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Vjačeslav Ivanov und seine deutschsprachigen Verleger: Eine Chronik in Briefen

von Michael Wachtel (Band-Herausgeber:in) Philip Gleissner (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 376 Seiten
Reihe: Russian Culture in Europe, Band 14

Zusammenfassung

Der Band beleuchtet die Beziehung des Dichters Vjačeslav Ivanov (1866–1949) zu den Verlagen J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) und Benno Schwabe im Zeitraum 1928–1949. Der Briefwechsel enthält an die 300 größtenteils erstmalig edierten Zeugnisse. Daraus ergeben sich zahlreiche Informationen zu Ivanovs Leben und Werk, zur Geschichte des deutschsprachigen Verlagswesens und zur russischen Exilkultur. Die Archivalien spiegeln die Beteiligung von Literaten und Übersetzern wie Martin Kaubisch, Stephan Kuttner, Edwin Landau, Käthe Rosenberg, Evsej Schor, Fedor Stepun an der Vermittlung der Werke Ivanovs wider. Ferner werden auch Rezensionen zu Ivanovs Werk von Hans Barth, Alfred Bem, Heinrich Fels, Fred Höntzsch, Emil Medtner und Friedrich Muckermann erstmals gesammelt und wiederabgedruckt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zur Edition
  • Zur Einführung: Vjačeslav Ivanovs einzigartiges Schicksal – russische Tradition, deutsche Sprache, italienisches Exil
  • Teil I Briefwechsel mit dem J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Verlag (Briefe 1–204)
  • Teil II Briefwechsel mit dem Verlag Benno Schwabe (Briefe 205–284)
  • Abbildungen
  • Teil III Rezensionen zu Vjačeslav Ivanovs deutschsprachigen Werken
  • 1. Die russische Idee
  • 1A. Emil Medtner
  • 1B. Friedrich Muckermann S. J.
  • 2. Dostojewskij. Tragödie — Mythos — Mystik
  • 2A. Hans Barth
  • 2B. Heinrich Fels
  • 2C.–2D. Fred Höntzsch
  • 2E. Alfred Bem
  • Anhang: Briefwechsel Al’fred Bem – Vjačeslav Ivanov (Briefe 285–289)
  • Abkürzungen
  • Bildnachweis
  • Register der Korrespondenten
  • Personenregister

Zur Edition

Dieser Band setzt sich zum Ziel, Vjačeslav Ivanovs Verhältnis zu zwei deutschsprachigen Verlagen zu erhellen. Jedoch geht es hier relativ selten um Ivanovs eigene Briefe, sondern vielmehr um Briefe, die den Kontext seiner Publikationen erklären. Es wurde manches herangezogen, was nur flüchtige oder überhaupt keine Erwähnung von Ivanov macht, aber doch zum Verständnis dieses Kontextes beiträgt. Wir bieten eher zu viel als zu wenig an, denn so leicht kommt man nicht in die verschiedenen Archive.

Da alle Briefe – egal, von wem und an wen – zusammenhängen, schien es den Herausgebern angebracht, sie chronologisch zu ordnen. Wer einen bestimmten Briefwechsel lesen möchte, kann ihn anhand des Registers der Korrespondenten leicht rekonstruieren. In den meisten Fällen drucken wir die Briefe (bzw. den ganzen Briefwechsel) ungekürzt und vollständig. In wenigen Ausnahmefällen werden Stellen ausgelassen, die weder Ivanov noch die russische Kultur berühren. Solche Auslassungen sind mit spitzen Klammern <…> gekennzeichnet.

Um den Umfang des Bandes überschaubar zu halten, begrenzen wir uns auf deutschsprachige Briefe. Einen Ausnahmefall stellt der Anhang dar, in dem wir den ganzen – übrigens nicht sehr langen – russischen Briefwechsel zwischen Ivanov und A. L. Bem anführen, da er vieles zur Erläuterung der von uns in den dritten Teil aufgenommenen deutschen Rezension von Bem zu Ivanovs Dostoevskij-Buch beiträgt. Dieser Briefwechsel erscheint in Originalsprache mit deutscher Übersetzung. In den Fußnoten und der Einführung werden Auszüge aus russischen Briefen angeführt, wenn eine gewisse Stelle sonst nicht zu erklären ist. Unveröffentlichte russische Texte werden im Original zitiert und mit einer deutschen Übersetzung versehen. Bereits veröffentlichte russische Texte erscheinen nur in unserer deutschen Übersetzung mit Angabe der gedruckten Quelle.

Die Schreibweise der Daten erscheint immer genau so, wie sie im jeweiligen Brief geschrieben wurde. Daher findet man z. B. „d. 30.VI.1928“, „26. Juli 1928“ oder „31.7.28“ usw. Dies ist eine bewusste Entscheidung gegen die Vereinheitlichung, die es künftigen Forschern vereinfachen soll, die Originale im Archiv aufzufinden. Allerdings erlauben wir uns die Freiheit, das Datum eines jeden Briefes immer oben rechts zu drucken, auch wenn es sich im Brief selbst an anderer Stelle befindet, damit die Leser unseres Bandes der Chronologie leicht folgen können.

Offensichtliche Tipp-, Grammatik- und Flüchtigkeitsfehler sowie durch Schreibmaschinennutzung bedingtes Fehlen von Sonderzeichen (besonders „ß“) ←7 | 8→werden stillschweigend korrigiert. Die Rechtschreibung wird weitgehend an die gegenwärtige angeglichen, wobei offensichtliche Eigenarten der Autoren beibehalten werden. Da viele der hier gedruckten Briefe maschinengeschrieben sind, kommt mitunter Sperrung vor. Wir ersetzen sowohl Sperrung als auch Unterstreichung durch Kursivdruck. In den Briefen von Evsej Schor werden mitunter Interpunktion, Genusfehler und sonstige grammatische Einzelheiten verbessert.

Bei der Transkription russischer Namen tauchen besondere Schwierigkeiten auf, denn viele Russen benutzten selbst mehrere Schreibweisen. Evsej Schor hat als „J. Schor“ sowie als „I. Schor“ unterzeichnet. Ivanov war manchmal „Ivanow“, manchmal „Iwanow“, „Ivanov“ oder „Iwanoff“. Außerdem haben viele Russen ihre Namen verdeutscht, wenn sie Werke im Westen veröffentlichten. So wurde „Nikolaj Bubnov“ zu „Nicolai von Bubnoff“ und „Ėmilij Metner“ zu „Emil Medtner“. In den Briefen ändern wir darum die Schreibweise nicht. Dagegen benutzen wir in den Anmerkungen zwei Systeme. Wenn deutschsprachige Publikationen zitiert werden, werden alle Namen so angeführt, wie sie in der Veröffentlichung vorkommen. Bei russisch geschriebenen Werken halten wir uns allerdings an die heute gebräuchliche wissenschaftliche Transliteration. Diese Transliteration benutzen wir auch in der Einführung, mit Ausnahme von Namen wie „Schor“, die im Briefwechsel immer „auf deutsche Art“ erscheinen, so dass es zu Verwirrung führen könnte, wenn dieser Name in der Einführung als „Šor“ vorkommt.

Die überwiegende Mehrzahl der Briefe erscheint hier zum ersten Mal. Auszüge aus einigen Briefen im ersten Teil wurden in dem Artikel „Adventures in Publishing: Oskar Siebeck and the Russian Emigration“ angeführt. Viele Briefe im zweiten Teil erschienen im Anhang des 2012 bei Mohr Siebeck herausgegebenen Buches Dionysos und die vordionysischen Kulte. (Die genauen bibliographischen Angaben zu diesen Publikationen sind in der ersten Anmerkung zur Einführung zu finden.) Nachdem das Buch Dionysos und die vordionysischen Kulte veröffentlicht wurde, tauchten unverhofft im Archiv des Schwabe Verlags viele mit der Geschichte des Werkes verbundene Briefe auf, die nun erstmalig veröffentlicht werden.

Für die Erlaubnis, die jeweiligen Briefe zu veröffentlichen, sei folgenden Personen und Institutionen gedankt: Herrn Professor Sergej Davydov (Nachlass Alfred Bem), Herrn Professor Christof Höntzsch (Nachlass Fred Höntzsch), Herrn Professor Frido Mann (Nachlass Katia Mann), Frau Tatjana Popović (Nachlass Hans Prager), Herrn Professor Andrej Šiškin (Nachlass Vjačeslav Ivanov), Herrn Doktor Georg Siebeck (Nachlass Oskar Siebeck), Herrn Tobias Landau (Nachlass Edwin Landau), dem Schwabe AG Verlag (Nachlass Benno Schwabe), Frau Monika Caroline Hanna Waibel (Nachlass Josef Waibel).

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Unsere Arbeit wurde durch die amerikanische Akademie in Berlin und das Committee for Research in the Humanities and Social Sciences (Princeton University) gefördert. Für Hilfe bei der Materialiensammlung danken wir Kirill Ospovat, Andrej Šiškin, Elizabeth Stern und Hannah Wagner. Für die sorgfältige stilistische Überprüfung sind wir Gerda Panofsky und Carmen Sippl zu besonderem Dank verpflichtet.

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Michael Wachtel

Zur Einführung

Vjačeslav Ivanovs einzigartiges Schicksal – russische Tradition, deutsche Sprache, italienisches Exil

Seit drei Jahrzehnten wächst das Interesse am Dichter Vjačeslav Ivanov (1866–1949) stetig – nicht nur in seinem Heimatland, wo sein Name längere Zeit in der sowjetischen Literaturwissenschaft verpönt war, sondern auch im Ausland. Als „russischer Europäer“ war Ivanov mit Westeuropa sowohl biographisch als auch sprachlich und weltanschaulich verbunden. Geht man den mannigfaltigen Spuren dieses Kontakts nach, so kommen einige vergessene Kapitel der europäischen Kulturgeschichte zum Vorschein.1

Das vorliegende Buch, das als Ergänzung zu dem schon 1995 erschienenen Band Vjačeslav Ivanov: Dichtung und Briefwechsel aus dem deutschsprachigen Nachlass angesehen werden kann, verfolgt ein doppeltes Ziel. Einerseits möchte es anhand meist erstveröffentlichter Dokumente einige im Dunkeln verbliebene Episoden der Emigrationszeit des Dichters erhellen. Andererseits leistet es einen allgemeinen Beitrag zur Geschichte der russischen Emigration. Bemerkenswert ist, dass die Idee der deutschen Publikation der Werke Ivanovs nicht von dem Dichter selbst ausging, sondern von einer ganzen Reihe literarisch und philosophisch engagierter Freunde und Verehrer. Darunter waren sowohl führende Vertreter der russischen Emigration (vor allem F. A. Stepun) als auch in Vergessenheit geratene Figuren, unter ihnen Russen (E. D. Schor), Deutsche (Fred Höntzsch, Martin Kaubisch, Edwin Landau, Käthe Rosenberg) und Schweizer (Fritz Lieb). Diese Vermittler, die auch von den Historikern der russischen Emigration oft übersehen worden sind, kommen im Buch zu Wort, denn sie waren es, die die Publikationspläne zu verwirklichen versuchten.

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Das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste Teil umfasst die Periode 1928–1936 und befasst sich hauptsächlich mit dem J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Verlag, der zwei Werke Ivanovs veröffentlichte, darunter das für sein ganzes Schaffen zentrale Dostoevskij-Buch. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Benno Schwabe Verlag, der 1936 mit Ivanov über sein Dionysos-Buch in Verhandlungen trat, welche erst 1949 mit dem Tod des Dichters endeten. Im dritten Teil werden zeitgenössische Rezensionen zu Ivanovs deutschen Büchern wiederabgedruckt.

Ivanovs ausführliche Biographie zu schreiben ist hier nicht beabsichtigt, aber eine kurze Skizze ist doch erforderlich, um den Kontext der nachfolgend gedruckten Materialien verständlich zu machen. 1886 kam der zwanzigjährige, in Moskau aufgewachsene Ivanov nach Berlin, um sein Studium der Altertumswissenschaft fortzusetzen. Er hatte bereits zwei Jahre an der Moskauer Universität hinter sich und wurde von seinen Professoren angespornt, bei den bekanntesten Vertretern der Wissenschaft zu promovieren. Ivanov wählte die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, an der er neun Semester verbrachte. Der sprachbegabte Russe erlernte die deutsche Sprache schnell und vertiefte seine Kenntnisse im Seminarraum und im Umgang mit seinen Kommilitonen. Somit konnte er ein fehlerloses Deutsch sprechen und schreiben, was ihm auch in späteren Jahren zugute kam.2 Der junge Dichter studierte Literatur und Philosophie des Altertums, konzentrierte sich aber auf römische Geschichte, die er bei Theodor Mommsen und Otto Hirschfeld hörte. Diese zwei hervorragenden Gelehrten betreuten sein Studium und nahmen auch seine auf Latein verfasste Dissertation ab.

Die Entstehungsgeschichte der Dissertation ist lang und kompliziert. Ivanovs Doktorväter hatten damit gerechnet, dass er diese Arbeit in ein paar Monaten fertigstellen könnte. Ivanov jedoch reiste nach Italien, wo er drei Jahre am Deutschen Archäologischen Institut in Rom forschte. Gegen Ende dieser Zeit lernte er die russische Sängerin und spätere Schriftstellerin Lidija Zinov’eva-Annibal kennen, was zur Scheidung von seiner ersten Frau führte. Kurz nach diesem Bruch in seinem persönlichen Leben kam die Entscheidung, die akademische Laufbahn aufzugeben und Dichter zu werden. Es muss aber betont werden, dass ←12 | 13→die Wissenschaft und die Dichtung bei Ivanov seit jeher miteinander verwandt waren. Gedichtet hatte Ivanov schon lange, sah aber Dichtung nicht als seine Berufung. Und auch nach dem Entschluss, Dichter zu werden, entzog sich Ivanov der Welt der Wissenschaft nicht. Er befasste sich jahrzehntelang mit Religionsgeschichte, vor allem mit der Dionysos-Religion.

Die Dissertation blieb allerdings streng historisch. Es ging um die römischen Steuergesellschaften, ein zur Dichtung nicht geeignetes Thema. Ivanov reichte sie trotzdem ein und erntete damit den Beifall seiner Lehrer:

Die Arbeit des Herrn Ivanow geht in vieler Hinsicht über das Maß hinaus, welches wir bei Promotionen anzulegen gewohnt sind. Sie zeigt selbständige Quellenbenutzung sowohl der Schriftsteller wie der Inschriften, in umfassender Weise, sorgfältige Berücksichtigung der philologischen wie der juristischen Literatur, eigenes Denken, endlich die Fähigkeit den für lateinische Bearbeitung recht spröden Stoff in correcter, freilich nicht immer bequemer, hie und da verkünstelter Form darzulegen.

So hieß es in Mommsens handgeschriebenem Gutachten (HU). Ungeachtet dieses Lobes fürchtete Ivanov Mommsens Kritik. Er traute sich nicht, sich von dem „Altmeister“ examinieren zu lassen. Nach jahrelangem Schwanken entzog er sich dem Rigorosum und verzichtete damit endgültig auf die Promotion in Berlin. Für einen Dichter war eine Promotion zwar nicht nötig, aber in späteren Jahren hätte der Berliner Doktorgrad mehrfach helfen können.

1905 kehrte Ivanov nach langen Wanderjahren in Europa (Griechenland, der Schweiz, Frankreich, England) nach Russland zurück. Außer mit Dichtung hatte Ivanov sich auch wissenschaftlich beschäftigt, und zwar Archäologie bei Dörpfeld in Athen und Sanskrit bei de Saussure in Genf studiert. Beide Fächer waren mit der Frage der religiösen Erfahrung verbunden, die bei Ivanov im Mittelpunkt der Dichtung und der Dichtungstheorie stand. In Russland wählten Ivanov und seine Frau Sankt Petersburg als Lebensort. Sie mieteten eine Wohnung im fünften (obersten) Stock eines Gebäudes direkt am Taurischen Garten, die in die russische Kulturgeschichte als „der Turm“ eingegangen ist. In Petersburg nahm Ivanov schnell eine führende Stellung unter den einflussreichen russischen Symbolisten ein. Für Ivanov und seine Mitkämpfer war der Symbolismus nicht bloß eine literarische Bewegung, sondern vielmehr eine Weltanschauung. Ivanov verkörperte eine Lebensweise, die den Bruch zwischen Leben und Schaffen verleugnete, und eine Philosophie, die scheinbar entgegengesetzte Ideen und Traditionen versöhnen wollte. Der in Berlin klassisch gebildete und mit Europa vertraute Dichter wurde bald zur treibenden Kraft der ganzen Petersburger Kultur. Er war Dichter, Übersetzer (aus mehreren Sprachen), Religionsphilosoph und Theatertheoretiker. Denn im „Turm“ sammelten sich mittwochabends die ←13 | 14→begabtesten Vertreter der Dichtung, des Theaters, der bildenden Kunst und auch des Universitätslebens, um sich mit den geistigen Strömungen der Zeit auseinanderzusetzen. Manchmal nahmen auch politisch Radikale teil – z. B. Anatolij Lunačarskij, der Freund Lenins und sein künftiger erster „Kommissar für Volksaufklärung“. Es kam im „Turm“ auch zur Aufführung eines Theaterstücks (Calderons „Die Andacht zum Kreuze“) unter der Regie von Vsevolod Meierhold, einem der regelmäßigen Gäste Ivanovs.

Im Jahre 1907 starb Lidija an Scharlachfieber. Diese Katastrophe erschütterte Ivanov, aber selbst in dieser finsteren Zeit blieb er eine Schlüsselfigur der russischen Kultur. Zwar zog er sich etwas zurück, schrieb dennoch Gedichte und Aufsätze und nahm am kulturellen Leben der Hauptstadt teil. Zu den Schriften dieser Jahre gehören zwei (zuerst als öffentliche Vorträge gelesene) Aufsätze, die später im J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Verlag erschienen. Allerdings darf man diese deutschen Publikationen nicht gerade als Übersetzungen bezeichnen. Im Falle der „Russischen Idee“, in Russland erstmals im Jahre 1909 veröffentlicht, ging es um einen für das deutsche Publikum erweiterten und erläuterten Text; beim Dostoevskij-Buch bildete der russische Aufsatz aus dem Jahre 1911 den Keim einer viel längeren Abhandlung.3

In der Hoffnung, die verstorbene Frau geistig zu erreichen, wandte sich der verzweifelte Ivanov der Mystik zu. Nach einem Programm mitternächtlicher Gebete und automatischen Schreibens fand der Dichter einen Ausweg aus der Einsamkeit in seiner Stieftochter, in der er die Wiederverkörperung seiner Frau zu entdecken glaubte. Als ihre Schwangerschaft nicht mehr zu übersehen war, begleitete Ivanov sie (und auch die Tochter aus der Ehe mit der verstorbenen Lidija) nach Europa, um einen Skandal zu vermeiden. Sein Sohn Dimitri (1912–2003) wurde im Dorf Neuvecelle (Frankreich) geboren.

Nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt kehrte die Familie Ivanov wieder nach Russland zurück, lebte nun aber in Moskau. Dort lernte Ivanov eine ←14 | 15→Gruppe religiöser Denker und Philosophen kennen. Wichtig war auch seine enge Freundschaft mit dem von der Mystik stark geprägten Komponisten Aleksandr Skrjabin. Auch nach der Revolution blieb Ivanov in Moskau, und nahm, wie alle Intellektuellen, die nicht verhungern wollten, an den revolutionären Kulturorganisationen teil. Er wurde Mitglied der Theaterkommission, wo er seine alten Theorien über die Bedeutung der antiken Bühne für die Moderne leicht sowjetisierte. Als er 1920 einen hoch begehrten Platz in einem gut versorgten Sanatorium „für Arbeiter der Wissenschaft und Literatur“ bekam und seinen alten Freund, den Historiker und Philosophen Michail Geršenzon als Zimmernachbarn vorfand, verfassten die beiden den „Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln“, eine Streitschrift über das Schicksal der Kultur in einer Zeit des geistigen Umbruchs.

Das Moskauer Alltagsleben wurde immer schwieriger, und Ivanovs Stieftochter (jetzt seine dritte Frau) erlag einer Tuberkuloseerkrankung. Um sich und seine Kinder zu retten, floh der doppelt verwitwete Ivanov nach Süden, wo er eine friedliche Oase an der neu gegründeten sowjetischen Universität in Baku fand. Hier unterrichtete er eine ganze Reihe geisteswissenschaftlicher Fächer: Altertumswissenschaft (Philologie, Philosophie, Religion), italienische Dichtung (Dante und Petrarca), deutsche Romantik, Byron, Nietzsche, Dostoevskij und Puškin. Hier beendete er auch seine wissenschaftliche Untersuchung über Dionysos, an der er jahrzehntelang gearbeitet hatte, die als Dissertation anerkannt und als Buch gedruckt wurde. Dadurch erhielt er endlich den fehlenden Doktorgrad. Dass eine solche Dissertation überhaupt verteidigt werden konnte, zeigt, wie sehr Baku an der sowjetischen Peripherie lag. Nach der Revolution war ein solches Thema höchst unwillkommen, wenn nicht direkt verboten. Außer einer kleinen Zahl von Autorenexemplaren blieb somit auch fast die ganze Auflage in Baku, wo sie bald verschwand. Für Jahrzehnte blieb es Ivanovs Hoffnung, das zur bibliographischen Seltenheit gewordene Buch übersetzen zu lassen, so dass sich die europäische Wissenschaft mit ihm auseinandersetzen könne.

Im Jahre 1924 gelang es Ivanov, mit seinen zwei Kindern aus der UdSSR auszureisen. Dank seiner Beziehungen zu Lunačarskij durfte er offiziell im Auftrag der sowjetischen Regierung fahren, um die Biennale in Venedig zu besuchen und die Möglichkeit der Gründung einer russischen Akademie in Rom zu sondieren. Letzteres blieb selbstverständlich erfolglos, aber Ivanov erhielt dadurch die Ausreiseerlaubnis und sogar eine kleine Rente von der UdSSR. Außerdem durfte er weiterhin in Russland veröffentlichen, was ihm ein kleines, wenn auch unregelmäßiges Einkommen gab. Um solche Möglichkeiten auszunutzen, behielt Ivanov seinen sowjetischen Pass bis Mitte der 1930er-Jahre, wenngleich es nie seine Absicht war, zurückzukehren.

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Abgesehen von ein paar kurzen Abstechern in die Schweiz blieb der einst so reiselustige Ivanov die letzten 25 Jahre seines Lebens in Italien. Dabei war Italien keineswegs ein Zentrum der russischen Emigration, was Ivanov erfreute, denn er wollte sich von den Emigrantenkolonien fernhalten. Einerseits hatte er sich bei der Ausreise aus der UdSSR verpflichtet, nicht zur Presse der russischen Emigration beizutragen. Andererseits war ihm die in den Emigranten-Kreisen weit verbreitete Sehnsucht nach der verlorenen Heimat weltanschaulich fremd. Als russischer Denker konnte und wollte er sein russisches Geisteserbe nicht verleugnen, meinte aber, der russische Flüchtling solle im Einklang mit den westlichen Nationen leben. Er ist diesem Vorhaben treu gefolgt, indem er 1926 im römischen Petersdom zum Katholizismus übertrat. Diese Entscheidung enttäuschte und erschreckte sogar seine früheren Freunde, war aber ein folgerichtiger Schritt im Geiste seines ehemaligen Freundes und Mentors Vladimir Solov’ev, der in seinem französisch verfassten und in Russland verbotenen Buch „La Russie et l’Église universelle“ das Problem der Ost- und Westkirchen zugunsten der letzteren gelöst hatte. (Es ist bemerkenswert, dass Ivanov in einem Brief vom 19. Dezember 1937 [CS] schrieb, dieses Buch gehöre „zum Wichtigsten, was Wladimir Solovjev geschaffen hat“.4) Für Ivanov war der Katholizismus keine Ablehnung seines früheren Glaubens, sondern eine Versöhnung der beiden Kirchen, die Wiederentdeckung einer verlorenen Einheit.

Im selben Jahre 1926 erhielt Ivanov einen Lehrauftrag für moderne Sprachen am „Collegium Borromeo“ der Universität Pavia, unweit von Mailand, wo er fast zehn Jahre lang unterrichtete. Obwohl die bescheidene Stelle viel Zeit in Anspruch nahm, war die geistige Atmosphäre kongenial. Martin Buber, Benedetto Croce, Ernst Robert Curtius, Charles Du Bos und Karl Muth besuchten Pavia, um den russischen Dichter kennenzulernen. Nach seiner Emeritierung zog Ivanov wieder nach Rom, wo er eine ebenso bescheidene Stelle am Päpstlichen Orientalischen Institut innehatte. Dort lehrte er u. a. Altkirchenslawisch, Dostoevskij und russische Philosophie.

Da Ivanov mehrere Fremdsprachen beherrschte, konnte er leichter als die meisten seiner Landsleute am europäischen Kulturleben teilnehmen. In der Emigrationsperiode schrieb er Aufsätze auf Deutsch, Italienisch und Französisch für verschiedene Zeitschriften in verschiedenen Ländern. In vielerlei Hinsicht fand seine wichtigste Veröffentlichung schon im Jahre 1926 statt, als der „Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln“ in deutscher Übersetzung in Martin Bubers ←16 | 17→Zeitschrift Die Kreatur erschien. Sechs Jahre später wurde eine französische Übersetzung dieses Werkes in Charles Du Bos’ katholischer Zeitschrift Vigile gedruckt. Der „Briefwechsel“ erregte in Europa großes Aufsehen und rief eine besondere Sympathie für Ivanov hervor, der im Gegensatz zu seinem fatalistischen Freund Geršenzon die Kulturwerte der Vergangenheit und die mystischen „Initiationen“ seiner Vorgänger verteidigte. Ivanov war fest davon überzeugt, dass in einer Zeit der Auflösung der Gesellschaft und der Kultur das abendländische Geisteserbe umso wichtiger werde. In den Worten Charles Du Bos’ stellte das Werk „l’opposition contemporaine fondamentale, celle qui marque la ligne de partage des eaux, entre le salut du thésaurus et la hantise de la tabula rasa“ dar.5 Für Martin Buber war es „sicherlich eines der wichtigsten geistigen Dokumente unserer Zeit“.6 Im Jahre 1932 las E. R. Curtius den Briefwechsel als eine Offenbarung. „The ideas of Ivanov have supplied me with the missing link which I needed for the chain of my thoughts“, erklärte er seinem Freund, dem Anglophilen Du Bos.7 Kurz danach veröffentlichte Curtius seine Schrift Deutscher Geist in Gefahr, wo er auf Ivanov als eine Lösung der Krise hinweist:

Details

Seiten
376
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631774205
ISBN (ePUB)
9783631774212
ISBN (MOBI)
9783631774229
ISBN (Paperback)
9783631772751
DOI
10.3726/b15485
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 374 S., 22 Abb. s/w

Biographische Angaben

Michael Wachtel (Band-Herausgeber:in) Philip Gleissner (Band-Herausgeber:in)

Michael Wachtel, geboren 1960, B.A. (Yale University), Ph.D. in Comparative Literature (Harvard University) unterrichtet seit 1990 als Professor der Slawistik an der Princeton University. Philip Gleissner, geboren 1986, Magister Artium (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel), Ph.D. in Slawistik (Princeton University), ist seit 2018 Assistant Professor der Slawistik an der Ohio State University. Wladimir Janzen, geboren 1954, Dr. phil. (Halle an der Saale) ist freier Publizist sowie Historiker der russischen Philosophie und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.

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Titel: Vjačeslav Ivanov und seine deutschsprachigen Verleger: Eine Chronik in Briefen
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