie das dichterische und erörternde der Reformationsära und der Folgejahrhunderte. Das wichtigste Ergebnis ist, daß die Autoren der Reformation die Geschichte von Christus als nachrangiges historisches Faktum werten, um der Erkenntnis willen, Jesus sei «ein intrapsychisches Ereignis», das sich in der Seele jeder Gläubigen und jedes Gläubigen noch jederzeit wiederholen könne.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Teil I: Die Literatur der Reformation
  • Einführung
  • Reformationsliteratur: „Aufschrei und Hilferuf“
  • Stand, Stände
  • Aspekte
  • Das Zeitalter der Reformation
  • „Die größte welthistorische That“ der deutschen Vergangenheit
  • „Die Summe einer neuen Weltbewegung“ (Ranke)
  • „Wenn der Papst die Kron’ begehrt, / verderben sicher beide Schwert“
  • Eine Revolution oder keine?
  • „leyen standt“ und „geistlich sta[n]d“
  • Revolution der Bourgeoisie?
  • Die Sickingen-Fehde
  • Der Bauernkrieg
  • Die politische Ordnung für die neue europäische Gesellschaft
  • Zur deutschen Literaturgeschichte seit 1517
  • Die Glaubenskämpfe: dokumentarisches Materia
  • Confessio Augustana und Confutatio
  • Augsburger Religionsfriede
  • „Nicht Faustrecht, sondern Kopfrecht.“ – Luther in seinen Schriften
  • Literaturrevolution?
  • Kampf- oder Programmschriften
  • Predigten
  • Lieder
  • Katechismen
  • Vorreden
  • Randglossen
  • Bibelübersetzung
  • Briefe
  • Tischreden
  • Reformatoren außer Luther, Autoren der Reformation
  • Märtyrer
  • Weltzeit der Unruhe
  • Melanchthon
  • Karlstadt
  • Zwingli
  • Bullinger
  • Calvin
  • Müntzer
  • Die Täufer
  • Autoren der Gegenreformation
  • Eck
  • Erasmus von Rotterdam
  • Murner
  • Emser
  • Cochläus
  • Daniel von Soest
  • Gegenreformatorische Flugschriften
  • Das Reformationsthema in Dichtung und erörternder Literatur
  • Reformationsliteratur als ‚schöngeistige‘ Literatur?
  • Hutten
  • Hans Sachs
  • Wickram
  • Fischart
  • Lyrik
  • Drama
  • Flugschriftenliteratur / Reformationsdialog
  • Legende, Biographik, Geschichtsschreibung, Epik
  • Teil 2: Die Reformation in der Literatur
  • Die „ersten Stufen der gebrochnen Freiheitsbahn“ (17. Jahrhundert)
  • Erfolg oder Mißerfolg „von des christlichen Standes Besserung“?
  • Vom Mangel an Schönheit und echter Poesie
  • Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit
  • Momente geistlich-geistiger Gedankenwelten
  • Theologie, Theorie, Erörterung
  • Glaubensvorstellungen in der Belletristik
  • „Die Welt ist nunmehro viel aufgeklärter“ (18. Jahrhundert)
  • Die Reformation als geistige Revolution
  • Geistesgeschichtliche Strömungen in der Aufklärung
  • „Niemand erscheine ohne Ehrerbietung vor Luthern“
  • Von der Romantik zum Nachmärz (19. Jahrhundert)
  • Zwischen Konservatismus und Liberalismus
  • Reformation, Romantik, Realismus
  • Zwischen Schmähung und Rühmung
  • Konfessionelle Lutherbilder des 20. Jahrhunderts
  • Die Ich-Revolution
  • Nachwort
  • Literaturverzeichnis
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

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Teil I: Die Literatur der Reformation

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Einführung

Reformationsliteratur: „Aufschrei und Hilferuf“

Der Begriff „Reformationsliteratur“ ist nicht eindeutig, sondern wird unterschiedlich gebraucht, in engerer und weiterer Verwendung.

In engster Bedeutung bezeichnet er die literarische Produktion der Reformatoren sowie der Parteigänger der Reformation, eine kompakte Gruppe theologischer Schriften.

Im weiteren Sinne gehören zur Reformationsliteratur mehrere Gruppen literarischer Veröffentlichungen vor allem in dem Zeitraum zwischen Luthers Ablaß-Thesen und dem Augsburger Religionsfrieden (1517–1555). So faßte Helmut Weidhase in seinem Artikel „Reformationsliteratur“ an Textvorräten auch darunter: 1. die Schriften des Bauernkriegs; 2. das gegenreformatorische Schrifttum; 3. vorreformatorische Werke, „die als histor[ische] Rechtfertigungen und aktualisierte Informationsmittel im Glaubenskampf eingesetzt wurden“. Müßte vielleicht die gesamte Literaturproduktion der Ära von 1517 bis 1555 als Reformationsliteratur qualifiziert werden? Weidhase schrieb: „Da es in dieser Periode kaum eine literar[ische] Publikation gab, die nicht die Thematik der Glaubensauseinandersetzungen behandelte, oder berührte (‚luther[ische] Pause der deutschen Literatur), kann man unter R[eformationsliteratur] nahezu sämtliche diesem Zeitraum angehörende literar[ische] Erscheinungen in lateinischer und deutscher Sprache verstehen.“1

Daß die Historiographie bei Darstellung der erwähnten Zeitspanne gut daran tue, die literarische Produktion einzubeziehen, verdeutlichte bereits Leopold von Ranke in seinem voluminösen Hauptwerk: „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ (1839–1847). Unter dem Titel „Entwickelung [!] der Literatur“ gab er im letzten Kapitel (5,365–391) einen komprimierten Überblick, den Beweis, daß er über einen umfassenden Literaturbegriff verfügte. Die radikale Tendenzliteratur des Zeitalters, deren Inhalte er strikt abwies, überging er doch nicht mit Schweigen, sondern er versuchte, ihr mit Sachlichkeit gerecht zu werden: „Damals war mit der allgemeinen Bewegung der Geister auch ein Versuch verknüpft, das Joch der Zucht, die Regel der antiken Disziplin, ja Kirche und ← 13 | 14 → Staat von sich abzuwerfen. Die münzerischen Inspirationen, die sozialistischen Versuche der Wiedertäufer und die paracelsischen Theorien entsprechen einander sehr gut; vereinigt hätten sie die Welt umgestaltet.“ (5,372 f.) Auch sträubte er sich keineswegs, Werken mit weltanschaulicher oder konfessioneller Tendenz durchaus uneingeschränkten Kunstcharakter zuzubilligen, ja, gerade ihnen sprach er den höchsten zu: „Von den künstlerischen und poetischen Hervorbringungen dieser Zeit haben wohl diejenigen überhaupt den meisten Wert, welche die religiöse Gesinnung aussprechen.“ (5,388) Als Beispiel dafür benannte er das Kirchenlied.

Von Renate Noll-Wiemann stammt ein Beitrag: „Reformationsdichtung“, im Titel mit einem Terminus, den sie deckungsgleich mit „Reformationsliteratur“ gebrauchte. Infolgedessen finden sich in ihrer Untersuchung manch zweifelhafte Zuweisungen, indem bei ihr zu den ausgesprochen dichterischen Erzeugnissen ebenfalls Texte rechnen, die zur Formenwelt der Flugschriften, Streitschriften, Traktate, des Sprichworts, des Briefs und des Sendschreibens gehören (in: Krywalski, S. 400). So berechtigt es ist, Schrifttum dieser Art zur Reformationsliteratur zu zählen, verdienen die wenigsten von ihnen jedoch die Bezeichnung „Dichtung“.

Wenn bei Bestimmung des Begriffs „Reformationsliteratur“ Unsicherheiten aus dem Bestandteil „Literatur“ und dessen Verhältnis zu dem Terminus „Dichtung“ resultieren, entstehen andere aus der Deutung des Bestandteils „Reformation“. Ein Beispiel. Interpretiert man den Bauernkrieg als Bestandteil des vielgestaltigen geschichtlichen Konglomerats, der Reformation, bilden die Schriften des Bauernkriegs zugleich ein Element der Reformationsliteratur.

Interpretiert man ihn als ein primär politisches Ereignis, mehr oder minder abgetrennt von der Reformation, die man ihrerseits ausschließlich als geistig-geistliches verstünde, würden offenbar immer noch Luthers Stellungnahmen von 1525 zur Reformationsliteratur zu zählen sein, aber nicht die Lieder aus dem Bauernkrieg, während der Kämpfe entstandene säkulare Reformentwürfe usw., welche als Bestandteile der säkularen Literaturgeschichte der Epoche gelten müßten.

Würde man Teilen der Luther-Literatur in der Bundesrepublik folgen, so hätte es keinerlei Verbindung zwischen dem Bauernkrieg und dem Reformator gegeben, weswegen dann der Literatur des Bauernkriegs tatsächlich keine Stelle in der Reformationsliteratur zukäme. Kurt Aland notierte: „Nun ist es richtig, daß sich die Bauern – etwa in den Zwölf Artikeln der Bauernschaft in Schwaben – auf das Evangelium berufen und aus Luthers Freiheit eines Christenmenschen für sich die Freiheit von Leibeigenschaft und allen drückenden Abgaben ableiten. ← 14 | 15 → Aber darauf, daß die so interpretierte ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ mit Luther schlechterdings nichts zu tun hat, braucht hier wohl nicht eingegangen zu werden. Und auch sonst besteht der Kausalzusammenhang, der zwischen Luther und dem Ausbruch wie dem blutigen Ausgang des Bauernkriegs hergestellt wird, nicht zu Recht.“ (In: Fassmann, S. 169)

Es bleibt aber doch prinzipiell die Frage, ob die durch zeitgenössische Autoren damals vorgetragene – selbst auch verfälschende – Deutung von Schriften des Reformators nicht dennoch zu seiner Rezeptionsgeschichte gezählt werden sollte. Nicht zuletzt die Literatur des Bauernkriegs. Andernfalls zerrisse ja der Konnex zwischen dieser und den direkt darauf bezogenen Schriften Luthers. An anderer Stelle findet sich Alands methodologische Anweisung, den vorhandenen Zusammenhang zwischen der säkularen Geschichte sowie der Religionsgeschichte derselben Epoche nicht zu mißachten. Dies – sein eigenes – Plädoyer könnte hier gegen seine Abtrennung des Bauernkriegs von der Reformation in Stellung gebracht werden. Er schrieb: „Die allgemeine Politik, ja selbst die Territorialpolitik und die Geschichte der Reformation sind enger miteinander verbunden, als es nach der Kirchengeschichtsschreibung manchmal scheinen will, welche die Ereignisse im Raum der Kirche nicht selten isoliert auffaßt und würdigt.“ Aber: Unter die „allgemeine Politik“ fällt gerade auch der Bauernkrieg, und somit wäre seine Verbindung mit der Reformation nicht zu bestreiten. Aland scheint jedoch unter der „allgemeinen Politik“ vor allem einmal oder überhaupt nur die Politik der ‚Großen‘, insbesondere der Fürsten zu verstehen. Seine Forderung läuft darauf hinaus, die säkulare Politik und die Vorgänge im kirchlichen Bereich nicht abgelöste von einander zu betrachten, ohne nun jedoch den Akzent bevorzugt auf die weltliche Dimension der Vorgänge zu setzen: „Allerdings heißt das nicht, daß man die Ausbreitung der Reformation und die Entscheidung der einzelnen Fürsten für sie ausschließlich unter politischem Vorzeichen unterbringen könnte, wozu wiederum die Profanhistorie neigt, die ihrerseits bestimmte Aspekte der Reformationsgeschichte nicht selten ganz übersieht oder zu gering einschätzt …, sich dadurch den vollen Zugang zum Verständnis der Reformation versperrend.“ (Ebd., S. 162)

Gegen den Usus, die Reformation und den Reformator Luther ausschließlich oder zumindest primär unter dem kirchenhistorischen und theologiegeschichtlichen Aspekt zu würdigen, sprachen sich gleichzeitig in der DDR Historiker aus, die sich in der historiographischen Tradition seit Friedrich Engels wußten.2 So äußerte in seiner Luther-Biographie Gerhard Zschäbitz in Bezug auf den ← 15 | 16 → Reformator: „Martin Luther einseitig von seinen religiösen Erkenntnissen her werten zu wollen – ihn gleichsam aus der Gesellschaft seiner Zeit in einen ‚luftleeren‘ Raum zu versetzen und seiner Umwelt nur Koloritcharakter zuzugestehen, verkürzt und verarmt seine historische Bedeutung.“ (S. 5)

Das eine nie ohne das andere. Das kirchengeschichtliche Ereignis nicht ohne Rücksicht auf die Profanhistorie der Ära, die Profanhistorie nie ohne Rücksicht auf die kirchengeschichtliche. Herbert Wolf schrieb eine „Einführung in germanistische Luther-Studien“ und versicherte: „Gewiß sollen auch Leser mit ausschließlich germanistischen Interessen Luthers Schaffen keinesfalls ganz losgelöst vom Kontext seiner theologischen Grundlagen und (kirchen)geschichtlichen Verhältnisse kennen lernen. Doch durfte ich dabei die literatur- und sprachwissenschaftlichen Erfordernisse nicht schmälern.“ (S. IX)3 Sowenig die profangeschichtliche und kirchenhistorische Sicht von einander zu lösen waren, so wenig die Sicht einer Einzeldisziplin wie der Germanistik von der grundlegenden Theologiegeschichte.

Daß die Hauptströmung der Forschung in der DDR darauf hinauslief, die Reformation nicht als isoliertes kirchengeschichtliches Ereignis zu betrachten, zeigte sich sehr deutlich etwa 1975 im Jahr des 450. Jubiläums des Bauernkriegs. Das Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR veranstaltete vom 21. bis zum 23. Januar ein Kolloquium: „Renaissance – Bauernkrieg – Reformation“. Was untersucht werden sollte, war: „Deutsche und europäische Literatur im Spannungsfeld der frühbürgerlichen Revolution“. Wie komplex während dieser Tagung der Untersuchungsgegenstand gewählt werden konnte, demonstrierte dort z. B. Robert Weimann: „Der Referent faßte die Beziehungen von Renaissance-Literatur und politisch-sozialer Revolution in vier Hauptaspekten zusammen: 1. die internationale Vorgeschichte, 2. die objektive und mittelbare Vorbereitung der frühbürgerlichen Revolution durch die Literatur des Humanismus, 3. der unmittelbare programmatische und agitatorische Beitrag der volkssprachlichen Literatur zur Vorbereitung und Verteidigung der Reformation und des Bauernkrieges, 4. die spezifisch literarischen Resultate der Verarbeitung der Probleme, Widersprüche und Fragestellungen der revolutionären, aber auch der kulturellen Bewegung des Volkes.“4 Im selben ← 16 | 17 → Jahr 1975 beschrieb Werner Lenk die radikalisierte Funktion der Literatur im Zeitabschnitt 1517–1525 und ihren Konnex mit den Schritten der Reformierung und Revolutionierung: „Jede vorgesehene Veränderung (Einrichtung eines gemeinen Kastens, Auflösung der Klöster und Orden, Einrichtung von Schulen, Abschaffung von Wallfahrten u. a. m.) wurde in der Literatur diskutiert, zur Nachahmung empfohlen, begründet und erläutert. Die Literatur wurde auf diese Weise zur Dokumentation und zum Medium der Kommunikation vorbildlichen revolutionären Handelns.“5 Soweit Reformationsliteratur im Kern besagte: „der unmittelbare programmatische und agitatorische Beitrag der volkssprachlichen Literatur zur Vorbereitung und Verteidigung der Reformation“, erlosch sie nicht zugleich mit der Niederlage der Bauern im Bauernkrieg, sondern existierte weiter bis zum Jahrhundertende und darüber hinaus: „Am Ende des Jahrhunderts sehen wir den Kampfgeist neu entflammt bei Johann Fischart, und auch die deutsche Dichtung des 17. Jahrhunderts weiß sich beauftragt von Martin Luther und der Reformation, weiß sich gefordert zur geistigen Auseinandersetzung mit der Gegenreformation.“ (Im Aufsatz über Martin Luther, S. 1884)

Herbert Wolfs „Einführung in germanistische Luther-Studien“ erschien kurz vor 1983, dem Jahr, worin der 500. Geburtstag des Reformators Luther in beiden deutschen Staaten gefeiert wurde. Sie enthält auch ein detailliertes Kapitel „Luthers literarisches Werk“ (S. 112–172). Hierin vernimmt man das pejorative Urteil über den Kunstwert der Reformationsliteratur: „Die Reformationsliteratur hat, von neulatein[ischen] Gedichten abgesehen, wenig Werke von ästhetischem Rang und überzeitlicher Geltung hervorgebracht.“ Indes setzte derselbe Verfasser der Favorisierung der ästhetischen Beurteilung eine eigene relativierende Beobachtung entgegen: „Neben den vorwiegend von der poetischen Leistung ausgehenden Würdigungen sind in den letzten Jahren einige literarhistorische Arbeiten erschienen, die stärker den Funktionswandel des mit L[uther] auftretenden Schrifttums berücksichtigen. Darin wird etwa betont, daß die ästhetische Qualität nicht der entscheidende oder gar der einzige Maßstab für den Literaturwissenschaftler sein kann. Läßt sich doch gerade am Beispiel des schriftstellerischen Wirkens L[uthers] und von ihm beeinflußter Autoren ablesen, welch bedeutsame Rolle Erscheinungen wie Engagement, Rezipientenbezug, Massenproduktion, Breitenstreuung im literarischen Leben spielen.“ (S. 166 u. 172)

Erwähnt Wolf hier die neulateinische Dichtung des Reformationszeitalters, so berührt er damit eine weitere Problematik der Reformationsliteratur: ihre Zweisprachigkeit, den Dualismus der Volkssprache in den einzelnen europäischen ← 17 | 18 → Ländern im Gegensatz zur neulateinischen Sprache der Gelehrten. Neulatein bildete sowohl die Sprache wissenschaftlich-theoretischer Erörterungen als vielfach auch der Poesie.6 So z. B. ist ein hoher Anteil in Luthers Schaffen seine lateinische Produktion; quantitativ ein geringerer im Vergleich zu seinem in deutscher Sprache abgefaßten Werk, jedoch unter dem Aspekt der inhaltlichen Gewichtigkeit ein gleichrangiger.7 Bei seinem engsten Mitarbeiter, Melanchthon, ist schon das Latein die fast allgemein verwendete Sprache; seine in deutscher Sprache vorliegenden Schriften bilden dagegen nur einen bescheidenen Anteil. Die vorhandenen Forschungsarbeiten zur Reformationsliteratur bezeugen, daß die Verfasser das Schrifttum in deutscher Sprache entweder überwiegend oder sogar allein heranzogen haben. So bat auch Herbert Wolf um Nachsicht dafür, daß er „die bedeutende Rolle des Lateinischen in Luthers Schaffen nur beiläufig“ zu berücksichtigen vermochte (S. IX). Daß dies Verfahren dem Ratschlag eines Melanchthon durchaus nicht entsprach, kann man dessen Wittenberger Antrittsvorlesung entnehmen (1518), worin er die Erlernung der alten Sprachen forderte, mit dem Ergebnis: „Dann wird sich uns die Schönheit und die eigentliche Bedeutung der Worte erschließen, und es wird uns wie am hellen Mittag der wahre und echte Schriftsinn aufgehen.“ (Zit. in: Trillitzsch, S. 511) Die Kenntnis der alten Sprachen sei also nicht nur eine Sache der Form, sondern zugleich des Inhalts. Ein heutiges Lesepublikum der Reformationsliteratur, das sich fünf Jahrhunderte von deren Entstehungszeit getrennt weiß, muß sich bei Lektüre selbst der deutschsprachigen Werke von damals ohnehin der Mühe unterziehen, sich die „eigentliche Bedeutung“ des alten deutschen Wortmaterials anzueignen. Dafür steht ihm eigens eine sprachwissenschaftliche Disziplin zur Verfügung: die Semasiologie.

Auch beim Arbeiten an der semasiologischen Problematik der Reformationsliteratur zeigt es sich wiederum, daß die Verhältnisse – des Wortmaterials, der Terminologie, der Stilistik – aufzuhellen sind nur mit gleichzeitiger ← 18 | 19 → Berücksichtigung geistes- und kirchengeschichtlicher sowie profanhistorischer und sozialkritischer Kategorien. Hierfür ein Beispiel.

Stand, Stände

Das Substantiv „Stand“ gehört in der deutschen Sprache seit alters bis heute zu den Lexemen mit einer außerordentlichen Vielzahl von Bedeutungen. Eine erste Gruppe davon ist stark angelehnt an diejenige des Verbums, vom dem das Substantiv sich herleitet: ‚stehende Stellung, festes Stehen, Höhe‘ (z. B. „des Wasserstands“)‘ usw.; eine zweite Reihe von Bedeutungen bezieht sich auf die ‚soziale, gesellschaftliche, berufliche Stellung, auf den Rang und die Würde einer Person oder Personengruppe‘ usw. sowie auf die Position in der Familie („Ehestand“). Zu dieser Gruppe von Bedeutungen rechnet nicht zuletzt auch eine historisch-soziologische: ‚die drei [Reichs]stände – Adel, Geistlichkeit, Bürgertum –‘; in der Französischen Revolution ‚der vierte Stand‘ – Arbeiter und Bauern –; ‚der bürgerliche Stand, der geistliche Stand‘, ‚die höheren Stände, die niederen Stände‘ (Wahrig, Sp. 3388 f.). Mit diesem Tableau der Bedeutungen des Substantivs vor Augen, zu dem noch eine erhebliche Menge weiterer Äquivalente kommt, tritt man ein in die Problematik, die sich der heutigen Leserschaft beim Verständnis des Lexems im Titel von Luthers berühmtester Programmschrift stellt:

An den Christlichen Adel // deutscher Nation: von des // Christlichen standes // besserung: D. Martinus // Luther // Vuittenberg. //8

Die Forschung ist sich einig, daß der Adressat nicht nur die Aristokratie des Reiches sei, sondern daß der Verfasser seine Botschaft an sämtliche säkularen Autoritäten der Epoche in Deutschland richtet. Das sind also die Reichsstände, ausgenommen davon die Geistlichkeit, so daß demnach der Kaiser und die weltlichen Fürsten, der Adel und das Bürgertum verbleiben, dies letztere repräsentiert durch die Magistrate der Städte.9 Allen, dem Kaiser, dem Adel und dem Bürgertum, schrieb Luther das Prädikat „christlich“ zu. So weit plausibel. Indes ← 19 | 20 → er nahm dasselbe Adjektiv in dem Titel noch einmal auf; erstens erscheint es also in der Adressierung an den „Christlichen Adel“, zweitens begegnet es – ebenfalls im Titel – als Element in der Angabe des Themas: „von des // Christlichen standes // besserung“. Was aber bedeutet hier die „besserung“ „des // Christlichen standes“, wo ist jener christliche „Stand“ zu suchen, um wen oder was handelt es sich bei ihm, und in welchem Verhältnis befindet er sich zum „Christlichen Adel // deutscher Nation“?

Um die Bedeutung der in der Schrift von Luther verwendeten Begriffe zu ermitteln, empfiehlt es sich, sie in ihrem Zusammenhang zu überprüfen. Zunächst schon einmal im Text der Widmung an Nicolaus von Amsdorf. Hier teilt der Verfasser über das Ziel seiner Bemühung mit:

Im Vergleich mit dem Titel erscheint hier eine weitere Bezeichnung einer damaligen Gegebenheit: „Kirche“. Diese fiel damals zusammen mit dem Kollektiv „Christenheit“ und war keine Einrichtung neben dieser, etwa wie in der modernen Gesellschaft eine Kirche bzw. Kirchenpluralität in Abgrenzung zur säkularen Gesellschaft besteht. Sonst wiederum existieren: der Adel deutscher Nation / der christliche Stand (in: „Christlichs stands besserung“) / „leyen standt“ / „der geistlich sta[n]d“. In welchem Verhältnis nun stehen in Luthers Sicht die einzeln benannten Institutionen zu einander?11 Unbezweifelbar ist der „leyen standt“ mit dem Adressaten identisch. Er wird angeredet als derjenige, der imstande wäre, dem Versagen des geistlichen Stands entgegenzuwirken. Durch jenen muß die Besserung vollbracht werden, weil dieser, zu dessen Kompetenzen es gehören sollte, sie vorzunehmen, seine Aufgabe vollkommen vernachlässigt. Was aber ist der geistliche Stand?

Zu Beginn des eigentlichen Texts seiner Schrift benutzt Luther, über die Benennung einzelner Institutionen hinausgehend, die Bezeichnung eines umfassenden Kollektivs: „alle stend der Christenheit“. Hier heißt es:

„Es ist nit ausz lautter furwitz noch freuel geschehenn / das ich eyniger armer mensch mich vnterstanden / fur [angesichts] ewrn hohen wirden zu redenn / die not vnd beschweru[n]g / die alle stend der Christenheit / zuuvor deutsche Landt / druckt / nit ← 20 | 21 → allain mich / szondern yderman bewegt hat / viel mal zu schreyen vnd hulff begere[n] …“ (Ebd., S. 97)

Sah und sieht die Forschung sich legitimiert, zur Feststellung der Funktion von Reformationsliteratur an deren agitatorisches Potential zu erinnern, die Unterhaltung und Fortführung des reformatorischen „Kampfgeistes“ als eine von deren Zweckbestimmungen identifizierend, so konnte, wie an der hier zitierten Textpassage des Reformators zu erkennen, auch er bereits mindestens eine seiner Publikationen, immerhin die wesentliche seiner Programmschriften als ‚Aufschrei‘ und ‚Hilfsbegehren‘ klassifizieren.

In der Folge benutzte Luther in derselben als Äquivalent für den Begriff der Macht, wie von beiden Ständen geübt, dem weltlichen und dem geistlichen, das Lexem „gewalt“: Die Anhänger der römischen (Papst-)Kirche schützen sich, so legte er dar, vermittels dreier Mauern gegen die Versuche von außerhalb, sie zu reformieren:

Sie fassen also die auf Besserung der Christenheit gerichtete Bemühung weltlicher Mächte als illegitimen Eingriff auf, den sie mit der Behauptung abwehren, ihre – der römischen Kirche – Macht sei jeglicher weltlichen übergeordnet. Eben dieser Behauptung widerspricht Luther mit dem Argument, Machtausübung der Kirche – der Christenheit in ihrem Binnenraum – sei unter keinen Umständen rechtens, es sei denn zu einem einzigen Zweck:

Das Lexem „Stand“ erscheint im Luther-Text durchaus auch in einer modernen Bedeutung, nämlich als Synonym für den heutigen Ausdruck ‚Beruf‘. In diesem Sinne seien wir „alle priester“ durch die Kraft der Taufe, predigt Luther – was will das besagen? „Solche grosz gnad vnd gewalt der tauff vn[d] des Christlichern stands“ eigneten allen Christen, oder sollten ihnen eignen, vorausgesetzt, sie – die durch Gott erwiesene Gnade und Kraft der Taufe – wären nicht durch das geistliche Recht gänzlich niedergelegt und vergessen gemacht. Was wäre nämlich der Beruf des Priesters?

Fazit: Geistlichen Standes sind sämtliche Christen durch Gottes Gnade und Taufe. Ihre Gesamtheit bildet den „gantzen corper der christenheit“. Der Unterschied zwischen Klerus und Laien fällt dahin. Jeder christliche Laie ist zugleich auch Priester, Luther lehrt das Priestertum aller Gläubigen.12 Ein genuiner Priester ist anders, als es die Papstkirche anordnet, keineswegs durch die Weihe mit einem „character indelebilis“ [mit einem unzerstörbaren Charakter] ausgestattet und somit nicht für allezeit zu einem Lebewesen erhöhten Ranges umgebildet. Er unterscheidet sich von den übrigen Christen ausschließlich durch Ausübung des geistlichen Amtes oder Berufs, kann auch durch Absetzung aus diesem entfernt werden.13 Ein geistlicher Stand wie zuvor – eine Art kirchlicher Schutz- oder Elitetruppe eigenen Rechts – existiert nicht mehr. Die Eliminierung des Sakraments der Priesterweihe war ein Teilvorgang in dem Gesamtereignis der Reformation, eine Operation, wodurch der Römischen Kirche eine unentbehrliche Basis entzogen wurde. Bainton urteilte: „Die Ablehnung der Priesterweihe als eines Sakraments vernichtete das klerikale Kastensystem und schuf eine sichere Grundlage für das Priestertum aller Gläubigen …“ (S. 131) Bestand jedoch die Römische Kirche nach der Reformation und noch bis in die Gegenwart auf der unüberwindlichen Kluft von Klerus und Laien, so blieb dies, wie Peter Eicher konstatierte, unter dem theologischen Aspekt sündhaft: „Das ständische Festhalten an der hierarchischen ‚Wesensverschiedenheit‘ von Klerus und Laien, die als eine gottgegebene ‚ontologische‘ Struktur der Kirche ausgegeben wird, darf heute durchaus als die strukturelle Sünde der römisch-katholischen Kirche ← 22 | 23 → bekannt werden.“ (S. 154)14 Und auf der anderen Seite vertrat die Reformation das Neue. Was war es? Walther von Loewenich formulierte: „Das Neue bei Luther besteht in dem fundamentalen Angriff auf das hierarchische System.“ (Zit. in: Günther Wolf, S. 132)

Details

Seiten
368
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631794487
ISBN (ePUB)
9783631794494
ISBN (MOBI)
9783631794500
ISBN (Hardcover)
9783631793039
DOI
10.3726/b15837
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Lutherbilder Gegenreformation Theologie Dreißigjähriger Krieg Gattungsgeschichte Religionspsychologie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 363 S., 4 Tab.

Biographische Angaben

Wolfgang Beutin (Autor:in)

Wolfgang Beutin, Privatdozent an der Universität Bremen. Zuvor Gastprofessor in Göttingen, Universitätsdozent in Hamburg, Gastdozent und Lehrbeauftragter an den Universitäten Oldenburg und Lüneburg. Wissenschaftliche Veröffentlichungen, u. a. zur Literaturgeschichte des Mittelalters und der Reformation sowie des 19. und 20. Jahrhunderts.

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