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Die Entwicklung berufsbildender Schulen in Preußen, Sachsen und Württemberg zwischen 1869 und 1914

Ein Vergleich der preußischen, sächsischen und württembergischen Entwicklungen im beruflichen Schulwesen bis zum Ersten Weltkrieg

von Jingyoung Yu (Autor:in) Peter Nitschke (Band-Herausgeber:in)
©2018 Dissertation 408 Seiten

Zusammenfassung

In der Hochindustrialisierungsphase zwischen 1869 und 1914 erlebte das technische Ausbildungswesen auf den Gebieten des Handels, der Industrie und des Handwerks sowie der Kunst in Verbindung mit einer Fachausbildung einen stetigen Wandlungs- und Anpassungsprozess. Die Autorin untersucht den Umwandlungsprozess des beruflichen Ausbildungswesens von der traditionellen Handwerkslehre zum modernen Ausbildungswesen in den drei Bundesstaaten Preußen, Sachsen und Württemberg während der Zeit von 1869 bis 1914.
Die Untersuchung trägt dazu bei, einen Überblick über die Entwicklung des niederen und mittleren technischen Schulwesens in Preußen, Sachsen und Württemberg während dieses Zeitraums zu vermitteln.
Das heutige duale Ausbildungssystem der Bundesrepublik Deutschland ist das Ergebnis einer langjährigen, tief in den Traditionen der einzelnen Bundesstaaten verwurzelten Entwicklung. Die Studie leistet einen Beitrag zum besseren Verständnis des dualen Systems.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Zusammenfassung
  • Abstract
  • Danksagung
  • Inhalt
  • 1.0 Einleitung
  • 1. Forschungsstand
  • 2. Fragestellungen
  • 3. Forschungsmethoden
  • 2.0 Institutionelle Aspekte
  • 2.1 Vorgeschichte des Fortbildungsschul- und Fachschulwesens in Preußen, Sachsen und Württemberg und institutionelle Aspekte
  • 2.1.1 Die Schularten der drei Bundesstaaten
  • Die religiöse Sonntagsschule
  • Die gewerbliche Sonntagsschule
  • Die allgemeine Fortbildungsschule
  • Die gewerbliche und beruflich gegliederte Fortbildungsschule
  • 2.2 Private Initiative zur Gründung und individuelle Entwicklung der gewerblichen Schulen
  • 2.2.1 Preußen
  • Fortbildungsschulen
  • Fachschulen
  • 2.2.2 Sachsen
  • Fortbildungsschulen
  • Fachschulen
  • 2.2.3 Württemberg
  • Fortbildungsschulen
  • Spezialisierung (Professionalisierung) von privaten Vorläufern der Berufsschule in drei Bundesstaaten
  • 2.3 Fachmännerversammlungen, -verbände und -organisationen
  • 2.3.1 Preußen
  • Deutscher Verein für das Fortbildungsschulwesen
  • Verband deutscher Gewerbeschulmänner
  • – XII. Wanderversammlung des Verbandes deutscher Gewerbeschulmänner im Juni 1900
  • – XIV. Wanderversammlung des Verbandes deutscher Gewerbeschulmänner im Juni 1902
  • – XVII. Wanderversammlung des Verbandes deutscher Gewerbeschulmänner zu Pfingsten 1906 in Straßburg
  • – Eine Bewertung durch das Landesgewerbeamt in Berlin
  • Centralverein der Provinz Preußen
  • Deutsche Handwerks- und Gewerbekammer
  • Gewerbekammern
  • Innungen und Handwerkskammern
  • Der deutsche Werkmeisterverband
  • Fachvereine
  • 2.3.2 Sachsen
  • Deutscher Techniker Verband
  • Verband höherer technischer Lehranstalten
  • 2.3.3 Württemberg
  • 2.4 Begleitung des Industrialisierungsprozesses
  • 2.4.1 Preußen
  • 2.4.2 Sachsen
  • Eisenhüttenwerke, Eisengießereien und Maschinenbau
  • Die Elektrotechnische Industrie
  • Metallwarenindustrie (Stahl-, Eisen-, Blech- und Drahtwarenfabrikation)
  • 2.4.3 Württemberg
  • 2.5 Pädagogischer Prozess in der Berufspädagogik
  • 2.5.1 Preußen
  • 2.5.2 Sachsen: Berufspädagoge Oskar Pache
  • 2.5.3 Württemberg: Ferdinand Steinbeis
  • 2.6 Förderung durch staatliches Interesse
  • 2.6.1 Preußen
  • Gesetzliche Maßnahmen
  • Maßnahmen im Bereich Wirtschaft (finanzielle Zuschüsse)
  • Entwicklung der sozialpolitischen Komponenten
  • Staatliche Gewerbeinspektion zum Schutz des jugendlichen Arbeiters
  • 2.6.2 Sachsen
  • Gesetzliche Maßnahmen
  • Maßnahmen im Bereich Wirtschaft (finanzielle Zuschüsse)
  • Der sozialpolitische Erziehungsbereich
  • Gewerbeinspektion (Fabrikinspektor)
  • 2.6.3 Württemberg
  • Gesetzliche Maßnahmen
  • Der Bereich Wirtschaft (finanzielle Zuschüsse)
  • Der sozialpolitische Erziehungsbereich
  • Gewerbeinspektion
  • 2.7 Fazit
  • 3.0 Innere Qualifizierungsprozesse des beruflichen Bildungswesens
  • 3.1 Unterricht (Theoretisierung)
  • 3.1.1 Preußen
  • Fortbildungsschulen in Preußen
  • Organisation von Schule und Unterricht
  • Lehrplan der allgemeinen Fortbildungsschule
  • Exkurs: Lehrplan und Lehrwerkstatt der gewerblichen Fortbildungsschule nach Kerschensteiner
  • Lehrmittel
  • Schulen und Unterrichten
  • Mathematikunterricht
  • Modellierunterricht
  • Kunstunterricht
  • Fachschulen in Preußen
  • Aufgaben der Fachschulen
  • Unterschiedliche Prüfungsaufgaben
  • Handwerksorientierung
  • 3.1.2 Sachsen
  • Lehrmittelzentrale als Organisation
  • Fortbildungsschulen in Sachsen: Das Beispiel der Fachzeichenklasse der Schlosser- und Schmiede-Zwangsinnung zu Döbeln
  • Zum Stundenplan
  • Ausbau der mittleren zu höheren Fachschulen in Sachsen
  • Fachschulen
  • Technische Staatslehranstalten in Chemnitz seit 1836
  • Die Fachschule zu Aue (1877)
  • Technikum Hainichen (1900–1934)
  • Technikum Mittweida (gegr. 1867)
  • Technikum Riesa
  • Fachzeichenschule Meißen
  • Technikum Limbach (1898–1908)
  • Gewerbliche Zeichenschule für Maschinenbau in Golzern (1887)
  • Technikum Altenberg
  • Deutsche Schlosserschule zu Rosswein (1894)
  • 3.1.3 Württemberg
  • Fortbildungsschulen in Württemberg
  • Der Lehrmittelzustand
  • Zum Stundenplan
  • Fachschulen in Württemberg
  • 3.1.4 Preußen
  • Zeichenunterricht
  • Zeichenunterricht in der Fortbildungsschule
  • Freihandzeichnen und Linienzeichnen (Konstruktives Zeichnen)
  • Modellzeichnen
  • Ornamentzeichnen
  • Fachzeichnen
  • Maschinenzeichnen
  • 3.2 Didaktisierung der Praxis
  • 3.2.1 Preußen
  • Die Schullehrwerkstätten in Preußen
  • Die Industrielehrwerkstätten
  • Schülerausstellungen
  • 3.2.2 Sachsen
  • Die Schullehrwerkstätten in Sachsen
  • Schülerausstellungen
  • 3.2.3 Württemberg
  • Die Schullehrwerkstätten in Württemberg
  • Die Industrielehrwerkstätten
  • Schulausstellungen
  • 3.3 Lehrerausbildung
  • 3.3.1 Preußen
  • Situation der Lehrer
  • Herkunft der Lehrer
  • Ausbildung und Qualifikation der Lehrer
  • Kurse für Lehrer
  • Pädagogische Kurse
  • Seminarkurse
  • Curriculum für Lehrer an gewerblichen Fortbildungsschulen
  • Kurse für Zeichenlehrer
  • Förderung des Zeichenunterrichts durch den Zeichenlehrerverein
  • Ausbau der Schulaufsicht
  • 3.3.2 Sachsen
  • 3.3.3 Württemberg
  • 3.4 Fazit
  • 4.0 Konkretisierungsformen
  • 4.1 Politische Debatten
  • 4.1.1 Preußen
  • Deutscher Ausschuss für das technische Schulwesen
  • Pflichtfortbildungsschulen
  • 4.1.2 Sachsen
  • 4.1.3 Württemberg
  • 4.2 Gesetze und Gewerbeordnung
  • 4.2.1 Preußen
  • 4.2.2 Sachsen
  • 4.2.3 Württemberg
  • 4.3 Fazit
  • 5.0 Schlussbemerkungen
  • Quellenverzeichnis
  • Literaturverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Register (Personen)
  • Register (Orts-)
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Zentraler Ansatz der vorliegenden Studie ist der Transformationsprozess der Berufsausbildung zwischen 1870 und 1911 in drei ausgewählten deutschen Bundesstaaten im Kontext regionaler Entwicklungen und des intensiven Ausbaus des Bildungswesens. In diesem Zeitraum befand sich Deutschland in seiner zweiten Industrialisierungsperiode, die in der Sozialgeschichte allgemein „Phase der Hochindustrialisierung“ genannt wird. Sie bedeutete für das 1871 gegründete Deutsche Reich nicht nur, dass sich die wichtigen wirtschaftlichen Kompetenzen im Industriebereich entwickelten, sondern auch, dass tiefgreifende Wandlungen politischer und sozialer Realitäten bis zur Reichsverfassung von 1871 folgten.

Nach Peter Lundgreen meint Industrielle Revolution „im technologischen Sinne, bestimmte grundlegende Änderungen im Produktionssystem (Energiequellen, Rohmaterialien, Maschinen); und ‚Industrialisierung‘ im weiteren Sinne jenen Komplex ökonomischer, sozialer und politischer Veränderungen, die teils Folge der Industriellen Revolution, teils Ursache und Begleiterscheinung der andauernden Ausbeutung ihrer Möglichkeiten sind“ (Lundgreen 1973, S. 30).

Preußen hatte in der Zeit von 1850 bis 1870 eine Phase ausgeprägten wirtschaftlichen Wachstums (vgl. Dörschel 1972, S. 141) und erreichte bereits im Vergleich mit anderen Bundesstaaten ein hohes wirtschaftliches Entwicklungsniveau. Die stärksten Wachstumsimpulse gingen von der Industrie und innerhalb dieser von den Branchen Steinkohle, Eisen und Stahl aus, die eng mit dem raschen Fortgang des Eisenbahnbaus verbunden waren und zum führenden Sektor der preußischen Industrialisierung wurden (vgl. Ziefuß 1988, S. 111–112).1 Die übrigen Industriezweige, besonders der Maschinenbau, wuchsen stark weiter und die Fabriken übernahmen zunehmend die Produktion von Konsumgütern. Mit der Reichsgründung 1871 gingen diese wichtigen wirtschaftlichen Kompetenzen auch auf Württemberg und das Reich über.2 Die seit etwa 1890 aufkommenden neuen Industriezweige wie Chemie, Elektrotechnik und Automobilbau entwickelten sich wiederum zu einem erheblichen Teil auf preußischem Gebiet mit Berlin und dem Ruhrgebiet als Zentren (Kaufhold 2003, S. 100–102; vgl. Wiel 1970). ← 17 | 18 →

Lange Jahre, bedingt durch die Unzugänglichkeit der Quellen in der Zeit der DDR, stand die Entwicklung in Sachsen unverdienterweise im Hintergrund.

Bereits im Jahr 1846 war Sachsen als mitteldeutscher Staat eine der führenden Industrieregionen Deutschlands. Sachsen besaß die ersten Industriezweige wie Baumwoll- und Textilindustrie, zudem eine ausgeprägte gewerbliche Diversifikation, dazu passende soziale Strukturen und kulturelle Verhaltenstypologien; in der Summe also sehr günstige Voraussetzungen und Übertragungsmechanismen, die industriellen Fortschritt möglich machten. Die qualifizierten Arbeitskräfte Sachsens aus Handwerk und Gewerbe kamen aus den bereits sehr frühzeitig eingerichteten Produktionsstätten, die oft Basis der Verarbeitungsindustrie wurden. Wiederum ein Jahrhundert später hatte sich die wirtschaftliche Vormachtstellung Sachsens zugunsten Württembergs verändert. Sachsen musste seine herausragende wirtschaftliche Position an Württemberg abtreten: „Württemberg, das um 1900 weit hinter den damals führenden Regionen rangierte, gelang bis 1936 der Sprung zum Flächenstaat mit dem höchsten Einkommen und wurde sogar zum ‚Vorbild‘ regionaler Entwicklung stilisiert“ (Megerle 1995, S. 139). Sachsen hatte vornehmlich in die frühen Industriezweige wie Baumwoll- und Textilindustrie investiert, während sich Württemberg verspätet in der zweiten Phase der Industrialisierung auf Maschinen- und Elektrotechnik konzentrierte und sich damit einen Modernisierungsvorsprung erarbeiten konnte (Megerle 1995, S. 140–145).

1.  Forschungsstand

Die historische Bildungsforschung in der Berufspädagogik ist bisher von Historikern und Berufspädagogen durchgeführt worden, und zwar sozialhistorisch und ideengeschichtlich. Diese Forschungsrichtungen werden im Weiteren übernommen:

Von den Bildungshistorikern, die den Zeitraum zwischen 1870 und 1914 der preußischen Geschichte untersuchten, wurden die Bildungsthemen umfassend behandelt. Die Schwerpunkte der Forschungsarbeiten konzentrierten sich auf Untersuchungen des Gymnasiums, der Schulpolitik3 und der technischen ← 18 | 19 → Hochschule, auch der gewerblichen Entwicklung.4 Themen wie die Situation der beruflichen technischen Schulen oder der Fortbildungs- und Fachschulen wurden auch, aber viele Jahre insgesamt zu wenig berücksichtigt.

Seit den 1960er Jahren änderte sich dies. Es wurden zahlreiche Untersuchungen in der sich deutlich entwickelnden historischen Berufsbildungsforschung durchgeführt.5 Es entstand eine Vielzahl an Publikationen in methodologischer, ← 19 | 20 → ideengeschichtlicher und sozialhistorischer Richtung. Michael Fessner beschreibt diese Forschungstendenz: „Lange Zeit bestand zwischen den einzelnen Fachdisziplinen Erziehungs-, Sozial- und Wirtschafts- sowie Geschichtswissenschaften nur ein geringer gedanklicher Austausch.6 Dies änderte sich in den ← 20 | 21 → 60er Jahren, als seitens der Geschichtswissenschaft Erklärungsmodelle anderer Fachdisziplinen mit in die eigenen Forschungsansätze einbezogen wurden (Siehe Heinemann 1992, S. 29–307). Gleichwohl können vorhandene Theorien anderer Disziplinen nicht so ohne Weiteres übernommen werden, da deren empirische Nachweisbarkeit bei historischen Untersuchungen auf methodische Schwierigkeiten stößt, sondern es werden einschlägige Theorien gesichtet, eine Auswahl getroffen und diese oder Teile dieser am konkreten Untersuchungsgegenstand auf ihre Anwendbarkeit und ihre Aussagekraft überprüft und anschließend zu einer eigenen historischen Theorie verarbeitet“ (Fessner 1992, S. 22–23).

Nach Fessner wurde in dieser Entwicklung erst zu Beginn der 1970er Jahre die gewerbliche Bildung verstärkt in den Mittelpunkt der historischen Forschung gerückt, als die Bedeutung von Bildung und Wirtschaftswachstum von Wirtschaftshistorikern unter dem Gesichtspunkt der Bildungsökonomie näher untersucht wurde (Fessner 1992, S. 19). Wolfram Fischer, der die Schulsysteme von Preußen und Württemberg verglich, versuchte den Industrialisierungsprozess seit 1860 in Deutschland zu definieren: „Dieser Industrialisierungsprozess ist daher auch Gegenstand vielfältiger sozialwissenschaftlicher Analysen, die sich ihm von verschiedenen Ausgangspunkten her nähern. Als marktwirtschaftlicher oder staatlich gelenkter Wachstums- und Strukturwandlungsprozess, der in einer offenbar typischen Weise verschiedene Stadien durchläuft, ist er seit mehreren Jahrzehnten Gegenstand ökonomischer Forschung, die ihn sowohl empirisch aufzuhellen wie theoretisch zu erklären sucht. Der Historiker ist daher aufgerufen, die von Ökonomen, Soziologen und anderen der Gegenwart und Zukunft zugewandten Sozialwissenschaftlern entwickelten Hypothesen, Modelle und Schlüsse kritisch zu überprüfen“ (Fischer 1972, S. 15–17).

Fischer ging in seinen Ausführungen auch auf die technische Bildung ein: „Vor allem aber bekam hier die namenlose Mittelschicht der Ingenieure und ← 21 | 22 → Kaufleute zum großen Teil ihre berufliche Fortbildung. Dann sind die technischen Beratungsbehörden zu nennen, die besonders in Preußen und Württemberg einen großen Einfluss auf die industrielle Entwicklung des Landes nahmen: das Gewerbeinstitut in Berlin unter Beuth (seit 1821) und die Zentralstelle für Handel und Gewerbe in Stuttgart (seit 1848)“ (Fischer 1972, S. 67–68).

Diese neuen Forschungsansätze kritisierte in den 70er Jahren Wolf-Dietrich Greinert im Hinblick auf den Anteil der Position der Geschichte in der Berufsausbildung: „Berufsausbildung – das war bis vor einigen Jahren in der Bundesrepublik ein Thema nur für wenige Experten. Bis zum Anfang der 70er Jahre bezogen sich die Aussagen bildungspolitischer und erziehungswissenschaftlicher Schriften fast ausschließlich auf jene Bildungseinrichtungen, die den Autoren von ihrer eigenen Karriere her bekannt und wichtig waren, auf Gymnasium und Hochschule. Das bildungspolitische und erziehungswissenschaftliche Interesse konzentrierte sich damit auf Einrichtungen, die nur von einer privilegierten Minderheit besucht werden“ (Greinert 1975, S. 7).

In den 1990er Jahren beurteilte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) den erreichten Stand: „Dass das Handwerk bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als ‚Leitbild der deutschen Berufserziehung‘ galt, ist allgemein bekannt. Was aber dieses ‚Leitbild‘ stützte und bis in die Fabrikarbeiterschaft hinein breit akzeptieren ließ, ist kaum erforscht. Dass die Handwerkskritik sich sowohl auf die technisch-ökonomische Rückständigkeit als auch auf die pädagogisch-didaktischen Mängel der Ausbildung im Kleingewerbe bezog, ist immer wieder betont worden. Was aber die industrietypische Facharbeit entstehen und berufspädagogisch so schnell aufwerten ließ, dass sie als zukunftsweisende Ausbildungsform anerkannt wurde, ist nach wie vor unklar. Durch die jüngeren Mentalitätsforschungen wurde erkennbar, wieso gerade in Zeiten um sich greifender Kulturkritik und Fortschrittsskepsis das Handwerk trotz auch dort unübersehbarer Mechanisierungsprozesse zu einem Hort gesellschaftlicher Re-stabilisierung und Ordnung aufgerüstet wurde“ (DFG 1990, S. 89).

Wiederum etwa zehn Jahre später fassten Karin Büchter und Martin Kipp den Beitrag und Anteil der Historischen Bildungsforschung in ihrem Artikel Historische Berufsbildungsforschung: Positionen, Legitimationen und Profile – ein Lagebericht zusammen. Sie kamen zu dem Ergebnis: die Arbeiten seien nach Personen-, Institutionen- und Zielgruppen geordnet, regional bezogen und international vergleichend (Büchter/Kipp 2003, S. 310–316). Den ideen- und sozialgeschichtlichen Einfluss bei der historischen Berufsbildungsforschung in den 1960er Jahren beschrieben die Autoren gleichfalls: „In der Berufs- und Wirtschaftspädagogik werden ideengeschichtliche Arbeiten in die Nähe der ← 22 | 23 → Ideologiekritik gerückt und damit im Hinblick auf Intention als politisch einseitig charakterisiert“ (Büchter/Kipp 2003, S. 310–316). Über die sozialhistorische Richtung schreiben sie: „Sozialhistorische Rekonstruktionen beanspruchen, strukturelle, soziale und politische Bedingungen und Beziehungen und ihre Auswirkungen auf Erziehung und Bildung innerhalb einer definierten Zeit zu analysieren und nachzuvollziehen und dabei zu zeigen, wie in der gesellschaftlichen Realität Erziehung und Bildung zu eigener Form gerinnt“ (ebd.).

Von der sozialhistorischen Seite her haben Historiker wie Wolfram Fischer, Peter Lundgreen und Wolfgang König sich vor allem mit der Bedeutung der Berufsbildung in Bezug auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte befasst. Diese Autoren interessierten sich dabei vor allem für die Untersuchungsrichtungen Industrialisierung und Sozialpolitik8 (vgl. Fessner 1992, S. 23–26).

Peter Lundgreen schildert in seinem Buch über die Ingenieure Anteile der technischen Hochschule,9 ebenso Wolfgang König, dessen Studie über die technische Bildung aber auch nicht auf die Basis und Bedeutung der beruflich-gewerblichen Bildungsanstrengungen eingeht. Dabei war immer offensichtlich, ← 23 | 24 → dass Historiker die Frage der Qualifikation der Handwerker und die Frage der Ausbildung der Fachkräfte für Gewerbe und Industrie anders als die Pädagogen behandeln. Für Historiker steht der gesamte historische Kontext im Mittelpunkt, Pädagogen fokussieren in der Regel den Bildungsaspekt.

Auch von den Wirtschaftshistorikern gibt es eine kaum überschaubare Vielzahl von Untersuchungen über die Industrialisierungsperiode.10 Hans Ulrich Wehler beschreibt in seinem Buch „Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918“11 die technisch-ingenieurwissenschaftlichen Lehranstalten jedoch mit ein paar Zeilen: „1821 entstand das Berliner Gewerbeinstitut Beuths; 1825/27/32 wurden nach französischem Vorbild die polytechnischen Schulen in Karlsruhe, München und Stuttgart gegründet; 1828 folgte die technische Bildungsanstalt in Dresden. Hinzu kamen die Berufs- und Gewerbeschulen für die Vermittlung ← 24 | 25 → eher handwerklicher Kenntnisse“ (Wehler 1988, S. 28). Hier wie bei weiteren Büchern blieb die Nachbardisziplin der Bildungsgeschichte unberücksichtigt; die umfangreichen Abhandlungen von Hans-Joachim Bodenhöfer „Bildung und Wirtschaftswachstum“ von 1998 und Nobert Seibert / Helmut J. Serve (Hrsg.) „Bildung und Erziehung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Multidisziplinäre Aspekte, Analysen, Positionen, Perspektiven“ von 1994 offenbaren die gleiche Schwäche. Das Buch von Nobert Seibert umfasst 1 400 Seiten, enthält dabei aber überhaupt keine Berücksichtigung des beruflichen Bildungswesens. Diese Vernachlässigung des Themas zeigt nicht nur ein mangelndes Interesse der Autoren, sondern dass die Anteile der Entwicklung in der gewerblichen Ausbildung auch heute noch unterschätzt werden.

In der Sozialgeschichtsschreibung12 wurde besonders das Thema der Sozialpolitik untersucht. Es existieren in diesem Bereich mehrere Bücher über die Entstehung und Aktivität des Vereins Deutscher Industrie (VDI) und des Deutschen Ausschußes für Technisches Schulwesen (DATSCH). Diese Studien basieren auf der empirischen Untersuchung von umfangreichem Aktenmaterial und gelten damit als gründliche Forschungsarbeiten.13

Aus der Perspektive der Ideengeschichte wird schließlich auch die Schule vielfach politisch geprägten Charakters interpretiert. Dieter Langewiesche sah in seinem Buch „Liberalismus und Demokratie in Württemberg zwischen Revolution und Reichsgründung“ die Schule und Arbeiterbewegung im Königreich Preußen als Kampfobjekt (Langewiesche 1974, S. 439–463): „Im 19. Jahrhundert setzte sich allgemein die Überzeugung durch, dass dem Bildungssystem eine zentrale Bedeutung für die Steuerung politisch-gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse und für die Erzeugung politischer Loyalität zukomme. Bildungsvermittlung erhielt eine neue Dimension, als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bildungsexpansion in die unterbürgerlichen Schichten hinein einsetzte und zugleich mit der sozialistischen Arbeiterbewegung eigenständig proletarische Organisationen entstanden, die sich prinzipiell gegen die etablierte staatlich-gesellschaftliche Ordnung zu richten schienen. Die Schule ← 25 | 26 → wurde zum Kampfobjekt, denn der schulischen Sozialisation schrieb man die Fähigkeit zu, gesellschaftlichen Wandel beschleunigen bzw. Stabilität sichern zu können“ (Langewiesche 1979, S. 439). Greinert folgt in seiner Geschichte des Berufsbildungswesens dieser politisch orientierten Richtung. In seiner Dissertation „Schule als Instrument sozialer Kontrolle und Objekt privater Interessen“ definierte er sogar die Fortbildungsschule als politische Waffe im Kampf gegen die Reichsfeinde (Greinert 1975, S. 33–37). In seinen weiteren Schriften14, z. B. „Realistische Bildung in Deutschland. Ihre Geschichte und ihre aktuelle Bedeutung“, folgt er diesem Interpretationsansatz: „Die Fortbildungsschule wurde auch von der Politik erst einmal als ein probates Mittel zur Bekämpfung von sog. Reichsfeinden missbraucht, in Preußen u. a. der polnischen Minderheit in Westpreußen und Polen. Der klassische Gegner indes, den man mit der Einrichtung von Fortbildungsschulen zu treffen hoffte, war die Sozialdemokratie“ (Greinert 2003, S. 41–44). Diese Interpretation wird durch die heute mögliche Erschließung weiteren Archivmaterials wenig gestützt.

Im Vergleich der historischen Berufsbildungsforschung wurden die Themen Technische Hochschule, VDI, politische Debatte um die Wirtschaftsentwicklung und Förderung sowie der politische Kampf der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung im Zeitraum 1870 bis 1914 häufiger untersucht. Die eigentliche Berufsbildungsgeschichte, die fortgesetzt sozialhistorisch und ideenpädagogisch untersucht wurde, blieb dahinter zurück und offeriert auch heute noch einen zum Teil in regional und Länderstudien stark unterschiedlichen Forschungsstand.

Bibliographie-Untersuchungen wie die von Ulf Hashagen15 vermitteln viele Informationen, blieben aber bei der Untersuchungsmethode nicht selten bei Einzelfällen und Einzelstudien stehen, weshalb es oft eine schwer zu lösende Aufgabe ist, vergleichbare Studien durchzuführen.16 Es fehlen weiterhin dazu ← 26 | 27 → einheitlich angelegte Untersuchungen, z. B. über das preußische und süddeutsche Bildungswesen. Insgesamt ist das föderativ organisierte deutsche Bildungswesen im Vergleich ein Desiderat geblieben.

Die publizierte wissenschaftliche Literatur informierte nach meinem Eindruck bis heute keineswegs ausreichend über die Vielfalt der Entstehungsbedingungen des niemals „einheitlichen“ Schul- und Bildungswesens, schon gar nicht im Bereich der gewerblichen Schulentwicklung im von mir behandelten Themenbereich. Arbeiten für die Zeit des Deutschen Kaiserreichs über die Berufsausbildung in den Gründerjahren richteten sich meistens auf den Fall Preußen. Die Forschung über die gewerbliche Bildung in Preußen wurde und blieb dominant. Im Vergleich dazu und verständlich aus Gründen der Unzugänglichkeit der DDR sind Forschungen über den Bundesstaat Sachsen und weitere Bundesstaaten vernachlässigt worden. Im Folgenden wird diese Fragestellung betrachtet.

2.  Fragestellungen

Die für Preußen lange Zeit geltende Vorbildrolle ist inzwischen selbst für Preußen differenziert worden. Hauptmissverständnis war dabei die Annahme einer schon im 19. Jahrhundert geltenden überwiegend zentralstaatlich gesteuerten Entwicklung des Schulwesens. Doch in Preußen konnten sich gesamtstaatliche Regelungen erst nach einer dazu erforderlichen Verfassungsänderung, also nach 190617 entwickeln. Bis dahin gab es auch in diesem Bundesstaat die unausweichliche Vielfalt individueller, lokaler und provinzialer Schul- und Entwicklungsindividualität auf der Basis der „lokalen Observanzen“, wie es damals hieß. Damit war erst nach 1906 der Weg zu einzelgesetzlichen Regelungen frei, auch für die beruflichen Schulen, die dann 1911 in der preußischen Bestimmung über die „Einrichtung und Lehrpläne der Fortbildungsschulen“ kulminierten, welche die Vielfalt in Preußen vereinheitlichte.

Wie aber verhielt es sich in Sachsen und in Württemberg? Wenn nur ein einziger Bundesstaat als Forschungsgegenstand untersucht wird, werden die unterschiedlichen Situationen hinsichtlich des Industrialisierungsprozesses und des Ausbildungswesens in anderen Bundesstaaten weder erfasst noch in der ← 27 | 28 → Bedeutung für eine „Gesamtentwicklung“ als Vorlauf der späteren im Deutschen Reich erkannt.

In diesem Sinn und in Hinblick auf die Kenntnisnahme vieler Einzelentwicklungen untersucht die hier vorgelegte Forschungsarbeit die Situation der gewerblichen (beruflichen) Ausbildungsformen zwischen 1870 und 1911 in drei Bundesstaaten aus bildungshistorischer Perspektive. Allgemein wird heute eingefordert, dass historisch-vergleichende Studien18 auch für das Gebiet der berufspädagogischen Forschung sowohl unter regionalen als auch unter ländervergleichenden Aspekten entwickelt werden. Außerdem sei der Untersuchungsgegenstand wesentlich komplexer darzustellen, nicht zuletzt, weil historisch-vergleichende Forschungsansätze in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik kaum entwickelt sind (DFG 1990, S. 90).

Hermann Schäfer hat diese neuen Anforderungen an die Forschung erfasst, indem er anmerkt, dass die Ergebnisse von „Betrieb zu Betrieb, von Branche zu Branche, von Region zu Region“ in den Phasen der Industrialisierung deutlich unterschiedlicher als heute allgemein angenommen gewesen seien, wodurch Verallgemeinerungen bis zum Ersten Weltkrieg nur in bescheidenem Maße zuzulassen seien. Diesem Ansatz folgend sollten Untersuchungen wesentlich genauer durchgeführt werden (Schäfer 1979, S. 273; Kaufhold 1979, S. 161–162).

Den aktuellen Forschungsstand heute kennzeichnen Einzelarbeiten zur Gewerbeschulentwicklung überschaubarer Städte oder Regionen, z. B. Jörn Richter: Handwerkerschule in Chemnitz (2006), Rainer Fischbach, Von der Sonntags- und Fortbildungsschule zur Berufsschule im Siegerland (2004), Hans-Peter Tietjens: 200 Jahre Gewerbliche Berufsschulen in Kiel (1995). Auch Aufarbeitungen zur Berliner Berufsschulgeschichte wie die des Kollegiums des Berliner Oberstufenzentrums gehören zu diesem Typ. Dietrich Pukas hat für Deutschland in einer Hannoveraner Dissertation (1988) die Entwicklung der gewerblichen Berufsschule der Fachrichtung Metalltechnik bisher weitgehend dargestellt.

Details

Seiten
408
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631728390
ISBN (ePUB)
9783631728406
ISBN (MOBI)
9783631728413
ISBN (Hardcover)
9783631728383
DOI
10.3726/b11724
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Industrialisierung Berufsausbildung Duales System
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 408 S., 53 s/w Tab.

Biographische Angaben

Jingyoung Yu (Autor:in) Peter Nitschke (Band-Herausgeber:in)

Jinyoung Yu studierte Germanistik an der Hankuk Universität für Fremdsprachen in Seoul, Südkorea, und Geschichte an der Universität Hannover, wo sie im Fach Bildungsgeschichte promoviert wurde. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Korea University in Seoul.

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