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"Kontaminierte Landschaften"

Mitteleuropa inmitten von Krieg und Totalitarismus. Eine exemplarische Bestandsaufnahme anhand von literarischen Texten

von Alexander Höllwerth (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 420 Seiten

Zusammenfassung

Der Band befasst sich mit dem schweren Erbe von Krieg und Totalitarismus in Mitteleuropa. Er enthält die Texte von 21 Autorinnen und Autoren aus Tschechien, Polen, Ungarn, Österreich und Deutschland. Diese gehen in ihren Beiträgen der Frage nach, welche Rolle der Literatur bei der Aufarbeitung der Traumata der Vergangenheit zukommt. Besprochen werden die Werke zeitgenössischer Autoren wie Pollack, Weber, Bodor, Topol, Sabuschko u. a. sowie von Autoren, die aus unmittelbarer Zeitzeugenschaft heraus schreiben (Wojdowski, Buczkowski). Dabei soll auch aufgezeigt werden, welchen Beitrag die Literatur bei der Durchbrechung national beschränkter Erinnerungskulturen hin zu einer transkulturellen (mittel-)europäischen Erzählung leisten kann. Gerade heute ist dieses Thema wieder hochaktuell.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Ãœber das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort: „Kontaminierte Landschaften“ – Mitteleuropa inmitten von Krieg und Totalitarismus
  • Kontaminierte Landschaften
  • „Kontaminierte Landschaften“ und Erinnerungskultur
  • I. Topos – Kartographie – Raum
  • „Kontaminierte Landschaften“ als postimperiales Phänomen. Von Franz Kafka bis Ádám Bodor
  • Landschaft als Erinnerungsmedium in den Repräsentationen der Vertreibung
  • Die Natur (in) der Erinnerung. „Kontaminierte Landschaften“ als Erzählstrategie
  • Berichte aus dem Mordor. Zur Reiseprosa von Ziemowit Szczerek
  • II. Intergenerationalität
  • Söhne und Väter in totalitären Systemen. Zur literarischen Bearbeitung einer traumatischen Beziehung in Martin Pollacks Der Tote im Bunker und Viktor Erofeevs Der gute Stalin
  • Tiefe Spuren: Erinnerungstopographien in der zeitgenössischen transkulturellen Literatur
  • „Was wird man denn da schon sehen können?“ „Kontaminierte (Gedächtnis-)Landschaften“ in Anne Webers Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch
  • III. Literarische Verschränkungen der Erfahrung von Shoa und Stalinismus
  • Die Bedeutung des Unterirdischen im Werk von Jáchym Topol
  • Zur Produktion von Erinnerungskultur in Jáchym Topols Roman Teufelswerkstatt
  • Prag als Città dolente. Zur Romantrilogie von Daniela Hodrová nicht nur im Kontext der Prager deutschen Literatur
  • IV. Exkurs: Akademische Erinnerungslandschaften zwischen Ehre und Schande
  • „Kontaminierte Erinnerungslandschaften“? „Ehrregime“ und Vergangenheitspolitik an der Universität Salzburg
  • V. Polen als Schauplatz der Shoa
  • „Und eines Tages trafen die Maurer ein …“ Das Warschauer Ghetto als lieu de mémoire in Bogdan Wojdowskis Roman Brot für die Toten
  • Die „armen Polen“ und das Ghetto. „Kontaminierte Seelenlandschaften“ in der polnischen Literatur
  • Verdrängte Kartographie der Verbrechen an jüdischen Mitbürgern, am Beispiel der polnischen Filme Pokłosie und Ida
  • Zwischen Nutzung und Gedenken. Die Geschichte der Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Kulmhof nach dem Krieg
  • VI. Shoa und Krieg – im Spannungsfeld zwischen realer Erfahrung und textueller Repräsentation
  • Martin Pollacks Kontaminierte Landschaften und Topografie der Erinnerung und die Grenzbereiche der Textualisierung von Kriegs- und Mordgeschichten des 20. Jahrhunderts
  • „Denn hier ist das Reale nicht zu tilgen“. Räume der Vernichtung, Zeugenschaft und Archiv bei Leopold Buczkowski
  • VII. Ausblick: Über die Notwendigkeit gemeinsamer europäischer transkultureller Erzählungen im Umgang mit den „kontaminierten Landschaften“
  • Vernetzte Geschichten? Nationalisierung und Transnationalisierung im mitteleuropäischen Erinnerungsraum
  • Ankommen. Literatur und Europa
  • Autorinnen und Autoren
  • Personenverzeichnis

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Alexander Höllwerth, Ursula Knoll, Helena Ulbrechtová

Vorwort
„Kontaminierte Landschaften“ – Mitteleuropa inmitten von Krieg und Totalitarismus

„Verschiedenste ‚geistige Landkarten‘ bilden einen integralen Bestandteil unseres Denkens“

(Aleksej Miller)

An den Anfang dieses Vorwortes sei noch ein Dank ausgesprochen an die Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, die diese Publikation aus den Mitteln der Strategie AV21 (zur Förderung von Forschungen im öffentlichen Interesse) finanziert hat. Erst diese großzügige finanzielle Unterstützung hat es dem Slawischen Institut in Prag ermöglicht, das hier vorliegende Projekt zu den „kontaminierten Landschaften“ Mitteleuropas zu realisieren. Da es sich hierbei um ein Projekt handelt, das literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen mit historischen und politischen Aspekten verbindet, ist es nur in fächer- und länderübergreifender Kooperation zu bewältigen: Daher vereint der Band Beiträge von Literatur- und Kulturwissenschaftlern, von Historikern, Slawisten und Germanisten, die aus Tschechien, Polen, Ungarn, Deutschland und Österreich stammen, wodurch jene breite mitteleuropäische Perspektive, die für die Auseinandersetzung mit dieser Thematik notwendig ist, bereits angedeutet ist.

Die Grazer Germanistin Alice Bolterauer stellt in ihren Anmerkungen zu Robert Musils unvollendetem Romanprojekt Der Mann ohne Eigenschaften Überlegungen an, was eine mitteleuropäische Landschaft sein könnte.1 Der Konjunktiv „sein könnte“ verweist im Sinne von Musils Möglichkeitssinn auf das Imaginative, Entwurf- und Projekthafte, ja Utopische der Mitteleuropaidee. Auf die Aporien, in die der Versuch einer exakten topographischen Bestimmung von Mitteleuropa führt, macht der polnische Literaturwissenschaftler Stefan H. Kaszyński in seinem Buch Österreich und Mitteleuropa aufmerksam. Im Fokus seiner Überlegungen stehen weniger geographisch und ideologisch exakt abgrenzende Definitionen des Begriffs als vielmehr der Beitrag, den literarische Narrationen an der Schaffung von Mitteleuropa als Mythos geleistet haben und immer noch leisten.2 An der Textur dieses ← | 12→nicht zuletzt an das Erbe der multinationalen Habsburger Monarchie anknüpfenden Mythos mitsamt seinen utopischen Implikationen webten und weben deutsch-, polnisch-, tschechisch-, ukrainisch-, ungarisch- und jiddischsprachige Autoren wie Joseph Roth, Andrzej Kuśniewicz, Jaroslav Hašek, Jurij Andruchovyč, Andrzej Stasiuk, György Konrád, Isaac B. Singer, um nur exemplarisch einige Namen herauszugreifen. Gleichzeitig aber ist Mitteleuropa auch jene Region, die zum Schauplatz von zwei Weltkriegen und zum blutigen „Experimentierfeld“ zweier Totalitarismen wurde. Der Schriftsteller Martin Pollack begibt sich in seinem 2014 erschienenen Essay Kontaminierte Landschaften auf eine Spurensuche durch Mitteleuropa und versucht als „Archäologe des Völkermordes“ zu entbergen, was sich unter der Oberfläche anmutiger Wald- und Hügellandschaften verbirgt3 – der amerikanische Historiker Timothy D. Snyder spricht in diesem Zusammenhang von Bloodlands.4 Babyn Jar (russ. Babij Jar), Auschwitz (Oświęcim), Warschau, Theresienstadt (Terezín) sind nur die prominentesten Beispiele für jene Kontamination mittel- bzw. ostmitteleuropäischer Landschaften durch die Verbrechen des Nationalsozialismus. Wer also zu Beginn des 21. Jahrhunderts darüber nachdenkt, was eine mitteleuropäische Landschaft sein könnte, dem drängen sich angesichts solcher Toponyme keine nostalgisch-habsburgischen Assoziationen mehr auf. Unter die nach wie vor wirkmächtigen Vorstellungen eines mitteleuropäischen „locus amoenus“ schieben sich andere Bilder, die die idyllischen mitteleuropäischen Landschaften „unheimlich“ werden lassen: Über den südburgenländischen Ort Rechnitz etwa schreibt Pollack: „Ein schöner, beschaulicher, ein wenig verschlafener Marktflecken, aber auch der Ort eines verschwundenen jüdischen Massengrabes.“5 Dem Schauplatz Rechnitz spürte auch die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in ihrem Stück Der Würgeengel nach. Auch die anderen oben genannten Orte fanden in vielfältiger Weise Eingang in die Literatur: Babyn Jar beschäftigte den russischen Dichter Evgenij Evtušenko in einem berühmten, von Paul Celan ins Deutsche übersetzten Gedicht; Anatolij Kuznecov widmete Babyn Jar einen dokumentarischen Roman und in Oksana Sabuschkos6 Roman Museum der vergessenen Geheimnisse (2010) (ukr. Original Muzej Pokinutych Sekretiv, 2009) erwacht Babyn Jar und lässt die Kontamination der Landschaft plötzlich offen zutage treten (vgl. Wintersteiner, in diesem Band, im Folgenden: i. d. B.). Auschwitz, als Chiffre für die Shoa, ist ← | 13→zentraler Schauplatz einer unüberschaubaren Anzahl literarischer Texte (z. B. der des Polen Tadeusz Borowski, des Italieners Primo Levi, des Tschechen Arnošt Lustig). Dem Kriegsschauplatz Warschau widmeten sich die polnischen Schriftsteller Miron Białoszewski und Kazimierz Brandys, der Topographie des Warschauer Ghettos wird in den Texten von Bogdan Wojdowski, Jarosław Marek Rymkiewicz, Marek Edelman, Hanna Krall, Janina David und vieler anderer Autoren nachgegangen. Theresienstadt (Terezín) wiederum taucht in der literarischen Autobiographie von Ruth Klüger, im Drama Sladký Theresienstadt des tschechischen Literaten Arnošt Goldflam oder in Jáchym Topols Roman Die Teufelswerkstatt auf. Doch auch der Stalinterror hat zur Kontamination mitteleuropäischer Landschaften beigetragen – das russische Dorf Katyń etwa steht für ein Massaker des NKWD an tausenden polnischen Kriegsgefangen und wurde zu einem Topos der Literatur, den u. a. Władysław Broniewski, Jerzy Ficowski, Czesław Miłosz, Włodzimierz Odojewski aufgriffen. Im tschechischen Jáchymov, dem ehemaligen k.u.k.-Kurort Sankt Joachimsthal, errichtete der NKWD ein Strafgefangenenlager – um diesen „tschechoslowakischen Gulag“ dreht sich die Handlung der 2011 erschienenen Doku-Fiktion Jáchymov des österreichischen Schriftstellers Josef Haslinger. Dieser Roman ist ein prägnantes literarisches Beispiel dafür, wie eine mitteleuropäische, in diesem Fall sogar „Habsburgische Landschaft“7 in eine „kontaminierte Landschaft“ im Sinne Pollacks mutiert.

Das Ziel des vorliegenden Bandes ist, anhand der Analyse von exemplarischen literarischen Texten aufzuzeigen, worin der spezifische Beitrag von Literatur (und Film) sowie Literatur- und Kulturwissenschaft im Umgang mit den „kontaminierten mitteleuropäischen Landschaften“ besteht – oder besser: bestehen könnte. In diesem Auslotungsprozess werden die Grenzen zwischen Literatur, Historiographie und Dokumentation fließend. Dies zeigt bereits Pollacks Essay, dessen Titel wir auch für den vorliegenden Band als Zitat übernommen haben. Daher liegt es in der Logik und Konzeption dieses literatur- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Bandes, dass in ihm auch zwei explizit historische Beiträge Platz gefunden haben.

Martin Pollack, der mit seinem Essay die Thematik des Bandes maßgeblich inspiriert hat, erläutert in seinen einstimmenden Überlegungen noch einmal, was er unter „kontaminierten Landschaften“ versteht:

Kontaminierte Landschaften. Darunter verstehe ich Landschaften, die auf den ersten Blick schön, von Menschenhand weitgehend unberührt, vielleicht sogar idyllisch wirken, die jedoch in Wahrheit etwas verbergen. Ein düsteres Geheimnis. Eine bedrückende Altlast. Es gibt da etwas, was diese Landschaften verunreinigt, unsichtbar zwar, aber dafür umso nachhaltiger. Das ist das Wesen der Kontamination. Es handelt sich um Orte, wo in der Vergangenheit Verbrechen begangen wurden, Massaker, ← | 14→Massenerschießungen, deren Opfer in vielen Fällen an Ort und Stelle verscharrt wurden. (Pollack, i. d. B.)

An Pollacks Überlegungen schließt der Kultur- und Literaturwissenschaftler Manfred Weinberg in seiner Einführung an, in der er den Begriff der „kontaminierten Landschaften“ mit dem Konzept einer (mittel-)europäischen Erinnerungskultur in Dialog bringt:8 Das (richtig oder falsch) Erinnerte sei dabei, so Weinberg, auch in Beziehung zu setzen zum Vergessenen und Verdrängten einerseits und zum Nicht-Gewussten andererseits – diese drei Dimensionen gehören nach Weinberg zusammen und interagieren auf eine äußerst komplexe Weise miteinander. Nationale Erinnerungskulturen bringen ihre Erinnerungsorte hervor, Soldatenfriedhöfe, Denkmäler, die einem „Andenken in alle Ewigkeit“ („gehegt, bewahrt, zelebriert, vermarktet“) dienen sollen. Diesem „Andenken in Ewigkeit“ stehe nun das Unsichtbar- und Vergessengemachte gegenüber, denn nationale Erinnerungskulturen brauchen Vereindeutigungen. Weinberg spricht von einer „Verbrüderung des Vergessenmachens durch Zuschütten und des Vergessenmachens durch vereinseitigendes Erinnern“ (Weinberg, i. d. B.). Als Beispiel eines durch Vereinseitigung geprägten nationalen Erinnerns führt Weinberg den Ersten Weltkrieg, die französische Erinnerung an die Schlacht von Verdun im Jahre 1916, an, die bis vor kurzem die gefallenen deutschen Soldaten unbeachtet ließ. Das „tertium comparationis“ zwischen dem biochemischen Tatbestand der Kontamination und der Erinnerungskultur erblickt Weinberg in der Unsichtbarkeit: „Was aussieht wie immer, birgt zutiefst Gefährliches, zumindest für eine auf Beruhigung zielende Erinnerungskultur.“ (Weinberg, i. d. B.) Replizierend auf Martin Pollacks Diktum von der Kunst des Unsichtbarmachens der Kriegsspuren in der Landschaft formuliert Weinberg: „Es geht also nicht darum, dass das sprichwörtliche natürliche ‚Gras‘ über ein kriegerisches Ereignis wächst, sondern es geht um ein vorsätzliches Unsichtbar- und damit Vergessenmachen.“ (Weinberg, i. d. B.) Vor diesem Hintergrund macht Weinberg auf die traurige Aktualität des Themas der „kontaminierten Landschaften“ aufmerksam: Für die gegenwärtig im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge bedürfe es keiner Kunst des Unsichtbarmachens mehr. Man könne sich des Gedankens nicht erwehren, dass dieses „restlose“ Verschwinden und die Unmöglichkeit, auf dem Meer ein Mahnmal aufzustellen, dem Umgang einiger mit dieser humanitären Katastrophe durchaus in die Hände spiele. Damit ist klar: Die „kontaminierten Landschaften“ und die Erinnerungskultur(en) sind Themen, die nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft betreffen. Auf diesen Aspekt wird gegen Schluss unserer Überlegungen noch einmal eingegangen werden.

Nun aber zur Struktur des Bandes: Die Annäherung an das Thema der „kontaminierten Landschaften“ erfolgt in sieben Themenkreisen. Im Fokus des ersten ← | 15→stehen „Topos – Kartographie – Raum“, er umfasst insgesamt vier Beiträge: Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk diskutiert in seinem Beitrag „Kontaminierte Landschaftenals postimperiales Phänomen. Von Franz Kafka bis Ádám Bodor das Thema in einem postimperialen Zusammenhang, in dem vor allem das Verhältnis zwischen den Zentren und den Peripherien fokussiert wird. Termini wie „postkolonial“ und „postimperial“ verweisen nicht zuletzt darauf, dass das imperiale Erbe in all seinen Ausformungen im zentral-, ost- und südosteuropäischen Raum immer noch in all seinen Versionen aktiv ist. Müller-Funk betont dabei aber den Unterschied zwischen „post-kolonial“ und „post-imperial“. Zwar stehe es außer Zweifel, dass die postkolonialen Fragestellungen wichtige kritische Impulse im Hinblick auf die kulturwissenschaftliche Erfassung des zentraleuropäischen Raumes gesetzt haben; aber zugleich sei unbestreitbar, dass imperiale Gebilde wie das Habsburger Reich, das zaristische Russland mitsamt seinen Nachfolgern, der Sowjetunion und Putins Russland, oder das Osmanische Reich auf anderen Traditionen und Logiken von Herrschaft und Raum beruhen als etwa das Britische Weltreich oder die postimperialen Vereinigten Staaten von Amerika. „Kontaminierung“ ist dann eben vor diesem Hintergrund zu denken: Die tschechische „Kontaminierung“ etwa sei, so Müller-Funk, Erbschaft und Erblast dreier politischer Gebilde: der Habsburger Monarchie, des ihr nicht unähnlichen plurikulturellen Nachfolgestaates, der Tschechoslowakei von 1918 bis 1938, und des sozialistischen Staates, der in seiner beschränkten Souveränität einen Teil des sowjetischen Imperiums bildete. Vor diesem Hintergrund diskutiert Müller-Funk verschiedene Formen des imperialen Regelwerks und referiert dabei auf Autoren wie Kafka, Winder und Roth. Im abschließenden Teil seiner Analyse wird auf den Roman Schutzgebiet Sinistra des rumänisch-ungarischen Autors Ádám Bodor eingegangen, in dem die (post-)imperiale Perspektive eine groteske Dimension erhält.

Der Germanist und Historiker Václav Smyčka beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Semantik der Landschaft in den fiktionalen Repräsentationen der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei (1945–1947). Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen der indexikalischen und der symbolischen Funktion der Referenz auf Orte präsentiert der Beitrag vier spezifische Semantisierungen der Grenzregion in literarischen und filmischen Repräsentationen der Vertreibung – die Utopie, die Dystopie, den sakralen Raum sowie den Trauma-Raum. Die Grenzregionen seien, so Smyčka, in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einem Sammelbecken utopischer Träume nationalistischer sowie kommunistischer Prägung geworden. In den dystopischen Darstellungen wiederum stehe die Grenzregion für Chaos und den Verlust jeglicher Sicherheiten. Dabei überwiegen Motive von Ruinen, Friedhöfen und anderen unübersichtlichen, dunklen Räumen. Diese Motive sind auch im „sakralen Raum“ zu finden, wobei in diesem nach einem Ausweg aus dem Zustand des allgemeinen Verfalls in einer sakralen Transzendenz gesucht wird. Der letzte in Smyčkas Beitrag analysierte Typus der Semantisierung von Landschaften, der Trauma-Raum, zeichnet sich durch eine analoge Verbindung des Präsenten, sich an der Oberfläche Befindenden, mit dem unter der Oberfläche Verborgenen – den verdrängten Traumata – aus.

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Für den Germanisten und Friedenspädagogen Werner Wintersteiner ist es kein Zufall, dass die Idee der „kontaminierten Landschaften“ just in dem Augenblick Verbreitung fand, als die letzten menschlichen Zeugen der Shoa zu verschwinden begannen. Die Suche nach den Spuren vergangener Verbrechen in der Natur ersetze, so Wintersteiner, die Erzählungen der Überlebenden. Der Diskurs über „kontaminierte Landschaften“, „Bloodlands“, ermögliche ein neues Pathos der Erinnerung. Kontaminierung – Geigerzähler etc. sind für Wintersteiner Metaphern, die die Glaubwürdigkeit des Sehens infrage stellen und die Notwendigkeit feinerer Instrumente aufzeigen. Die Aufgabe der Literatur werde somit eine detektivische: hinter der „unschuldigen Landschaft“ bzw. durch sie hindurch das Verbrechen sichtbar zu machen. Die Spurensuche nehme gerade die verwischte Spur, das Indiz für die Verwischung der Spur, als Beweis für das Ungeheuerliche und beginne dort ihre Aufdeckungsarbeit. Wie die Literatur dieser Aufgabe gerecht werden kann und welche Erzählstrategien des Erinnerns sie dabei wählt, zeigt Wintersteiner anhand von drei Romanen auf – Die Nacht, als ich sie sah des slowenischen Autors Drago Jančar, Sonnenschein der kroatischen Autorin und Dramatikerin Daša Drndić und Museum der vergessenen Geheimnisse der ukrainischen Autorin Oksana Sabuschko.9 Die drei Romane seien, so Wintersteiner, explizit politische Werke. Sie beschreiben nicht bloß politische Themen, sondern sie positionieren sich auch in einem Diskurs über diese Vergangenheit. Es sei nicht einfach ein Anschreiben gegen das Vergessen – es sei vielmehr ein anderes Erinnern als das des gesellschaftlichen Mainstreams, durch das sich diese Romane auszeichnen.

Der Germanist und Kulturwissenschaftler Jerzy Kałążny führt in seinem Beitrag vor Augen, wie durch die Auflösung der alten sowjetischen Zustände und Zusammenhänge neue Territorien mit unklarer Zugehörigkeit („contested areas“) entstanden, die man als Räume der Verstörung, einer existentiellen Verunsicherung und auch einer Selbstvergewisserung beschreiben könne, wobei letztere besonders anfällig sei für „Dramatisierungen, Ideologisierungen und alle Arten von neuer Mythenbildung“ (Karl Schlögel). Auch in Polen gab die Auflösung des tradierten geopolitischen Koordinatensystems nach 1989 Anlass zum Nachdenken über eine neue Situierung des Landes auf der mentalen Landkarte Europas. Länder wie Weißrussland und die Ukraine werden dabei als Transiträume betrachtet, als eine Art „graue Zone“, deren Bewohner keine eigene Identität herausgebildet haben. Anhand des Romans Przyjdzie Mordor i nas zje, albo sekretna historia Słowian (Mordor kommt und frisst uns auf) des 1978 geborenen Journalisten, Schriftstellers, Essayisten und Bloggers Ziemowit Szczerek wird herausgearbeitet, wie die Ukraine einerseits als eine postapokalyptische, „kontaminierte Landschaft“ mit einer von der untergegangenen sowjetischen Zivilisation übrig gebliebenen postindustriellen Ruinenwelt präsentiert und andererseits als der „Wilde Osten“ exotisiert und orientalisiert wird.

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Mit ihrer umfangreichen Studie Söhne und Väter in totalitären Systemen. Zur literarischen Bearbeitung einer traumatischen Beziehung in Martin PollacksDer Tote im Bunkerund Viktor ErofeevsDer gute Stalin“ leitet die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Helena Ulbrechtová den Themenkreis Intergenerationalität ein: Sowohl Erofeev als auch Pollack setzen sich in ihren Werken nicht nur mit dem mehr oder weniger komplizierten Verhältnis zu den eigenen Vätern auseinander, sondern auch mit dem totalitären Erbe, dessen Produkte sie selber sind. In beiden Texten sei, so Ulbrechtová, eine ultimative Sohn-Vater-Perspektive für den Erzählmodus bestimmend. Vor dem Hintergrund des Vater-Sohn-Konflikts in der russischen Literatur von Turgenevs bekanntem Generationenroman Otcy i deti (dt. Väter und Söhne) über den Vaterverrat des sowjetischen „Helden-Pioniers“ Pavel (auch: Pavlik) Morozov bis hin zu Zachar Prilepins zeitgenössischem Roman Sank’ja analysiert Ulbrechtová Eroveevs literarische Dekonstruktion des Stalin-Mythos, die mit einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater, einem hochrangigen Funktionär der Diplomatie Stalins, einhergeht. Erofeev inszeniere dabei seine literarische Tat bewusst als Vatermord im Sinne Sigmund Freuds. Ulbrechtová erörtert den Roman vor dem Hintergrund einer russischen Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg und den Totalitarismus Stalin’scher und post-Stalin’scher Prägung: Den Umgang mit der totalitären Vergangenheit in Putins Russland sieht sie von Geschichtsfälschung, -mystifizierung und Vergessen geprägt. Martin Pollack hingegen müsse sich – vor dem Hintergrund einer völlig anderen, nämlich der deutschen und der österreichischen Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus – seine Vaterfigur, den am Brenner ermordeten SS-Sturmbannführer Gerhard Bast, erst rekonstruieren. Während bei Erofeev der Freud’sche Zugang (etwa das Konzept des Vatermordes) gewinnbringend angewandt werden könne, sei dies, so Ulbrechtová, bei Pollack nur punktuell möglich (vor allem im Hinblick auf sein zwiespältiges Verhältnis zum Vater und auf die Verdrängung des mit der Figur des Vaters verbundenen Traumas). Insgesamt erweist sich, wie Ulbrechtová aufzeigt, Pollacks literarische Rekonstruktion der Vaterfigur als eine Reise durch eine „kontaminierte Familiengeschichte“ ebenso wie durch die „kontaminierten Landschaften“ Mitteleuropas. Für Erofeev hingegen spielen russische Orte keine wichtige Rolle, von entscheidender Bedeutung in Erofeevs narrativer Raumkonstruktion sei vielmehr der zum fixen Reportoire der russischen Literatur gehörende Mythos Russlands vor der Revolution und während des Bürgerkriegs und nicht eine reale Kartographie russischer Landschaften.

Die Slawistin Eva Hausbacher zeigt in ihrem Beitrag Tiefe Spuren: Erinnerungstopographien in der zeitgenössischen transkulturellen Literatur auf, wie Katja Petrowskaja in Vielleicht Esther und Hanna Sukare in Staubzunge auf reale Archive zurückgreifen und in gegenwärtige zeitliche und räumliche Bezüge setzen. Unter Verweis auf Alexandra Lübckes Modell der Erinnerungstopographie versucht sie das Verfahren dieser Texte sichtbar zu machen, Geschichte anhand von individuell-persönlichen Geschichten und unter Rückgriff auf (un-)erzählte Familiengeschichten, Fotografien, Texte, öffentliche und private Archivquellen zu erschließen. Im Prozess der erinnernden „Wiederholung“ (Kierkegaard) durch das Schreiben und ← | 18→Neu-Erzählen ihrer Familien- bzw. Kindheits- und Jugendgeschichte entstehen Gedächtnisräume, auch „kontaminierte Landschaften“. Über das bei Martin Pollack geographisch definierte Verständnis von „kontaminierter Landschaft“ hinausgehend legen die literarischen Texte eine Parallelisierung von räumlicher Kontaminierung und psychischer Verdrängung nahe. Demnach seien Kontaminierungen auch im psychischen Apparat zu verorten, analog zur gegenläufig gerichteten Übertragung des auf die personale Ebene bezogenen Freud’schen Konzepts des Unheimlichen auf die Beschreibung von Kultur, wie dies Homi Bhabha und Julia Kristeva vorschlagen. Hausbacher will Vielleicht Esther und Staubzunge in einem breiten Zusammenhang von transkulturellen Texten slavischstämmiger Autorinnen (etwa Ol’ga Martynova, Nellja Veremej, Julia Kissina, Marjana Gaponenko oder Julya Rabinowich) im deutschsprachigen Raum verortet wissen. In diesen meist stark fragmentarisch-episodenhaften Erzähltexten werde ein neuer Blick auf die Geschichte entworfen, eine Art „Gegenerzählung“ zu den nationalen Narrationen und Erinnerungskulturen.

Auch der Beitrag des Literaturwissenschaftlers Axel Dunker „Was wird man denn da schon sehen können“. „Kontaminierte (Gedächtnis-)Landschaftenin Anne WebersAhnen. Ein Zeitreisetagebuch“ führt in intergenerationelle Zusammenhänge: Auf den Spuren ihres Urgroßvaters, Florens Christian Rang (1864–1924), eines protestantischen Theologen und Intellektuellen, der mit Martin Buber, Walter Benjamin und anderen namhaften Vertretern des damaligen Geisteslebens in Kontakt stand, stößt Anne Weber auf „kontaminierte Landschaften“ – so habe Rang anlässlich des Besuches einer „Irren- und Idiotenanstalt“, wie es damals geheißen habe, die Euthanasie befürwortet, ohne freilich noch zu wissen, dass es eben solche Euthanasieprogramme waren, die am Anfang des nationalsozialistischen (Völker-)Mordens standen. Für Weber jedoch, die die Äußerungen ihres Urgroßvaters aus der Perspektive der Gegenwart versteht, ereignet sich etwas, wofür Dunker den Begriff einer „Kontamination von Gedächtnis“ ins Spiel bringt. In Poznań (Posen), wo Rang gelebt und gewirkt hat, findet Anne Weber aber auch „kontaminierte Landschaften“ im buchstäblichen Sinne des Wortes: Denn, wie Dunker in Erweiterung von Pollacks Definition dieses Begriffs darlegt, seien nicht nur die Orte des Tötens und die Massengräber – wenn es überhaupt solche gebe und die Toten nicht verbrannt worden seien – getarnt, überwachsen, überbaut, sondern auch andere Orte, die eine Verbindung zu den Getöteten haben und die Erinnerung an sie wachrufen würden. In der Nähe von Webers Hotel in Poznań liege die ehemalige Synagoge, die in ein öffentliches Schwimmbad umgewandelt worden sei. In einer bestimmten Betrachtungsweise und einer damit verbundenen bestimmten Art literarischen Schreibens werde die „Landschaft zu einem Palimpsest, auf dem sich dann das Überschriebene, das Ausradierte, das Ausgelöschte sichtbar machen lässt“ (Dunker, i. d. B.).

Der Themenkreis Literarische Verschränkungen der Erfahrung von Shoa und Stalinismus wendet sich tschechischen Autoren zu: Die Bohemistin Gertraude Zand versucht Die Bedeutung des Unterirdischen im Werk von Jáchym Topol zu ergründen. Die ersten Texte des 1962 geborenen tschechischen Autors seien ← | 19→bezeichnenderweise im Underground der 1980er Jahre entstanden. Unterirdische Räume entwickeln sich bei Topol von Zeichen eines Daseins im gesellschaftlichen Underground mehr und mehr zu Symbolen für die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Auschwitz, Terezín (Theresienstadt), die kontaminierten Felder Weißrußlands sind die Schauplätze der Handlung in Topols Texten (in Sestra, dt. Die Schwester; in Noční práce, dt. Nachtarbeit; in Cesta do Bugulmy, dt. Die Reise nach Bugulma; in Chladnou zemí, dt. Zirkuszone). Dennoch verstehe sich, so Zand, Topols Prosa nicht als Dokumentarprosa, sie arbeite vielmehr mit den poetischen Mitteln von Intuition, Phantasie, Traum, um sich auf diese Weise die subterritoriale Sphäre des individuellen und kollektiven Unbewussten zu erschließen.

Die beiden Literaturwissenschaftler Alexander Kratochvil und Lucie Antošíková wenden sich in ihrem Beitrag Zur Produktion von Erinnerungskultur in Jáchym Topols RomanTeufelswerkstatt“ zum einen der literarischen Reflexion einer Erinnerungspraktik zu, die Trauma als kulturindustrielles Artefakt inszeniert und zum anderen dem Potenzial eines solchen erinnerungskulturellen Artefakts als Referenz für die Mutation zu einer grotesken Inszenierung von Erinnerung und Trauma im postsowjetischen Raum, die in ihrer Monstrosität selbst die traumatisierende Vergangenheit veranschaulicht. In der Teufelswerkstatt werden, wie Kratochvil und Antošíková zeigen, Vermarktungsstrategien und das Moment der machtpolitischen Implikationen auf die Spitze getrieben und grotesk übertrieben, indem das Projekt eines „Jurassic Park des Grauens“ vorgestellt wird. Im Hinblick auf Aleksander Ėtkinds Konzept der „Ghostware“ (Gespenster, Vampire, Untote als Erinnerungsträger) wird aufgezeigt, wie die Figuren aus Topols Roman sich als Gedächtnisproduzenten betätigen und eine Genozidgedenkstätte als Touristenattraktion, als „Horror-Trip“, „wie man ihn auf der Welt noch nicht gesehen hat“, als einen echten „Knaller“ inszenieren.

Die Germanistin Dana Pfeiferová wiederum entführt die Leser des Bandes in ihrem Beitrag Prag alsCittà dolente. Zur Romantrilogie von Daniela Hodrová nicht nur im Kontext der Prager deutschen Literatur in die düsteren Romanwelten von Daniela Hodrová, die einerseits die verhängnisvolle Geschichte (Shoa, Stalinismus) in den Geschichten der Protagonisten erzählen und andererseits stark poetologisch ausgerichtet seien. In ihren Texten entwickle Hodrová den am Expressionismus geschulten Umgang der Autoren des Prager Kreises (Meyrink, Perutz, teilweise Kafka) mit dem Raum weiter und setze zugleich Hans Blumenbergs „Arbeit am Mythos“ sowie die Semiotik Umberto Ecos um. In Hodrovás Romantrilogie Città dolente deuten, so Pfeiferová, Wort- und Gedankenfetzen, fragmentarische Bilder das Ausmaß des Verlustes an, der durch die Shoa entstanden sei und dessen Spuren im Stadtbild von Prag immer noch deutlich zu sehen seien.

Der Beitrag des Historikers Alexander Pinwinkler reflektiert über „Kontaminierte Erinnerungslandschaften“? „Ehrregime“ und Vergangenheitspolitik an der Universität Salzburg und stellt einen eigenen Themenkreis dar – Exkurs: Akademische Erinnerungslandschaften zwischen Ehre und Schande. Pinwinkler befasst sich dabei kritisch mit der Verleihung von Ehrendoktoraten an Wissenschaftler und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (unter ihnen der ← | 20→weltbekannte Verhaltensforscher Konrad Lorenz und der Starkomponist Herbert von Karajan), deren Biographien nicht frei waren von Verstrickungen in die Ideologie und die „Praxis“ des Nationalsozialismus. Pinwinkler verortet seine Darstellung im breiten Kontext der österreichischen Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik. Indem dunkle Flecken in den Biographien der „Geehrten“ geduldet worden seien, habe, wie Pinwinkler darlegt, die Universität Salzburg in der Zeit zwischen den 1960er bis 1980er Jahren eine „implizite Vergangenheitspolitik des weitgehenden Tabuisierens, Verdrängens und Beschweigens individueller Biographien“ von Trägern akademischer Ehrungen betrieben. Durch das Zutagefördern und Sichtbarmachen von solchen Verwicklungen und Verstrickungen der Geehrten trage die Geschichtswissenschaft maßgeblich zur Erforschung „kontaminierter Erinnerungslandschaften“ bei. Die durch Beschluss der Universität Salzburg im Dezember 2015, die Verleihung des Ehrendoktorats von Konrad Lorenz zu widerrufen, ausgelösten medialen Kontroversen haben, so urteilt Pinwinkler, zum Ausdruck gebracht, dass NS-spezifische „Erinnerungslandschaften“ bis heute in einem hohen Ausmaß als kontaminiert zu betrachten seien.

Der Themenkreis Polen als Schauplatz der Shoa geht einerseits von Henryk Grynbergs Diktum aus, demzufolge Polen das Epizentrum der Menschheitskatastrophe der Judenvernichtung geworden ist,10 und andererseits von Barbara Breysachs grundlegender Studie Schauplatz und Gedächtnisraum Polen:11 Von letzterem handelt auch der Beitrag des in Frankfurt an der Oder lehrenden Lyrikers, Essayisten und Literaturwissenschaftlers Lothar Quinkenstein, in dessen Zentrum das Warschauer Ghetto als lieu de mémoire in Bogdan Wojdowskis Roman Chleb rzucony umarłym (1971) (dt. Brot für die Toten, 1974) steht. In der deutschen Erinnerungskultur, so merkt Quinkenstein kritisch an, nehme das Warschauer Ghetto gegenüber der monolithisch die Gedenkkultur überragenden Bedeutung des Namens Auschwitz lediglich eine Randstellung ein. Literarische Darstellungen des Warschauer Ghettos als Stadtraum, der zum Schauplatz des „Zivilisationsbruches“ (Dan Diner) geworden sei, seien in deutschen Diskursen weniger präsent als in polnischen. Einer der wichtigsten Texte über das Warschauer Ghetto sei, so urteilt Quinkenstein im Verein mit dem Schriftsteller Henryk Grynberg und dem Literaturwissenschaftler Michał Głowiński, Bogdan Wojdowskis Chleb rzucony umarłym. Der Beitrag stellt den Roman als Beispiel einer polyphonen Erzählkunst vor, die sich zum einen am Konzept der „authentischen Prosa“ orientiere und ein ← | 21→Bild des Ghettos mit seinem zum Alltag gewordenen Grauen zeichne und zum anderen durch die Rückbindung des Romans an die jüdische Geistesgeschichte jene kulturellen Inhalte bewahre, die die Besatzer vernichten wollten. Dadurch aber werde, so Quinkenstein, Brot für die Toten zu einem bedeutenden literarischen Entwurf, der den „Mnemozid“ (Christoph Münz) der Shoa auf eine Weise spürbar werden lasse, die über die Fixierung der Fakten, wie etwa historische Arbeiten sie leisten, weit hinaus gehe.

Der Slawist Alexander Höllwerth wiederum beschäftigt sich in seinem Beitrag Diearmen Polenund das Ghetto.Kontaminierte Seelenlandschaftenin der polnischen Literatur zuerst mit der Martin Pollacks Konzept zugrunde liegenden Kontaminations- und Vergiftungsmetaphorik, die eine Atmosphäre der Vergiftetheit zum Ausdruck bringt, die auch in Polen, dem Hauptschauplatz des Zivilisations- und Gattungsbruchs der Shoa, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg spürbar war und sich auch in der Literatur (etwa in der Lyrik von Różewicz) niederschlug. Das aus dieser Atmosphäre resultierende Misstrauen in die Fähigkeit der Sprache, mit Begriffen wie „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“ verbundene Inhalte zu transportieren, steht in einer gewaltigen Spannung zu dem (etwa vom Historiker Emanuel Ringelblum oder von Henryk Grynberg) gerade an die polnische Literatur herangetragenen Anspruch der Zeugenschaft. Vor diesem Hintergrund zeigt Höllwerth auf, dass es die polnische Literatur im Hinblick auf das Warschauer Ghetto (als einem zentralen Topos) mit „kontaminierten Seelenlandschaften“ zu tun hat: Bezug nehmend auf Martin Pollacks „kontaminierte Landschaften“ und auf den Begriff der „Landschaften der Schuld“ der Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz versucht Höllwerth die Verwobenheit von realen, durch Krieg und Völkermord „kontaminierten Landschaften“ mit individuellen sowie kollektiven „Seelenbefindlichkeiten“ einerseits und mit der Belastung durch Schuld (eine „Schuld des Dabeigewesenseins“ im Sinne von Karl Jaspers) andererseits in den Blick zu bekommen. Der Beitrag zeigt auf, dass es in der polnischen Literatur bereits kanonisch gewordene Texte wie Czesław Miłoszs Gedicht Biedny chrześcijanin patrzy na getto [Armer Christ schaut auf das Ghetto] und Jan Błońskis Essay Biedni polacy patrzą na getto [Die armen Polen schauen auf das Ghetto], Jarosław Marek Rymkiewiczs Romanessay Umschlagplatz ebenso wie der noch weniger kanonische, jedoch heiß diskutierte Roman Noc żywych Żydów [Nacht der lebenden Juden] von Igor Ostachowicz mit „kontaminierten Seelenlandschaften“ zu tun haben.

Die beiden Literaturwissenschaftler Stefan H. Kaszyński und Maria Krysztofiak beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Verdrängte[n] Kartographie der Verbrechen an jüdischen Mitbürgern, am Beispiel der polnischen FilmePokłosieundIda“. Das Schweigen der Zeitzeugen habe eine Situation hervorgebracht, in der nach der Wahrheit über die Vergangenheit gegraben werden müsse. Während man im Westen hauptsächlich in Archiven gegraben habe, habe man in Polen, so Kaszyński und Krysztofiak, buchstäblich die Erde umgegraben und sei dabei auf Gräber gestoßen. Diese Spur führe zu den im Titel angekündigten Filmen: Pokłosie (2012) [Nachlese] von Władysław Pasikowski und Ida (2013) von Paweł Piątkowski. Ebenso wie das im Jahre 2000 erschienene Buch Sąsiedzi. Historia zagłady Żydów ← | 22→w miasteczku Jedwabne (dt. Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne)12 von Jan Tomasz Gross haben die beiden Filme massiv am polnischen Selbstbewusstsein gerüttelt, an der Identität einer Nation, die sich bislang als „Opfernation“ konstruiert habe. Nach einer hermeneutischen und cineastischen Auswertung verortet der Beitrag die beiden Filme im Kontext eines (gesamt-)europäischen Schulddiskurses. Kaszyński und Krysztofiak kommen dabei zum Schluss, dass die beiden Ausgrabungsfilme viel breiter als die innenpolitische Debatte in Polen zu verstehen seien, sie dienen der Aufklärung einer europäischen Mitschuld am Holocaust, einem Menschheitsverbrechen, das zu einem Teil der Geschichte der Neuzeit geworden sei. Ähnlich wie Höllwerth gehen auch Kaszyński und Krysztofiak davon aus, dass Verbrechen, zumal „vertuschte“, bewusst verborgen gehaltene, auf das individuelle und kollektive Seelenleben wirken. Dafür wird der Begriff der „kontaminierten Gewissenslandschaften“ ins Spiel gebracht.

Die Historikerin Marta Zawodna-Stephan beschäftigt sich in ihrem Beitrag Zwischen Nutzung und Gedenken. Die Geschichte der Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Kulmhof nach dem Krieg mit der Geschichte eines kontaminierten Ortes par excellence, des ehemaligen Vernichtungslagers Kulmhof. Das Lager Kulmhof war das erste Vernichtungslager im besetzten Polen. Es wurde eingerichtet, um die im Warthegau lebende jüdische Bevölkerung auszurotten, und war vom 8. Dezember 1941 bis zum 18. Januar 1945 (mit einer Unterbrechung in den Jahren 1943 und 1944) in Betrieb. Zuerst geht Zawodna-Stephan auf die in der Zeit des Krieges dort begangenen Verbrechen ein. Sie bezieht sich dabei auf historische Darstellungen ebenso wie auf gerichtliche Zeugeneinvernahmen. Die Zeit unmittelbar nach dem Krieg beschreibt sie als Zeit der Justiz, in der Spuren der Verbrechen gesammelt und dokumentiert worden seien. Dies habe jedoch, wie Zawodna-Stephan ausführt, zur nächsten Verdinglichung der Opfer geführt, da die in Beweismittel, in „corpora delicti“ transformierten Knochen nicht auf die Toten selbst, sondern nur auf den durch ein Verbrechen herbeigeführten Moment ihres Todes verweisen. Auf die Zeit der Justiz sei die Zeit des Vergessens gefolgt: An der Wende von den 40er zu den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts habe die Änderung der Regierungspolitik gegenüber den Jüdinnen und Juden, die eine Folge der Stalinisierung des Landes und der antisemitischen Kampagnen in vielen Ländern des Ostblocks gewesen sei, dazu geführt, dass die Thematik des Holocaust vollständig tabuisiert worden sei – davon sei auch das ehemalige Lagergelände von Kulmhof betroffen gewesen. Die mit den 1960er Jahren begonnene Etappe sei, so Zawodna-Stephan, von besonderer Bedeutung für die Erneuerung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, darunter auch an die Vernichtungslager, gewesen. Sie wird als eine Zeit der Halbwahrheiten beschrieben, da in ihr die eigentliche, vorwiegend jüdische Identität der Opfer verwischt und sie als Opfer des Faschismus dargestellt worden seien. Der in den 1980er und 1990er Jahren ← | 23→erfolgte Zusammenbruch des kommunistischen Blocks in Mittel- und Osteuropa sowie die Emanzipation von inneren Minderheiten ließen nun auch im Hinblick auf die Shoa eine Zeit der Erinnerung anbrechen: Auf dem Gelände des Lagers Kulmhof gab es archäologische Ausgrabungen, ein Museum wurde eröffnet und neue Denkmäler wurden geschaffen.

Der Themenblock Shoa und Krieg – im Spannungsfeld zwischen realer Erfahrung und textueller Repräsentation umfasst zwei Beiträge: Der Germanist Sławomir Piontek bringt in seiner Auseinandersetzung mit Martin Pollacks Texten Kontaminierte Landschaften und Topografie der Erinnerung eine Lesart ins Spiel, die im Zusammenhang mit einem Prozess steht, der in vielen Disziplinen seit etwa 15 Jahren als Ende der Postmoderne diskutiert werde. Jene Ersetzung der realen Erfahrung (von Shoa und Krieg) durch Text, der ja ein Grundprinzip der Postmoderne ist, beginne, so Pionteks These, eben in dem Moment wirkliches Unbehagen zu erzeugen, als die Zeugen als erfahrungsgesättigte Korrelate der Texte nicht mehr da seien. Auch die erwähnten Texte Martin Pollacks lassen sich als ein Anschreiben gegen (postmoderne) Interpretationen lesen: Auch wenn die Texte voll „von Vermutungen, Fragen, Rekonstruktionen von möglichen, nur wahrscheinlichen, zum Teil fiktionalen Handlungsverläufen“ seien, so seien sie doch vom Bemühen getragen, „die Opfer der Anonymität zu entreißen, sie zu authentifizieren“ (Piontek, i. d. B.) und stehen im Zeichen der Unverhandelbarkeit des Vergangenen.

Details

Seiten
420
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631771044
ISBN (ePUB)
9783631771051
ISBN (MOBI)
9783631771068
ISBN (Hardcover)
9783631745632
DOI
10.3726/b14793
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Erinnerungspolitik Erinnerungskultur Kriegsliteratur Holocaust Shoa Trauma Transkulturalität Intergenerationalität
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 420 S

Biographische Angaben

Alexander Höllwerth (Band-Herausgeber:in)

Alexander Höllwerth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Slawischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Helena Ulbrechtová ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Slawischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik und der Karlsuniversität Prag. Ursula Knoll ist Literaturwissenschaftlerin, Theaterautorin und Verlagslektorin beim Verlag Jugend & Volk in Wien.

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Titel: "Kontaminierte Landschaften"
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