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PRIVATES ERZÄHLEN

Formen und Funktionen von Privatheit in der Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts

von Steffen Burk (Band-Herausgeber:in) Tatiana Klepikova (Band-Herausgeber:in) Miriam Piegsa (Band-Herausgeber:in)
©2018 Konferenzband 340 Seiten

Zusammenfassung

Wie kann ›Privates‹ erzählt werden? Welche narrativen Verfahren werden eingesetzt, um ›Privatheit‹ literarisch darzustellen? In welcher Relation steht das ›Private‹ in der Literatur zu ›Öffentlichkeit‹ und ›Überwachung‹? Diese Fragen stehen im Zentrum des Bandes, in dem die Autor/innen anhand ausgewählter Texte die mit Privatheit verbundenen Themen, Motive und Strukturen rekonstruieren und in Beziehung zueinander setzen. Die Beiträge nehmen sich dabei der Aufgabe an, die Repräsentationen und Inszenierungsweisen von Privatheit zu rekonstruieren und herauszuarbeiten, auf welche Weise das Private in literarischen Texten des 18. bis 21. Jahrhunderts dargestellt, semantisiert und bewertet werden kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung (Steffen Burk)
  • I. Privatheit und Öffentlichkeit als semantische Oppositionen
  • Privatheit und Öffentlichkeit als semantische Oppositionen. Vorbemerkungen (Steffen Burk)
  • Privatheit(en) unter dem Vorzeichen der Empfindsamkeit. Modellierungen von Ich-Entfaltung und Ich-Isolation in Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar (Felix Knode)
  • Private Räume und intimes Erzählen bei Novalis (Sarah Maria Teresa Goeth)
  • Private Innerlichkeit als Gegenentwurf zur Gefahr des Gefangenseins im öffentlichen Alltag des Philisters. E.T.A. Hoffmanns Goldner Topf und die Metamorphose des Anselmus (Patricia Czezior)
  • Privatheit und Öffentlichkeit in Thomas Manns Buddenbrooks (Steffen Burk)
  • Vom Bett aus in die Moderne. Die ›Urhütte‹ als Reflexionsraum literarischer Exzentrik (Nicolas von Passavant)
  • Schweigende (Selbst-)Führung. Innerlichkeit und Subjektivierung des working girls in Streeruwitz’ Jessica, 30. (Roxanne Phillips)
  • II. Privatheit und Überwachung. Semantiken des Verlusts
  • Privatheit und Überwachung. Vorbemerkungen (Tatiana Klepikova)
  • Privat fernsehen. Dystopische Erzählungen über ein neues Massenmedium (Kai Fischer)
  • »Aber privat sein war so gar nicht sein Fall«. Räume des Privaten in den Überwachungsromanen Corpus Delicti von Juli Zeh und Fremdes Land von Thomas Sautner (Sabrina Huber)
  • »All that happens must be known«. Selbstüberwachung und Transparenz in Dave Eggers’ The Circle (Bärbel Harju)
  • Von Kreisen und Nullen, Massen und Medien, Mythen und Geistern. Kulturelle Bedeutungsverhandlungen digitaler sozialer Netzwerke (Martin Hennig)
  • III. Private Texte. Spannungsfelder, Wechselspiele und poetologische Strategien
  • Private Texte. Vorbemerkungen (Miriam Piegsa)
  • Bricolage. Praktiken des Entscheidens in Arthur Schnitzlers Jugend in Wien. Eine Autobiographie (Sarah Alice Nienhaus)
  • Privatheit als »male oscuro«. Ingeborg Bachmanns Malina und die Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit zwischen Diskretion, Voyeurismus und Tabubruch (Mandy Dröscher-Teille)
  • Öffentlich und/oder privat. Fanfiction und das Internet (Jonathan A. Rose)
  • Autoren- und Herausgeberverzeichnis

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Steffen Burk

Einleitung

1. Der Privatheitsdiskurs und die Literatur

Im aktuellen wissenschaftlichen Privatheitsdiskurs widmen sich Forscher unterschiedlichster Disziplinen1 der Frage, wie Privatheit zu fassen ist – welcher Wert, welche Bedeutung und Funktion ihr in der Gesellschaft (noch) zukommt. Es ist dabei bezeichnend, dass sich diese Forscher in ihren Abhandlungen zum Thema ›Privatheit‹ auffallend häufig literarischer Beispiele bedienen, anhand derer sie bestimmte Ausprägungen des Privaten explizieren, Abgrenzungen zum ›Öffentlichen‹ illustrieren oder mithilfe fiktionaler Texte auf reale gesellschaftliche Entwicklungen, Tendenzen und Narrative (z.B. den vermeintlichen ›Niedergang der Öffentlichkeit‹, das ›Ende der Privatheit‹, die zunehmende Überwachung oder die Transparenzgesellschaft) rekurrieren, um so kulturelle Phänomene beschreiben, erklären oder Kulturkritik betreiben zu können.

Bereits Hannah Arendt, die sich in ihrer Schrift Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960) dezidiert mit der Bestimmung der Relation von Privatheit und Öffentlichkeit auseinandersetzt, zieht zur Verdeutlichung dessen, was sie unter dem Terminus ›privat‹ versteht, literarische Beispiele heran wie beispielsweise William Blakes Gedicht Never seek to tell thy Love (1863) oder Hugo von Hofmannsthals ›Chandos-Brief‹ (1902).2 In seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) widmet Jürgen Habermas ein (mehrere Seiten umfassendes) Kapitel der Interpretation von Goethes Wilhelm Meister (1795/96), um daran seine These vom Ende der repräsentativen Öffentlichkeit zu illustrieren.3 Richard Sennett hingegen zieht den französischen Dichter Balzac zu Rate, wenn es um die Frage nach der Relation von Persönlichkeit und Gesellschaft in der anonymisierten Großstadtöffentlichkeit geht.4 ← 7 | 8 →

Und auch im aktuellen Diskurs finden sich in theoretischen Abhandlungen gehäuft literarische Analysen und Exkurse, die zur Untermauerung der jeweils vertretenen These über Privatheit herangezogen werden – wobei die literarischen Zeugnisse dabei in ihrer Funktion als zeithistorische ›Kronzeugen‹ mit Dokumentarcharakter in Anspruch genommen werden: So auch bei einer der wohl namhaftesten Privatheits-Forscherinnen, Beate Rössler, die sich bei der Konstruktion ihrer normativen Theorie zum Wert des Privaten (2001) gleich auf zwei Werke der Weltliteratur stützt: Einerseits auf George Orwells 1984 (1949), andererseits auf Henry James’ The Private Life (1893), wobei sie mit der Analyse des letzteren ihre Abhandlung sogar beschließt.5 Während Rössler Orwells Dystopie zur Akzentuierung der Signifikanz eines privaten Bereichs für die Autonomie des Individuums in Anspruch nimmt, demonstriert sie mit Hilfe der Kurzgeschichte von Henry James die Notwendigkeit, das öffentliche vom privaten ›Selbst‹ abzugrenzen. Das derzeit wohl prominenteste literarische Beispiel, das im sozialwissenschaftlichen und philosophischen Forschungsdiskurs zur Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit aufgegriffen wird, ist allerdings Dave Eggers Bestseller-Roman The Circle (2013),6 der durch die Modellierung einer dystopischen Zukunft, in der sich die Welt in eine Transparenz- und Überwachungsgesellschaft verwandelt hat, besonders gut geeignet erscheint, um auf aktuelle soziokulturelle Transformationen in der digitalisierten Gesellschaft aufmerksam zu machen.

Augenfällig ist folglich die Häufigkeit, mit der sich der Forschungsdiskurs literarischer Werke bedient, um Modelle, Semantiken und Funktionen von Privatheit in Dienst zu nehmen, und sie zur Untermauerung der eigenen Argumentation in den wissenschaftlichen Text implementiert.7 Der vorliegende Sammelband nimmt seinen Ausgang nun aber nicht beim Forschungsdiskurs, sondern umgekehrt – setzt bei den literarischen Texten selbst an, um Darstellungen und Semantisierungen ← 8 | 9 → von Privatheit zu rekonstruieren und zum historischen Kontext in Relation zu setzen.8

2. Der Begriff der Privatheit

Um aber überhaupt in angemessener Spezifik über einen Begriff sprechen zu können, muss dieser erst einmal umrissen und näher bestimmt werden. Eine klare Definition von ›Privatheit‹9 ist freilich nicht leicht zu geben. Gemeinhin wird der Terminus als Komplementärbegriff zum Nicht-Privaten (›Öffentlichen‹) konzipiert.10 Noch der aktuelle Forschungsdiskurs stützt sich zum Teil auf die Vorstellung, dass Privatheit als Gegenpart zum Öffentlichen verstanden werden muss und dass es festgelegte (physisch gedachte) Bereiche des Individuums gibt, die – als genuin private – als besonders schützenswert gelten.11 Dieser Ansatz ist allerdings schon insofern unzureichend, als sich selbst »konkrete Manifestationen von Öffentlichkeit und Privatheit« dabei »nicht unbedingt in konkreten Räumen oder Gegenständen niederschlagen [müssen]«, wie Martin Hennig richtig konstatiert, sondern eben »abstrakter Natur« sein können; dann dokumentieren sich »[ö]ffentliche und private Handlungskontexte […] lediglich in Form von Praktiken, Grenzziehungen oder dem Verzicht auf diese«.12 Viele Forscher haben diese Problematik erkannt und vertreten daher die Position, dass es sich bei Privatheit und Öffentlichkeit um abstrakte Konzepte handelt, zwischen denen eine komplementäre oder gar dialektische Relation besteht und deren Grenzziehung stets aufs Neue ausgehandelt werden muss.13 Denn die Grenzen verlaufen keineswegs ← 9 | 10 → eindeutig, sondern verschieben sich ständig. So ›wirkt‹ das Öffentliche ins Private et vice versa.

Damit ist allerdings auch gesagt, dass es kein einheitliches und absolut gültiges Konzept von Privatheit gibt. In einem ontologischen Sinne ist Privatheit nicht zu fassen. Auch stellt sie keinen überzeitlichen ›Wert‹ an sich dar, sondern ist als kulturrelationales und historisch variables Konstrukt zu begreifen, das in verschiedenen Epochen und Kulturen mit unterschiedlichen Semantiken korrelierte und differierende soziokulturelle Funktionen hatte.14 Dies zeigt sich z.B. im interkulturellen Vergleich von Gesellschaften oder im historischen Blick auf vergangene Epochen.15 Das, was unter ›Privatheit‹ verstanden wird, ist also eine kulturelle, epochenspezifische, ja sogar eine schicht- und altersgruppenspezifische Variable.16 Auf die Literatur übertragen heißt das, dass es auch hier nie nur ein einziges mögliches Konzept von Privatheit gibt; vielmehr muss das, was als ›privat‹/›öffentlich‹ gesetzt ist – also die unterschiedlichen Semantisierungen, Grenzziehungen und Funktionen von Privatheit und Öffentlichkeit – im jeweiligen Text erst rekonstruiert werden. Der vorliegende Band nimmt sich dieser Aufgabe an und untersucht anhand ausgewählter literarischer Beispiele die Darstellung von Privatheit in der (vorwiegend) deutschsprachigen Literatur des 18.–21. Jahrhunderts.

3. Privates erzählen/privates Erzählen

Wie auch in anderen Medien artikulieren sich Modelle von Privatheit in literarischen Texten. Sie ist dort als ästhetisches Phänomen zu begreifen, wobei sie im künstlerischen Medium konstruiert, dargestellt und semantisiert wird. Im vorliegenden Sammelband geht es daher primär um die Rekonstruktion der Denkmodelle und des kulturellen Wissens von Privatheit, ihrer Darstellungsweisen und Verhandlungen aus literarischen (bzw. filmischen) Texten und den Umgang mit ihr im jeweiligen Text, Ko- und Kontext.

Literatur konstruiert stets eigene Modelle von Welt, nimmt textspezifische Grenzziehungen vor, etabliert Wert- und Normvorstellungen und transportiert ← 10 | 11 → damit immer auch eine bestimmte Ideologie.17 Da dabei stets ein mittelbarer Bezug zur außermedialen Wirklichkeit besteht – Texte immer in einer bestimmten Zeit und in einem kulturellen Kontext entstehen – können die verschiedenen Modellierungen und Semantisierungen von Privatheit die jeweiligen historisch-epochalen Hintergründe beleuchten, vor denen ein Werk entstanden ist, und – mal mehr, mal weniger direkt – Auskunft geben über die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Diskurse der Zeit. Wird sie dabei für die Vermittlung weltanschaulicher Positionen funktionalisiert, fungiert Privatheit als ideologisches Konstrukt.

Die Darstellung und Inszenierung von Privatheit ist von Text zu Text verschieden. Jeder Text entwirft seine eigene Wirklichkeit und so wird das Private in der Literatur freilich oft auf divergierende Weise modelliert. Die Art der Darstellung schlägt sich hierbei v.a. in der raumtopologischen Struktur eines Textes nieder, die sich durch semantische Oppositionen strukturiert und in semantischen Räumen organisiert. Lotman zufolge zeichnet sich in literarischen Texten »hinter der Darstellung von Sachen und Objekten, in deren Umgebung die Figuren des Textes agieren, […] ein System räumlicher Relationen ab«, das er »die Struktur des Topos« nennt und das einerseits als »Prinzip der Organisation« fungiert, andererseits aber auch als »Sprache für den Ausdruck anderer, nichträumlicher Relationen des Textes«.18 Lotman erkennt also, dass »das räumliche Modell der Welt« in literarischen Texten »zum organisierenden Element wird, um das herum sich auch die nichträumlichen Charakteristiken ordnen«.19 Die so entstehenden semantischen Räume sind durch bewusste Grenzziehungen voneinander unterschieden. In literarischen (und filmischen) Darstellungen werden solche Grenzziehungen eben auch zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vorgenommen – und in der Folge infrage gestellt, überschritten, nivelliert und stets aufs Neue verhandelt. Diese Grenzziehungen und die jeweilig verhandelten Möglichkeiten zur Grenzüberschreitung können nicht nur aufschlussreich für den historischen Kontext sein, da sie verraten, welche Semantiken, Funktionen und Werte dem Privaten und dem Öffentlichen zugeschrieben worden sind – sie können auch zeigen, dass der Text ganz andere Grenzen setzt als die vorherrschende Meinung im Diskurs der Zeit; dann macht er zum Beispiel kulturkritisch auf Missstände aufmerksam, zeichnet dystopische oder utopische Bilder einer (möglichen) alternativen Welt ← 11 | 12 → oder vermittelt regressive, konservative oder modernistisch-progressive Ideologien (ist also entweder ›restitutiv‹ oder ›revolutionär‹20). Es lassen sich dabei Rückschlüsse auf das jeweilige Denksystem21 (die ›gedachte‹ Welt) einer Epoche ziehen. In diesem Sinne dient Literatur der Speicherung von Diskursen und fungiert als Transport- und Reflexionsmedium über Privatheit.

Dieser Vielschichtigkeit von textuellen Privatheitsphänomenen ist der vorliegende Band gewidmet, welcher sich einerseits mit der Frage auseinandersetzt, wie ›Privates‹ erzählt werden kann bzw. welche narrativen Verfahren und Erzähltechniken eingesetzt werden, um ›Privatheit‹ literarisch darzustellen. Ziel dieses Bandes soll es andererseits sein, exemplarisch anhand ausgewählter Texte die mit Privatheit verbundenen Themen, Motive und Strukturen zu rekonstruieren und in Beziehung zueinander zu setzen. Die versammelten Beiträge nehmen sich also der Frage nach den Repräsentationen und Inszenierungsweisen von Privatheit an und zeigen, auf welch mannigfaltige und differierende Weise das Private in literarischen Texten dargestellt, semantisiert und bewertet werden kann und in welcher Relation es zu dem jeweils ›Öffentlichen‹ steht.

Der Titel dieses Bandes ist dabei absichtlich ambig gehalten, um – je nach Akzentuierung – entweder das Dargestellte (Gegenstand) selbst oder die Art und Weise der Darstellung (Modus) hervorzuheben. Mit ›Privates erzählen‹ sind die Inhalte der jeweiligen Texte angesprochen, die ›privat‹ sein können und die in narrativer Form dargestellt sind. Hier liegt der Fokus auf der Struktur und dem Inhalt des Erzählten. Zum anderen kann ›privates Erzählen‹ den Akzent auf die Erzählweise setzen, also eine bestimmte ›private Art der Narration‹. Des Weiteren impliziert das Verb ›erzählen‹, dass es jemanden gibt, der erzählt – ein Textsubjekt also, das sein Werk als ›privates Dokument‹ der eigenen Biografie ausstellen und sich selbst über ein bestimmtes Konzept der Autorschaft inszenieren kann.

All diese Aspekte sollen im folgenden Kapitel differenzierter betrachtet und in drei Punkten systematisch erfasst werden, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass es sich bei den nachfolgend aufgelisteten Aspekten nicht um einander exkludierende Elemente handelt, sondern um Verfahren und Darstellungsmodi, die einem Text – in mehr oder minder hoher Ausprägung – gleichzeitig inhärent sind bzw. sein können. ← 12 | 13 →

4. Poetik des Privaten

So kann poetisierte Privatheit 1. mittels Bedeutungskonstitution/Semantisierung auf topologischer/topografischer Ebene durch die Modellierung und Abgrenzung semantischer Räume sowie die hierauf basierenden Grenzüberschreitungen, auf Figurenebene durch Figurenkonstellationen und Semantisierungen der Figuren22 (Charakterisierungen, Verhaltens-, Sprech- und Handlungsweisen) präsent sein; oder 2. erzähltechnisch über narrative Verfahren inszeniert werden: Dies betrifft zum einen den Grad an Mittelbarkeit über den Erzählmodus (dramatischer vs. narrativer Modus)23 – also zum Beispiel die Darstellung von subjektiven Bewusstseinsprozessen (Gedanken, Gefühlen und Stimmungen) im dramatischen Modus; oder zum anderen Arten ›privater‹ Erzählformen über (interne) Fokalisierung (z.B. innerer Monolog oder Bewusstseinsstrom); schließlich aber Darstellungen mittels ›privater‹ Sprechsituationen über eine ›subjektive‹ Erzählperspektive (z.B. autodiegetisches Erzählen). So kann beispielsweise schon anhand der Erzählsituation aufgezeigt werden, dass die unterschiedlichen Perspektivierungen – je nachdem, ob es sich um einen heterodiegetischen oder autodiegetischen Erzähler handelt – dazu führen können, dass ein Erzähler in der Kommunikation mit den Rezipienten eher ›intim-subjektiv‹ oder aber ›distanziert-objektiv‹ ›wirkt‹.

Privatheit kann 3. aber auch über den Geltungsanspruch bzw. Status eines Textes generiert werden. So kann ein autofiktionaler Text24 über seinen proklamierten ›privaten‹ Textstatus (z.B. als vermeintlich autobiografisches Zeugnis mit Dokumentarcharakter) durch die Suggestion von Authentizität für die Rezipienten eine besondere Bedeutung erhalten. Es geht hierbei also um die Frage danach, ob der Text als fiktionales Werk verstanden werden will und als solches ausgewiesen wird (z.B. über die paratextuelle Gattungszuschreibung ›Roman‹) oder ob es sich um einen faktualen (Gebrauchs-)Text (Tagebucheinträge, Notizen, Briefe, Blogeinträge) handelt, an den von den Rezipienten ein besonderer Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch gestellt wird.25 Eng damit verbunden ist die Inszenierung der ›privaten Gehalte‹ eines solchen Textes, die über die Suggestion einer Konvergenz ← 13 | 14 → von Textsubjekt und Person des Autors erzielt werden kann. Der Autor kann sich durch seine Selbstdarstellung als Privatperson inszenieren und seine Werke für die Öffentlichkeit dadurch interessant machen, dass er vermeintlich ›Privates‹ (private Dokumente [wie z.B. Tagebuchaufzeichnungen und private Notizen] und Erfahrungen aus dem eigenen Leben etc.) in seine literarischen Texte implementiert oder sich auf gewisse Weise öffentlich inszeniert. Er kann seinen Werken so einen besonderen Status zuschreiben, Authentizität effizieren und ein entsprechendes Konzept von Autorschaft vertreten. Privatheit kann so performativ vom Autor als marktstrategisches Instrument funktionalisiert werden.

All diese Merkmale spielen in den hier versammelten Beiträgen eine mehr oder minder gewichtige Rolle. Der Band ist dabei in drei Hauptkapitel gegliedert, in denen unterschiedliche Beiträge zusammengestellt sind, die jeweils spezifische Aspekte von Privatheit beleuchten. Jedem dieser Hauptkapitel sind einleitende ›Vorbemerkungen‹ der Herausgeber/innen vorangestellt, die in die einzelnen Beiträge thematisch einführen.

Im ersten Teil (›Privatheit und Öffentlichkeit als semantische Oppositionen‹) rekonstruieren die Autor/innen Semantiken der Privatheit und bestimmen deren Grenzziehungen und Relationen zum Nicht-Privaten, wobei die entsprechenden semantischen Räume (vorwiegend) in Opposition zueinander stehen. Das zweite Kapitel steht unter dem Zeichen der Überwachung und Transparenz (›Privatheit und Überwachung‹) und versammelt Beiträge, in denen Bedeutungsspektren rekonstruiert werden, die unter den Begriff ›Semantiken des Verlusts‹ subsumiert werden können, da hier Privatheit in Konfrontation mit Überwachungsstaaten oder Transparenzgesellschaften in die Krise gerät. Im letzten Teil dieses Bandes (›Private Texte‹) finden sich schließlich Aufsätze, die sich mit autobiografischen Konstrukten und Privatheit als poetologischer Strategie beschäftigen – also der Frage nachgehen, auf welche Weise Autor/innen sich in ihren literarischen Texten inszenieren.

Literaturverzeichnis

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Bobbio, Norberto: »The Great Dichotomy. Public/Private«. In: Ders.: Democracy and Dictatorship. The Nature and Limits of State Power. Minneapolis 1989, S. 1–21.

Böhme, Gernot/Gahlings, Ute (Hg.): Kultur der Privatheit in der Netzgesellschaft. Bielefeld 2018.

Doubrovsky, Serge: »Nah am Text«. In: Kultur und Gespenster. Autofiktion 7 (2008), S. 123–133. ← 14 | 15 →

Flügel-Martinsen, Oliver: »Privatheit zwischen Moral und Politik. Konturen und Konsequenzen eines Spannungsverhältnisses«. In: Seubert, Sandra/Niesen, Peter (Hg.): Die Grenzen des Privaten. Baden-Baden 2010, S. 59–72.

Geuss, Raymond: Privatheit. Eine Genealogie. Frankfurt/M. 2002.

Gräf, Dennis/Halft, Stefan/Schmöller, Verena: »Privatheit. Zur Einführung«. In: Dies. (Hg.): Privatheit. Formen und Funktionen. Passau 2011, S. 9–28.

Grimm, Petra/Krah, Hans: »Privatsphäre«. In: Heesen, Jessica (Hg.): Handbuch Informations- und Medienethik. Stuttgart/Weimar 2016, S. 178–185.

Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M. 2013.

Halft, Stefan/Krah, Hans: »Vorwort«. In: Dies. (Hg.): Privatheit. Strategien und Transformationen. Passau 2013.

Hennig, Martin: Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels. Marburg 2017.

Krah, Hans/Titzmann, Michael (Hg.): Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. Passau 2013.

Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994.

Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. München 1972.

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Rössler, Beate: Der Wert des Privaten. Frankfurt/M. 2001.

Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Berlin 2008.

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Wagner-Egelhaaf, Martina: »Einleitung. Was ist Auto(r)fiktion?«. In: Dies. (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld 2013, S. 7–21.


1 So beschäftigen sich etwa nicht nur die Soziologie, die Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaften mit dem Themenkomplex ›Privatheit‹, sondern auch die Politik-, Geschichts- und Rechtswissenschaften.

2 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2015, S. 64 f.

3 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M. 2013, S. 67–69.

4 Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Berlin 2008, S. 275–286.

Details

Seiten
340
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631753378
ISBN (ePUB)
9783631753385
ISBN (MOBI)
9783631753392
ISBN (Hardcover)
9783631746400
DOI
10.3726/b13867
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Innerlichkeit Empfindsamkeit Romantik Biedermeier Moderne Überwachung Selbstinszenierung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 340 S.

Biographische Angaben

Steffen Burk (Band-Herausgeber:in) Tatiana Klepikova (Band-Herausgeber:in) Miriam Piegsa (Band-Herausgeber:in)

Steffen Burk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg ›Privatheit und Digitalisierung‹ der Universität Passau im Fachbereich Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie, Rezeptions- und Intertextualitätsforschung, die Literatur der Weimarer Klassik und Romantik, der Restaurationszeit und Moderne. Tatiana Klepikova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg ›Privatheit und Digitalisierung‹ der Universität Passau. Sie forscht zu sowjetischer und zeitgenössischer (Kultur-)Geschichte Russlands, Politisierung der Kunst und im Bereich der Queer Studies. Miriam Piegsa ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg ›Privatheit und Digitalisierung‹ im Fachbereich Medienwissenschaften und Lehrbeauftragte im Fachbereich Mediensemiotik an der Universität Passau. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Authentizitätskonzepte, Erinnerungskulturen, Comicforschung und Dokumentarfilmtheorie.

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