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Zur Poetologie der «stanzen» Ernst Jandls

von Lydia Haider (Autor:in)
©2019 Dissertation 106 Seiten

Zusammenfassung

Wie kann ein möglichst genaues und vollständiges Bild der stanzen-Poetologie aussehen? Dieses Buch unternimmt eine ausführliche Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse als Grundlage für die daran anschließende Analyse der Performance, der unveröffentlichten stanzen-Texte, der Beziehungen der Texte im stanzen-Band und in peter und die kuh sowie für die Erörterung eines durchgängigen «Dritten»-Motivs. Gleichermaßen werden literaturkritische Fragen beleuchtet, unter anderem: Warum sind die stanzen immer wieder lesbar? Was macht sie zu Literatur? Worin liegt ihre Außergewöhnlichkeit? Die CD most der Band Attwenger wird ebenfalls betrachtet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Nur „a glaana/literarischer schmäh“?
  • 2 Zur Poetologie der stanzen
  • 2.1 Zur Entstehung: Äußere Faktoren
  • 2.1.1 Niederschrift und Edition
  • 2.1.2 Einflussfaktoren
  • 2.1.3 Bedeutung im Gesamtwerk Jandls
  • 2.2 Thematische Ebene
  • 2.3 Sprachliche Ebene
  • 2.4 Formale Ebene
  • 2.4.1 Orthographie und Schriftbild
  • 2.5 Pragmatische Ebene
  • 2.6 Performance
  • 2.6.1 Sprechgewohnheiten und Stimme
  • 2.6.2 Text und Musik
  • 2.6.2.1 Allgemeines zur Aufführung mit Erich Meixner
  • 2.6.2.2 Erweiterung über Musik
  • 2.6.2.3 Verletzung der Situationsangemessenheit über Musik
  • 2.6.2.4 Musikalische Besonderheiten
  • 2.6.3 Inszenierung
  • 2.7 Das Entstehen eines „Dritten“ als poetologisches Konzept?
  • 2.8 Betrachtung der unveröffentlichten Stanzentexte
  • 2.8.1 Sofort verworfene Texte
  • 2.8.2 Überarbeitete und dann ausgeschiedene Texte
  • 2.8.2.1 Stanzen zum „Herschenken“
  • 2.8.2.2 In Mappen abgelegtes Material
  • 2.8.3 Unmittelbar vor der Veröffentlichung noch verworfene Stanzen
  • 2.8.4 Fazit
  • 2.9 Stanzen in peter und die kuh
  • 3 Jandls stanzen und die CD most der Band Attwenger
  • 3.1 Entstehung und Beeinflussung
  • 3.2 Text- und Musikanalyse
  • 4 Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Allgemeine Sekundärliteratur
  • Sekundärliteratur zu den stanzen
  • Rezensionen
  • Interviews
  • Discographie
  • Filmographie
  • Internetquellen
  • Sonstiges

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1 Nur „a glaana/literarischer schmäh“15?

Ernst Jandl übertritt mit den stanzen auf doppelte Weise eine gesellschaftlich definierte Grenze und begibt sich in einen Tabubereich: mit der Thematisierung und Beschreibung gesellschaftlich nicht akzeptierter Vorgänge oder Gegenstände über die Form des Dialekts.16 Gefährlich ist das dahingehend  – so Franz Josef Czernin  – da in oder mit den stanzen „das Wechselspiel der Identität mit und der Unterscheidung von ihrem Gegenstand nicht auf angemessene Weise vollzogen werden kann“, und das eben in einem Tabubereich „mit äußerst heftigen Empfindungen oder mit stark wirksamen Werturteilen beziehungsweise Regelungen, etwa Verboten, verbunden“17 ist. Kann als zentraler Aspekt der so markanten Radikalität der Texte das unverhältnismäßig hohe Maß an „Identifikation der Darstellung mit dem Dargestellten oder des Dargestellten mit der Darstellung“18 gesehen werden?

In vielen Fällen ist dieses angemessene Maß, so Czernin, auch mit dem „gelingen“ oder „misslingen“ von Texten verknüpft19 und hinsichtlich der Stanzentexte führt das möglicherweise dazu, dass etwa Fritz Popp auch Stanzen findet, „deren Banalität schwer zu übertreffen ist“20 oder die Neue Kronen Zeitung Jandls böse Gstanzln21 titelt.

Gleichermaßen kann hier auch das Gegenteil der Fall sein, indem „die Distanzierung, die semiotische Differenz vom Gegenstand, allzusehr die Oberhand gewinnt“22 und die in vielen Bereichen gewohnte Nähe einfach nicht zustande kommen kann. Ist es die „Komplexität des Verhältnisses“, so Czernin, von Darstellung und Dargestelltem, die an den stanzen bewegt? Diese Annahme ←11 | 12→berücksichtigt auch die Rolle der Rezipierenden, denn liegt auch die Basis dafür im Text und dessen Bauweise, so trägt doch auch die individuelle Konstitution der Lesenden dazu bei, wie sehr das Zeichen mit dem Gegenstand in Verbindung zu bringen ist. Dennoch liegt gemäß Czernin der Schlüssel im Text, denn die stanzen brechen bewusst mit dem „richtigen“ Maß von Identifikation und Distanzierung, und in diesem Sinn auch bewusst mit den Kategorien „gelingen“ oder „misslingen“.23 Das kann eine Antwort  – von vielen  – auf die Frage, warum die stanzen radikal sind, sein. Sie lassen den Lesenden, was deren eigenes Maß der Beziehung von Darstellung und Dargestelltem betrifft, wenig Spielraum. Die Rezipierenden können das nicht oder schwer umgehen, es bedeutet, dass sie sowohl ihre Werturteile, als auch Nähe oder Distanz zum Beschriebenen, nicht unter Kontrolle haben. Die stanzen sind somit nicht nur in Bezug auf deren Inhalt oder Sprache radikal, sondern auch, weil sie den Lesenden in dieser Hinsicht keine Freiheit geben. Den selbstbewussten und selbstbestimmten LeserInnen unserer Zeit mag das zu akzeptieren schwerfallen, vergleichbar etwa mit dem Annehmen der These Sybille Krämers, wonach der Sprache immer ein Moment von Gewalt inne ist.24 Sprache ist immer ein Machtfeld25  – und das auf allen Ebenen, und in diesem Fall sind die Texte stärker oder den Lesenden überlegener, als das bei vielen anderen sichtbar wird: Die stanzen sind radikal, da sie die Rezipierenden wie ein starker Strom einfach mitreißen, ohne ihnen die Möglichkeit zu lenken zu geben  – oder wenn nur eingeschränkt  – und lediglich ein Ausstieg möglich ist. So wie später für viele andere Ebenen des Textes noch gezeigt wird, liegt auch hinsichtlich der Rezeption eine dualistische Struktur vor, nämlich sich entweder auf die stanzen wie ein Segelflugzeug auf den Wind einzulassen oder am Boden zu bleiben. Eine „dritte“ Variante gibt es hier nicht. Jandl selbst beschreibt diese Situation in einer Stanze so:

pfui deife, deine witz

hom ned amoe an schlitz

wo rä einegräun kunt

vua dän schdinkadn mund26

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Im Nachlass Ernst Jandls befindet sich ein Blatt mit einem Entwurf zu einem  – jedoch dann wieder verworfenen  – Untertitel zu den stanzen: „STANZEN / ‚ein zartes verletzliches Buch‘ / da es mit bürgerlichen Konventionen in Konflikt gerät“27. Die stanzen sind radikal, aber gerade das macht sie angreifbar, und wie Jandl es nennt „verletzlich“  – wobei sich das „verletzliche Buch“ auch auf die Eigenschaft, selbst zu verletzen, bezieht. Gleichzeitig zeigt der geplante Untertitel auch die zentrale Funktion oder das zugrunde liegende Programm der Texte: mit bürgerlichen Konventionen in Konflikt zu geraten.

Obwohl oder gerade weil die stanzen von Radikalität geprägt sind, sind sie innovativ und immer wieder neu lesbar. Wie bereits eingangs erwähnt, ist diese Innovation als Individualität zu verstehen und weniger als bewusst sich von der Produktion der Zeit abhebend. Was macht diese Innovation nun aus? Inhaltlich, da tabuisierte Bereiche thematisiert werden, sprachlich, da sich Jandl einer eigens kreierten Sprachform bedient und diese nicht einer automatisierten Form unterwirft28, innerhalb seines Werkes gesehen auch deshalb, weil er eine absolut neue Form aufgreift und die stanzen einen Wendepunkt in seinem Schaffen bedeuten. Innovativ sind sie aber auch in einer Weise, da sie vermeintlich starre Gegensätze aufbrechen und einen, und letztlich Neues entsteht. Viele weitere Aspekte kennzeichnen die Texte als innovativ, was später genau beschrieben werden wird.

Innovation und Radikalität verbunden mit einem „hohen Grad an Willkür, ja Beliebigkeit“  – allgemein Kennzeichen von Dialekt- oder Mundartdichtung29  – die sich für die Lesenden ergibt, führt zu einer außergewöhnlichen und ambivalenten Situation: Indem „Elemente der gesprochenen Sprache zu einer Art lyrischen Privatsprache“30 entwickelt werden, erweitert Jandl seine Ausdrucksmöglichkeiten, gleichzeitig aber führt das zur Unverstehbarkeit bis hin zur Fremdsprache.31 Für jene RezipientInnen, die des in den stanzen nachgeahmten Dialektes mächtig sind, eröffnen sich nun diese Bereiche, für andere wird die Sprache zur Fremdsprache, und für beide Gruppen trifft zu, dass eben durch Jandls Kunstsprache Vieles gleichermaßen unklar bleibt. Ist es das, was an den ←13 | 14→stanzen so bewegt? Dieses ständige Hin und Her zwischen Autonomie und drastischer Eingeschränktheit, das die Lesenden fast dazu zwingt, die Texte immer wieder zu lesen?

Jandl sprengt mit seiner Sprache jede Strenge und eröffnet damit sich und den Lesenden neue Klangmöglichkeiten, Ausdrucksformen und Sichtweisen. Neuer Sinn lässt sich durch das wiederholte Lesen erschließen, sehr viel bleibt sogar bis zuletzt offen. Trotzdem sind die stanzen auf ihre Weise wieder streng und wie schon gesagt radikal im Sinne von einschränkend. Vermutlich ist das als Funktion der Texte zu begreifen: Die stanzen sind alles. Sie vereinen Gegensätze, sind Gegenpole oder Widersprüche in einem. Gleichermaßen sind sie Hohes und Niedriges, beschreiben Verwerfliches und sind verwerflich, weisen auf gesellschaftliche Grenzen hin und übertreten sie gleichzeitig, geben den Lesenden Raum und schränken sie dennoch ein, sind ernst und trotzdem unnachahmbar komisch und sarkastisch, gehen zurück zur Wurzel und zum Ursprung und im selben Moment hinaus und erweitern das bisher Vorgefundene. Sie sind wild und milde, streng und offen, schaffen Drittes und können sogar als Lösungswege gesehen werden, sind innovativ und bewahren ihre Identität, sind individuell und trotzdem so allgemein. Die stanzen sind gleichzeitig platt und von tiefstem Sinn durchzogen, wie Schmidt-Dengler in einer Rezension festhält:

Wer Jandl die tiefe Grube des Sinns graben will, fällt selbst hinein, und wer den stanzen wiederum Plattheit nachsagt, tanzt pfingstig als Esel auf dem Eise.32

Paul Jandl stimmt dem zu, denn „der Sinn mancher Gedichte ist unentschieden zwischen Plattheit und Parodie. Was bleibt, ist der suggestive Rhythmus“.33

Auch für den Bereich der Performance  – gemeint ist hier die musikalische Umsetzung mit Erich Meixner  – trifft das zu: Oft werden die Texte bewusst mit ganz einfachen Rhythmen oder Melodien umgesetzt, bekannte Melodien wie die Musik zur Moritat von Mackie Messer oder der Beginn der Beethoven’schen Mondscheinsonate werden verwendet. Gleichermaßen sind aber auch komplizierter mit dem Text verwobene Formen auffällig. Im Ganzen gesehen ist auch die Musik einfach und gleichzeitig von höchster Komplexität gekennzeichnet: Sie bleibt oft im Allgemeinen und ist trotzdem individuell, neu und dennoch altbekannt, verhält sich programmatisch zum Text aber unterläuft diesen auch ←14 | 15→und stellt sich dagegen, ist oft klar und durchsichtig und gleichzeitig unverständlich. Text und Musik vereinen sich zu einem „Sprachengitter und Sprachgewitter, [womit] Löcher in die festgefügte Welt hineingestanzt [werden], auf daß sie brüchig und durchschaubar wird“34.

Details

Seiten
106
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631769119
ISBN (ePUB)
9783631769126
ISBN (MOBI)
9783631769133
ISBN (Paperback)
9783631747087
DOI
10.3726/b14720
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
stanzen Ernst Jandl Poetologie Performance unveröffentlichte Stanzentexte Attwenger
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 106 S.

Biographische Angaben

Lydia Haider (Autor:in)

Lydia Haider studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Wien. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Literatur nach 1945 und der Österreichischen Literatur.

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