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Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400-1750)

Beiträge zur fünften Arbeitstagung in Wrocław (April 2017)

von Miroslawa Czarnecka (Band-Herausgeber:in) Alfred Noe (Band-Herausgeber:in) Hans-Gert Roloff (Band-Herausgeber:in)
©2018 Sammelband 376 Seiten

Zusammenfassung

In Fortsetzung des Arbeitsprogramms der Forschungsgruppe widmet sich dieser Band wiederum einer ungewohnten Perspektive der Rezeptionsliteratur, nämlich der Aufnahme von deutschsprachigen Werken der Frühen Neuzeit in anderen Literatursprachen. Als wichtigstes Ergebnis ist daraus abzuleiten, dass die Rezeption von deutschsprachiger Dichtung in anderen europäischen Literatursprachen in diesem Zeitraum eine Ausnahmeerscheinung bleibt. Es sind vor allem Werke der Fachliteratur (artes, Reisebeschreibungen) und der konfessionellen Polemik, die in anderen Ländern Interesse hervorrufen. Lediglich literarische Figuren wie Fortunatus, Faust und Till Eulenspiegel u. a. finden vor allem im Laufe des 17. Jahrhunderts Eingang in außerdeutsche Literaturen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort (Mirosława Czarnecka / Alfred Noe / Hans-Gert Roloff)
  • Aspekte der Rezeption von Textender Mittleren Deutschen Literatur in Europa (Hans-Gert Roloff)
  • Sigmund von Birkens Donau-Strand. Ein deutscher Bestseller des Barock in italienischer Übersetzung (Alfred Noe)
  • Die Rezeption der deutschen Literatur im Frankreich des Sonnenkönigs: Adrien Baillets Jugemens des sçavans sur les principaux ouvrages des auteurs (1685/1686). (Anne Wagniart)
  • Die jiddische Adaptation von mittelhochdeutschen Werken im Spätmittelalter. Ein Beispiel: Die Historie von dem Kaiser Octaviano (Danielle Buschinger)
  • Die Rezeption des Volksbuches vom Doctor Faust bei Christopher Marlowe (Winfried Woesler)
  • Histori om den stormectige keyser Alexandro (1584) und Historia om Doctor Johann Fausto (1588): zwei verwandte dänische Übersetzungen aus dem Deutschen? (Peter Hvilshøj Andersen-Vinilandicus)
  • „Wir kommen erst aus Spanien zurück, Dem schönen Land des Weins und der Gesänge“. Zur Faust-Rezeption in der spanischen Literatur (Isabel Hernández)
  • Das französische Faustbuch als Forschungsproblem (Daniel Syrovy)
  • Zur Rezeption der Schriften Jeremias Drexels in Deutschland und Polen im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Kalina Mróz-Jabłecka)
  • Deutsche Literatur in der Res Publica Polonia in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Versuch einer synthetischen Sicht (Marcin Cieński)
  • Überlegungen zur Fremdsprache Deutsch im Italien des 17. Jahrhunderts am Beispiel von Chirchmairs Gramatica della lingua todesca (1688) (Federica Masiero)
  • Luther und Machiavell. Asymmetrische Kulturbeziehungen als Folge divergierender Weltanschauungen (Roberto De Pol)
  • ‚Hin und zurück‘ Zur italienischen Rezeption fachliterarischer Texte aus dem deutschsprachigen Kulturraum im 16. Jahrhundert (Laura Auteri)
  • Nonkonforme Literatur deutscher Provenienz in niederländischen Privatbibliotheken (Jörn Münkner)
  • Die Rezeption der Mittleren deutschen Literatur in Slowenien unter besonderer Berücksichtigung des „Till Eulenspiegel“ (Marija Javor Briški)
  • Till Eulenspiegel in der polnischen Literatur. Rezeption und Fortwirkung (Tomasz Jabłecki)
  • Till Eulenspiegel als Vorbild einer transkulturellen Wechselbeziehung innerhalb des Mittelmeerraums? Fragen zur Entstehungsgeschichte, Rezeption und Wirkung (Fausto De Michele)
  • Register

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Vorwort

Die Veranstalter der Fünften Arbeitstagung zur Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750), die vom 20. bis 23. April 2017 in Wrocław stattfand, legen hiermit die Beiträge zu der interessanten und erfolgreichen Tagung vor. Die Tagung wurde dank der finanziellen Unterstützung des Rektors der Universität Wrocław, des Dekans der Philologischen Fakultät der Universität Wrocław und des Direktors des Instituts für Germanistik der Universität Wrocław organisiert. Wir danken auch dem Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Breslau und Dolny Slask für die Schirmherrschaft.

Wie bereits in den Bänden zu unseren ersten vier Arbeitstagungen (Eisenstadt 2011, Hundisburg-Haldensleben 2013, Wissembourg 2014, Palermo 2015) ausgeführt, steht im Zentrum des Interesses die Anwendung des Begriffs der „Rezeption“ auf die Mittlere Literatur zwischen 1400 und 1750 – also zwischen Mittelalter und Aufklärung. Die Richtung der Untersuchungen war darauf ausgerichtet, auf dem Wege der Deskription, der Textbeschreibung, Veränderungen formaler und mentaler Art als Phänomene des Rezeptionsvorganges zu objektivieren, um damit zu einem besseren Verständnis vom Arbeitsbegriff „Rezeption“ zu gelangen und gleichzeitig diesen mit neuem empirischen Material zu belegen.

Das Thema dieser Tagung war die literarische Rezeption von Texten der Mittleren Deutschen Literatur in anderen europäischen Literaturen, wobei sich herausgestellt hat, dass die Rezeption von deutschsprachiger Dichtung in anderen europäischen Literatursprachen in diesem Zeitraum eine Ausnahmeerscheinung bleibt. Es sind vor allem Werke der Fachliteratur (artes, Reisebeschreibungen) und der konfessionellen Polemik, die in anderen Ländern Interesse hervorrufen. Lediglich literarische Figuren wie Fortunatus, Faust und Till Eulenspiegel u. a. finden vor allem im Laufe des 17. Jahrhunderts Eingang in außerdeutsche Literaturen.

Wrocław / Wien / Berlin, im Juni 2018

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Aspekte der Rezeption von Texten der Mittleren Deutschen Literatur in Europa

Hans-Gert Roloff (Berlin / Bauer)

Zusammenfassung: Nach einem Rückblick auf die bisherige Tätigkeit des Arbeitskreises werden einige Probleme bei der Definition von Übersetzung, Übertragung und produktiver Rezeption erwogen. In der Folge werden empirische Stichproben zur Rezeption der Schriften von Sebastian Brant, Beispiele der artes-Literatur sowie die besondere Rezeption von Martin Luther vorgestellt und analysiert. Daraus ergibt sich der dringende Bedarf nach einer Präzisierung des Arbeitsbegriffs der literarischen Rezeption.

Stichwörter: literarische Rezeption; artes-Literatur; Sebastian Brant; Martin Luther

Unser Arbeitskreis zur Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750) trifft sich hier in Wrocław nun zum fünften Mal. Das sollte rechtfertigen, einen kurzen Blick auf das gemeinsame Geleistete zu werfen.

Der Arbeitskreis tagte seit 2011 meist in Intervallen zu zwei Jahren und jeweils auf Einladung einer wissenschaftlichen Institution, die dankenswerterweise die Gastgeberpflichten übernommen hat. Der freie Arbeitskreis verfügt ja über keine finanziellen Mittel. Die vier Tagungen fanden 2011 in Eisenstadt auf Einladung der Universität Wien, 2013 auf Schloss Hundisburg (Sachsen-Anhalt) auf Einladung der KULTUR – Landschaft Haldensleben-Hundisburg e.V., 2014 in Wissembourg auf Einladung der Universität Strasbourg und 2015 auf Einladung der Universität Palermo statt. 2017 sind wir nun erwartungsvoll hier an der europäisch zentralsten gelegenen Universität Wrocław! Als Zeichen der Dankbarkeit wurde den gastgebenden Institutionen jeweils der Band mit den Beiträgen zur Veranstaltung in Jahresfrist überreicht – dass das so störungsfrei geschehen konnte, verdanken wir dem selbstlosen Einsatz von Herrn Kollegen Noe und dem Verlag Peter Lang (Bern).

Dadurch sind die bisher abgehaltenen Tagungen, die übrigens alle in bemerkenswerter Harmonie und herzlicher Kollegialität stattgefunden haben, nicht “Schall und Rauch“ geblieben, sondern in ihren Ansichten, Meinungen und Wertungen Dokumente der germanistischen Wissenschaftsgeschichte geworden. Es sind insgesamt 2.054 Seiten. Bemerkenswert ist, dass die Teilnehmer der Arbeitstagungen aus den meisten Ländern Europas stammen.

Die Anwendung des Begriffs der Rezeption auf die Mittlere Literatur zwischen 1400 und 1750 – also zwischen Mittelalter und Aufklärung – für textnahe Recherchen hat sich als fruchtbar erwiesen. Die Richtung der Untersuchungen ← 9 | 10 → war darauf ausgerichtet, auf dem Wege der Deskription, der Textbeschreibung, Veränderungen formaler und mentaler Art als Phänomene des Rezeptionsvorganges zu objektivieren.

Dahinter steht ein ur-literarisches Prinzip, Wissen und artikulierte Kenntnisse, die in einem anderen Sprachraum als dem eigenen existieren, herüberzuholen und sie sich nützlich und erfahrbar zu machen. Das gilt schon konkret fassbar für die griechisch-römische Literatur, in weit stärkerem Maße aber für die europäische Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Aber es gilt ja auch heute weiterhin:

Im literarischen Betrieb mit seinen Vorgängen der Rezeptions-Prozeduren ist bereits im Autorenrecht fixiert: jede Veränderung gilt als produktiv und ist insofern als kreativ zu bewerten – vor allem im Honorar-Bereich.

Man könnte sagen: die literarische Rezeption ist heute der Mainstream der Literatur – und die Literatur in ihrer Verwendbarkeit macht’s möglich.

Darin gondeln einige U-Boote original kreativer Textschöpfung, die aber bald dem geschäftsbedingten Mainstream zum Opfer fallen!

Es scheint, das Interesse des 19. Jahrhunderts an schöpferischer Literatur wendet sich immer stärker zum Phänomen der Rezeption und deren literarischer Gestaltung und im Weiteren zum Test einer Brauchbarkeit für ideologische Demonstrationen.

Das Problem zielt auf die Frage: Ist die produktive Rezeption eine eigenständige, sozusagen autochthone Schöpfung?

Oder: bloß Umsetzung, oder deutlicher: Übersetzung eines Textes von einem Sprach- und Lebensraum mit einen anderen?

Meiner Meinung nach ist die Übersetzung eine Unterstufe der literarischen Rezeption – sie kann zum Rang der produktiven Rezeption aufsteigen, kann aber auch im adäquaten, philologisch bedingten Raum der Originaltext- Reproduktion im anderen sprachlichen Medium bleiben.

Die grundsätzliche Funktion der produktiven Rezeption steckt ja schon in der althergebrachten Formel des Thomas von Aquin:

Quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur. (Summa Theologica 1.75, 5c) (Was immer rezipiert wird, wird nach Maß/Art des Rezipienten rezipiert.)

D.h. der modus recipientis ist die entscheidende Komponente für die Integration des rezipierten Textes in die ‚andere‘ Literatur. Das umschließt auch die Frage, aus welchen Gründen zu welcher Funktion der Text rezipiert wurde.

Der modus recipiendi aber ist durch das literarisch sicherste, weil konkreteste Verfahren zu bestimmen: durch den Vergleich zwischen Ausgangstext und Zieltext. Die Kriterien für das Vergleichsverfahren des jeweiligen modus recipiendi liegen nicht fest – wie etwa in Grammatik und Sprachstil bei den Übersetzungen, – sondern sie sind ad rem zu entwickeln. Überdies weisen sie auch auf die Zielrichtung unseres Arbeitskreises, nämlich „Bedeutung für ← 10 | 11 → Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit“, hin und beanspruchen daher ihre historische Integration.

Die vorgelegten Untersuchungsergebnisse unserer ersten drei Treffen haben das weitgehend in Einzelfällen belegt und konkret vorgeführt.

Der Start brachte seinerzeit überwiegend einzelne Modellfälle aus der europäischen Literatur – Italien, Frankreich, Spanien, der Antike. Die Beiträge zum zweiten Treffen zeigten eine Vertiefung der Problematik von Rezeption und Übersetzung, die Rezeption von Texten des Mittelalters in der frühen Neuzeit und das Verhältnis von Rezeption und Genese im Roman der Zeit; dazu kamen Beispiele aus den Bereichen der Verhaltensliteratur und der Fachliteratur. Bei den Beiträgen zum dritten Treffen lag der Schwerpunkt auf der Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts und der mehr oder weniger verdeckten Rezeption antiker Übersetzungen mit gezielten Invektiven gegen zeitgenössische Vorgänge.

Insgesamt liegen über 50 Spezialuntersuchungen zum Phänomen der literarischen Rezeption in der Frühen Neuzeit vor. Die ersten Eindrücke von Phänomenen der literarischen Rezeption sind somit aus der Empirie der Vergleichsuntersuchung gewonnen worden. Dabei zeigt sich als Gemeinsamkeit, dass der modus recipiendi auf eine argumentative Funktionalität für die eigene Zeit abzielte.

Detail-Recherchen führten dann zu dem Versuch, den Begriff der literarischen Rezeption auf die geschichtlich-stoffliche Ebene zu übertragen und zu fragen: Warum und wie werden historische Figuren und Vorgänge der Frühen Neuzeit im 19. und 20. Jahrhundert neu problematisiert und nach Bedürfnissen der neueren Zeit ideologisiert – und das durchaus bis zur Verfälschung der Geschichte.

Auch hier zeigt sich, dass geschichtliche Figuren und Vorgänge ungeniert nach Maßgabe des modus recipientis einer modernen Ideologie als vorgeblich historische Basis angedient werden. Es geht nicht mehr um die Geschichte, also um Geschehenes, sondern um deren mehr oder weniger geistreiche Einfärbung in gezielte Ideologien, um diese durch historische Zuleitungen zu fördern.

*

Um die Funktion der literarischen Rezeption weiter abzutasten, hatten wir uns in Palermo entschlossen, die nicht-deutschsprachige Literatur Europas auf ihre Rezeption deutschsprachiger Literatur der mittleren Periode zu befragen – kurz: Was hat Europa an deutschsprachiger Literatur in der Frühen Neuzeit rezipiert?

Im Nachhinein zeigt sich, dass die Fragestellung etwas keck gewesen ist. Der intellektuelle Export aus dem deutschen Sprachgebiet scheint nicht besonders stark gewesen zu sein, was auch für das immerhin sensationelle Ereignis des Auftritts Luthers und dessen Folgen gilt. Je mehr die lutherische Bewegung zur Volksbewegung wurde, je mehr artikulierte sie sich in der Nationalsprache. Deren Geltungsbereich endete aber an den Grenzen der anderen europäischen Nationalsprachen – es sei denn, man griff zur Universalsprache des Neulateins, das als lingua franca die sprachliche Kommunikation in ganz Europa ← 11 | 12 → möglich machte – und zwar nicht nur im Bereich der Wissenschaften, sondern gerade auch im Bereich der touristischen Kommunikation. Der elsässische Schriftsteller Georg Wickram, der nur deutsch schrieb, verkündete das in seinem Jr reitenden Pilger – mit Latein kommt man durch die Welt:

So kann er auch sein gut Latein
Das er wol in Affricam neihn/
Möcht faren unnd in die Dürckey
In Persen/ Indiam dabay/
Das er sprock halb kein mangel lit. (1654–58)

Die selbstverständliche Kenntnis der Universalsprache eben auch außerhalb der akademischen Kreise ist für die europäische Rezeption nationalsprachlicher Texte eine wesentliche Voraussetzung für die literarische Rezeption. Der historische Befund macht es klar und deutlich: Die Mittlere Deutsche Literatur ist zweisprachig gewesen und sie konnte über die neulateinische Schiene – sei es im Original, sei es in der Übersetzung – europäisch kommunizieren. Dass die literarische Kommunikation einem ideologisch bedingten Auswahlprinzip unterworfen war, steht natürlich auf einem anderen Blatt und gehört zu „Salz und Pfeffer“ der Rezeption.

*

Ehe ich zu Luther komme, möchte ich Ihnen doch meinen Eindruck einer sehr gezielten bibliographischen Recherche nach Rezeptions-Exemplaren aus dem Bereich der Mittleren Deutschen Literatur mitteilen. Die Testfragen waren:

  1. Was ist gegebenenfalls im 15.–17. Jahrhundert von Texten dieser Zeit in andere europäische Sprachen übersetzt worden und wo wurde es gedruckt?
  2. Was an herkömmlich deutschen Texten ist in lateinischer Fassung in welchem Jahr auf nicht deutschem Gebiet gedruckt worden?

Hierbei sind für die Rezeption gerade die nichtdeutschen Druckorte ausschlaggebend. Dass in Deutschland gedruckte neulateinische Texte in anderen Ländern vertrieben wurden, ist selbstverständlich, ihnen fehlt aber der actus recipiendi. Die Informationsquellen boten die großen Kataloge der Nationalbibliotheken British Library und Bibliothèque Nationale de France.

Das Ergebnis der Recherche ist aufschlussreich: Eine Vielzahl recherchierter deutschsprachiger Autoren des 15.–17. Jahrhunderts begegnete in keiner zeitgenössischen Ausgabe im Ausland. Pauschal kann man sagen: Deutschsprachige Dichtung ist kaum rezipiert worden; weder Wickram noch Gryphius noch Grimmelshausen – um nur diese zu nennen; das gleiche gilt zum Beispiel für die lateinische Dichtung von Conrad Celtes.

Anders ist es aber z.B. bei Sebastian Brant, dessen Narrenschiff (1494) – ein Bestseller im deutschen Sprachbereich – in der lateinischen Übersetzung von Jakob Locher vor allem gelesen wurde, aber dann auch im Englischen, Französischen, ← 12 | 13 → Aspekte der Rezeption von Texten 13 Niederländischen in Übersetzungen rezipiert worden ist, die auf der lateinischen Fassung, nicht auf dem Originaltext basierten. Die Daten sind interessant:1

In alemannischer Fassung mit zunehmendem sprachlichem Ausgleich liegt es 26mal zwischen 1494 und 1625 gedruckt vor. Lochers Stultifera navis, Erstausgabe 1497, erreichte bis 1572 vierzehn Ausgaben, darunter vier in Paris (1499, 1507, 1513, 1515), eine in Lyon (1498); die anderen erschienen auf deutschsprachigem Gebiet: Basel, Nürnberg, Augsburg, Straßburg. Lochers lateinische Fassung gab gekürzt Jodocus Badius als “Navis stultifera” (Paris 1505) heraus; sie wurde bis 1554 siebenmal nachgedruckt.

Dass im französischen Bereich 5 Drucke der neulateinischen Fassung Lochers erschienen, zeigt, wie begehrt das sozial-satirische Konzept aus ursprünglich deutscher Feder in Frankreich war. Die niederdeutschen Fassungen aus den Jahren 1497, 1519 schließen sich dem alemannischen Text an.

Die erste englische Fassung von Alexander Barclay, Ship of folys, ist nach Jacob Lochers lateinischer Fassung gearbeitet und erschien London 1509, später (1570 u. 1590) nachgedruckt; eine zweite englische Fassung mit dem Titel Ship of fools, aus der Feder von Thomas Watson, erschien London 1509, danach 1517 – sie ging aber auf die französische Übersetzung zurück.

Die französische Fassung, erstellt von Pierre Rivière, war schon Paris 1497 erschienen: “La nef des folz du monde”. Ihr folgte eine weitere französische Übersetzung, Paris 1499, und ca. sechzehn Bearbeitungen bzw. Ausgaben bis 1583. Sechs niederländische Ausgaben begegnen seit 1500 (Paris) bis 1635 (Amsterdam).

Das Narrenschiff erweist sich allein durch diese Rezeption als einer der großen europäischen Texte der Frühen Neuzeit. Das unter der Maske der Narren aufgelistete sündige Weltverhalten der Menschheit, vornehmlich der Städter, passte genau in europäische Vorstellungen und stellte überdies in literarisch-poetischer Hinsicht eine Glanzleistung für die damalige Zeit dar, mit der sie sich identifiziert zu haben scheint.

Aber mir ist bei meinen Recherchen noch etwas Anderes aufgefallen, dem ich im weiteren Verlauf nicht mehr nachgehen konnte:

Es scheint, dass von außen her ein Interesse an deutscher Literatur – sei sie im Original in Latein geschrieben oder ins Lateinische übersetzt worden – bestand, die in den Bereich der artes-Behandlungen gehört, und zwar der artes liberales mechanicae bzw. der artes liberales magicae.

Zu ersteren gehört etwa die Schrift des Johannes Boemus/Böhm (1485–1535), eines Ethnographen aus Aub in Franken; er war Hauskaplan des Deutschordenshauses in Ulm und hat 1520 in Augsburg eine Völkerkunde unter dem Titel Omnium gentium mores, leges et ritus (Sitten, Gesetze und Gebräuche aller Völker) vorgelegt. Das Werk war ein Bestseller; es erreichte bis 1621 29 verschiedene Ausgaben, darunter: ← 13 | 14 →

1538/58 10 französische,
1542/85 10 italienische,
1556 1 spanische,
1555+1611 je eine englische
1604 erst eine deutschsprachige Ausgabe!

Nicht anders scheint es mit dem außerdeutschen Erfolg von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535) zugegangen zu sein. Drei Jahre jünger als Luther, stromerte er als intellektueller Streiter, als Arzt, Theologe, Jurist, durch Europa und stellte in De occulta Philosophia (Köln 1510) ein System des Okkultismus dar. Berühmt wurde seine Schrift Declamatio de incertitudine et vanitate scientiarum et artium (Köln 1527); ihre satirisch scharfe Kritik an den zeitgenössischen Zuständen von Staat und Kirche soll Einwirkungen auf Giordano Bruno gehabt haben. Es liegen mehrere Ausgaben in englischer, italienischer, niederländischer und französischer Übersetzung vor, die in Paris, Genua, Venedig und London gedruckt wurden, und zwar im 17. Jahrhundert noch öfter als im 16. Jahrhundert. Die lateinischen Originalausgaben erschienen in Köln, Paris (1531), Antwerpen (1530), Lyon, Den Haag (1662). Sie wären nicht in den außerdeutschen Werkstätten gedruckt worden, wenn es nicht Leser dafür gegeben hätte!

Ähnlich europäisch weit streuend war auch die außerdeutsche Rezeption der Schriften von Paracelsus = Theophrast Bombast von Hohenheim (1493–1541); seine Gebiete waren Medizin, Chemie, Philosophie. 1589/90 erschien die erste Gesamtausgabe in Basel. Auch seine Schriften fanden großes Inter-esse:

im Englischen: London 1590,1656,1657,1659,1661,1663,
im Niederländischen: Antwerpen 1568, 1614, 1629,
im Französischen: Anvers 1570, Paris 1631.

Ich gebe diese Hinweise nur als Illustration, um zu zeigen, dass das auswärtige Interesse an deutschen Geistesprodukten sich eher auf den Sachbuchbereich als auf die poetische Textwelt bezog. Im Rahmen der Rezeptionsforschung erhebt sich hier die Forderung, in verstärktem Maße die Rezeption der deutschen Sachbuchliteratur in Europa zu ermitteln, zunächst bibliographisch, ehe man interdisziplinär ihre möglichen Einwirkungen erforscht. Dabei haben Übersetzungen in andere Sprachen wie auch Drucke des 16. und 17. Jahrhunderts in anderen Ländern die stärkste Belegkraft, denn aus ihnen geht der willentliche Akt zur Rezeption hervor.

Die bibliographische Aufarbeitung der realen Druckproduktion jeweils im anderen europäischen Lande – sei es Nachdruck oder Übersetzung – ist eine wesentliche Grundlage für den europäischen Austausch in diesen Jahrhunderten. Eine europäisch orientierte Literarhistorie ist auf literaturwissenschaftliche Empirie angewiesen, um die tatsächlichen Rezeptionen fixieren und deren mögliche Wirkungen auf die andere Literatur bzw. Geisteswelt beobachten zu können. ← 14 | 15 →

In der Frühen Neuzeit ist Europa nicht so streng materiell abgeschottet gewesen, wie es die spätere nationalistische Historiographie vorgibt. Der gemeinsame Bezug auf die Antike in der Frühen Neuzeit und die Möglichkeit der Kommunikation durch das Neulatein als eine Art lingua franca der Zeit haben engere Beziehungen geschaffen, die gerade heute wieder ihrer Aufdeckung bedürfen. Das gilt auch ebenso für den Fall der Verweigerung, die Innovationen des Wittenberger Reformationskonzepts stante pede allenthalben rezipieren.

*

Martin Luther ist bis heute wohl der Schriftsteller der deutschen Sprache, dessen Werk die höchste Zahl an wiedergedruckten Publikationen erreicht hat und der als Schriftsteller kontinuierlich durch fünf Jahrhunderte aktuell und präsent geblieben ist. Ein Phänomen sondergleichen, zumal er nicht nur im zünftigen Diskurs der kirchenhistorischen Fachkollegen und konfessionellen Debatten, sondern auch in den ständigen Diskussionen um die politischen Wirkungen seiner Lehre und Konzeptionen in Kreisen der Laien ununterbrochen präsent war – allerdings fast ausschließend im deutschsprachig-protestantischen Gebiet.

Eine Vorstellung von Luthers literarischer Leistung erhält man meines Erachtens am besten unter Berücksichtigung der Statistik, obwohl die inzwischen vorliegenden Vergleichszahlen nicht 100%ig deckungsgleich sind. Meine eigenen Erhebungen und die des Kirchenhistorikers Bernd Moeller weichen jeweils um ein paar Prozent ab. Aber bei beiden sind zunächst die Mengen relevant.2

Buchdruck und Buchvertriebe, die im frühen 16. Jahrhundert ja gerade in die Wege gekommen waren, sind der wichtigste Faktor für Luthers literarischen populären Erfolg gewesen. Luther war bereits fast 34 Jahre alt, als sich die Publikationsmaschinerie mit den Thesen zum Ablass-Handel – übrigens ohne sein Zutun – in Bewegung setzte.

Für Luthers Schriften waren zwischen 1517 und 1546 228 Druckoffizinen tätig, die in diesem Zeitraum circa 694 Schriften oder Schriftensammlungen in etwa 3.734 Ausgaben vorlegten. Geht man davon aus, dass eine Druckausgabe 700, evtl. sogar 1000 Exemplare umfasste, kommt man auf eine Zahl von um die 3 Millionen Exemplare, die vom Buchvertrieb bewegt worden sind, wohlgemerkt: bis zu Luthers Todesjahr 1546! In diese Hochrechnung ist die Bibelübersetzung noch nicht eingerechnet:

Das Neue Testament erschien seit September 1522 in 21 autorisierten Wittenberger Einzelausgaben bis 1546 und seit 1534 in der Gesamt-Bibel bis ← 15 | 16 → ebenfalls 1546 in weiteren 11 Drucken. Daneben erschien das NT einzeln oder in Gesamt-Bibel-Ausgaben unautorisiert seit Basel 1522 in 101 Ausgaben, d.h. insgesamt erschienen zwischen 1522 und 1546, also in 24 Jahren, 133 Ausgaben des NT.

Der Befund der überlieferten Ausgaben von Lutherdrucken lässt auch erkennen, wie die Produktion gelaufen ist. Es lässt sich auf Grund der Bibliographie von Benzing/Claus feststellen, dass vor allem in vier Regionen in Deutschland Luther-Texte gedruckt wurden: An erster Stelle im Stammland der Reformation in Mitteldeutschland mit den Druckorten Wittenberg, Erfurt, Leipzig, Magdeburg, Zwickau und Dresden, wobei Wittenberg am stärksten im Einsatz war: 18 Druckbetriebe produzierten hier 1.137 Drucke zwischen 1518 und 1546. In Süddeutschland waren es Nürnberg und Augsburg, mit 22 Druckbetrieben und 377 Drucken bzw. 20 Druckbetrieben mit 517 Drucken. Im alemannischen Raum waren es Basel, Straßburg, Hagenau und Zürich. Um die niederdeutschen Fassungen kümmerten sich Drucker in Hamburg, Lübeck und Rostock. Wir sehen: Eine Fülle von Luther-Drucken ergoss sich über den deutschsprachigen Buchmarkt!

Überraschend gering ist dem gegenüber die Druckproduktion von originalen Luther-Texten im nicht-deutschsprachigen Gebiet. Am meisten ist dafür im niederländischen Raum geschehen, vor allem in Antwerpen, wo aber auch englische und französische Übersetzungen produziert wurden.

Generell kann man sagen, dass im Verhältnis zu Luthers Textproduktion nur sehr wenige seiner deutschen Schriften übersetzt worden sind, trotz der scharfen Auseinandersetzungen im deutschen Sprachgebiet. Nach Bernd Moellers und meinen Recherchen, die sich in ihren Ergebnissen zahlenmäßig weithin decken, ergibt sich Folgendes – bezogen auf die Lebenszeit Luthers, also bis im Jahre 1546:

Aus dem Deutschen sind übersetzt worden:

Details

Seiten
376
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783034330626
ISBN (ePUB)
9783034330633
ISBN (MOBI)
9783034330640
ISBN (Paperback)
9783034330619
DOI
10.3726/b11442
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Literatur Frühe Neuzeit Deutsche Literatur 16. Jh. 17. Jh. 18. Jh. Rezeption
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 366 S., 13 s/w Abb.

Biographische Angaben

Miroslawa Czarnecka (Band-Herausgeber:in) Alfred Noe (Band-Herausgeber:in) Hans-Gert Roloff (Band-Herausgeber:in)

Mirosława Czarnecka (*1956) lehrt Germanistik an der Universität Wrocław und ist spezialisiert in Mittlerer Deutscher Literatur. Alfred Noe (*1953) unterrichtet Romanische Literaturwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Hans-Gert Roloff (*1932) leitete die Forschungsstelle für Mittlere deutsche Literatur an der FU Berlin.

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