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Späte Schriften zur Literatur. Teil 1: Zur Literatur der Moderne und zur Literaturgeschichte

Herausgegeben von Hans-Edwin Friedrich

von Helmut Heißenbüttel (Autor:in) Hans-Edwin Friedrich (Band-Herausgeber:in)
©2021 Andere 560 Seiten

Zusammenfassung

Mit der dreibändigen Jubiläumsedition zum 100. Geburtstag liegen erstmals Helmut Heißenbüttels späte Schriften zur Literatur in gesammelter Form vor. Sie enthält bislang nur verstreut veröffentlichte Texte und zeichnet wesentliche Entwicklungslinien des essayistischen Werks nach.
Im ersten Teil sind Aufsätze zur Literaturgeschichte und zur Moderne zusammengestellt. Er dokumentiert eine fortlaufende Beschäftigung mit einem historischen Bruch, der den Ausgangspunkt für Heißenbüttels eigenes Werk darstellt. Zugleich zeigt er wesentliche Verschiebungen in der Bewertung des Fortschrittsgedankens sowie bislang weniger bekannte Schwerpunktsetzungen in der Beschäftigung mit Kurt Schwitters sowie Autoren der konservativen Moderne auf. Er versammelt Schriften u.a. zu Carl Einstein, Arnold Schönberg, Rudolf Borchardt und Max Kommerell. Erstmals sind auch alle Beiträge zu Ernst Jünger aufgenommen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Anbruch der Moderne
  • Das kunterbunte Epos
  • Einsam von August Strindberg
  • August Strindberg: Sohn einer Magd
  • Strindberg wiederzuentdecken
  • Spiel mit Spiegel und Widerspiegel
  • Poesie und Porno
  • Persönlicher Eindruck von österreichischer Literatur im 20 Jahrhdt
  • Ästhetik der Wortkunst
  • Wortkunst
  • Expressionismus
  • Stramm zwischen Hofmannsthal und Nebel
  • Der Zerfall der Fiktion der Realität
  • Thesen zum Sprachgebrauch des deutschen Expressionismus
  • Uneingelöstes Versprechen der Literatur
  • [Antwort auf Georg Trakl]
  • Eine vergessene Nuance der deutschen Literatur
  • Aus heißestem Ja zum Leben
  • Stichworte bei meiner Lektüre
  • [Gottfried Benn, Sämtliche Erzählungen]
  • Der entfirnißte Gottfried Benn
  • Gottfried Benn von Staub gereinigt
  • Der letzte Mohikaner des Expressionismus
  • Nachwort [zum Hans Henny Jahnn-Lesebuch]
  • Carl Einstein
  • Attacke gegen die Intellektuellen
  • Heidemarie Oehm: Die Kunsttheorie Carl Einsteins
  • „Eine Sonnenfinsternis des Herzens schattete in ihm“
  • Bebuquin vierzig Jahre nach seinem Tod
  • Die schlimme Botschaft
  • Auskunft über Carl Einstein
  • Dada
  • Helmut Heißenbüttel spricht über das Buch Dada – Monographie einer Bewegung von Marcel Janco und Willi Verkauf
  • Hoffähige Moderne?
  • Traumfahrten vergangener Jahre
  • Lockerungs- Übungen
  • Gertrude Stein und Kurt Schwitters
  • Gertrude Stein, Kurt Schwitters und der Fortschritt in der Literatur
  • Die Demonstration des i und das Trivialgedicht
  • Dada ist unsere Antigone
  • Versuch über die Lautsonate von Kurt Schwitters
  • Auguste Bolte und Anna Blume oder die Welt der Sprache
  • Zur Sonate in Urlauten
  • Über einige Gedichte von Kurt Schwitters
  • Das i- Gedicht von Kurt Schwitters
  • Jedermanns vierte Rose
  • Die Heiterkeit des Indikativs
  • Gertrude Stein: Jedermanns Autobiographie
  • Wasserzeichen der Stille
  • Schreibweisen der Moderne
  • Sprache für Milliarden
  • Vom Wesen des Witzes
  • Boulevard Saint- Germain Nr 125
  • Das Untergehen in der anonymen Erinnerung
  • Die Rollen des Antonin Artaud
  • Kore in der Hölle Frühe Schriften von William Carlos Williams
  • Cummings’ nonlectures und der Geist von Concord
  • Franz Kafka: Briefe an Felice
  • Sancho Pansas Teufel
  • Zu Albert Paris Gütersloh:Sonne und Mond
  • Nachsatz 1984 [zu Sonne und Mond von Albert Paris Gütersloh]
  • Der innere Erdteil
  • Moderne Musik und Literatur
  • Lenz – Büchner – Berg
  • Wiener Schule und Literatur
  • 1. Schönbergs Textauswahl
  • 2. Schönberg als Textautor
  • 3. Der Inhalt der Musik bei Webern
  • 4. Streuung der Texte nach Maßgabe der Musik: Hanns Eisler
  • 5. Fragen an Alban Berg
  • Vom Sprechgesang zur Sprachmusik
  • Philosophie und Psychoanalyse
  • Der Makel des Scheins
  • Schopenhauer als Lösung?
  • Das Vatergesicht
  • Die Mitdenkerin
  • Durchschautes Es
  • Schriften zur Psychoanalyse von Sandor Ferenczi
  • Satan steckt im Hirn
  • Von der Entstehung der Psychoanalyse
  • Über den Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Carl Gustav Jung
  • Über Psychoanalyse und Literatur von Jean Starobinski
  • Konservative Moderne
  • [Über Stefan George]
  • [Über Stefan George II]
  • Helmut Heißenbüttel empfiehlt zum Lesen: Jamben von Rudolf Borchardt
  • Restitutio in integrum
  • „Deutschland ist Kain“
  • Überlebender Text
  • Einbildungskraft und Geschichte
  • Das späte Etikett
  • Zur Lyrik Max Kommerells
  • Rückeroberung eines Dichters
  • Ernst Jünger
  • An der Zeitmauer
  • Unterwegs zu einer Metaphysik des Raketenzeitalters
  • Hier irrte: Helmut Heißenbüttel
  • Enzensberger war Jünger- Adept
  • Annäherungen oder Zerreißproben
  • Übermensch als Gymnasiast
  • General i R als Goethe
  • Der Goethe der CDU?
  • Letzter Satz zu Ernst Jünger
  • Verzeichnis der Druckvorlagen
  • Helmut Heißenbüttel und die Moderne – Nachwort von Hans-Edwin Friedrich
  • Register
  • Reihenübersicht

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Anbruch der Moderne

Das kunterbunte Epos

Detlev von Liliencrons Poggfred als Vorläufer. Lesung und Kommentar

Es kam der Herbst, des Sommers Gluten bleichen,

Blatt fällt auf Blatt, vom Spiel im Winde müd,

Und sinkt, Addio! zu den andern Leichen.

Viel tiefer als des Frühlings sanfter Süd,

Als seine Lämmer, Veilchen, Nachtigallen,

Dringt mir der Herbst zu Sinnen und Gemüt.

Halloh, ich will heut keine Grillen fangen.

Bertouch! Den Wagen vor! Ich will zum Deich!

Ans Meer treibt mich ein ungestüm Verlangen.

Mir winkt mein ewig neues Wasserreich.

Schnell ziehn mich meine Orlow-Traber fort,

Es klopft ihr Huf im Gleichklang auf den Klinkern,

Die Mähnen schüttern Beifall meinem Sport.

Ein leiser Zuruf, und in immer flinkern,

Graziösern Sätzen laufen meine Stuten;

Geschirr, Laternen, Lack und Räder blinkern.

Von Koog zu Koog und endlich sind wir „buten“

Im letzten angekommen, wo der Deich

Wie Festungsbollwerk widersteht den Fluten.

„De Butendiek“, der See- der Winterdeich,

Der Hort der fetten Marsch, der goldnen Ähre,

Legt zwischen Land und Meer ein Zwischenreich.

Er ragt am Horizont in Luft und Leere,

Wie eine lange Mauer scharf gerissen,

Und doch im Schleier einer Wundermäre.

Und immer näher eil ich den Kulissen

Des seltsamen Theaters Terramare,

Wo Land und Meer zugleich die Flaggen hissen.

Was ist denn das? Ich komme nicht ins Klare:

Ein Riesenedelweis an seiner Lehne?

Nein, Gänse sinds, die liebe Tafelware.

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Der erste Regenpfeifer auf der Szene!

Tütvögel fliegen scheu und klagend auf;

Schon riecht das Wasser her. Sieh, wilde Schwäne.

Ich hemme meiner Pferde heißen Lauf,

Der Wagen hält, ich springe aus dem Sitz.

Die „Krone“ winkt. Ich stehe obenauf.

Holl Ebb! Nur ferne, fern ein Wellenblitz,

Holl Ebb, so weit wie meine Augen reichen;

Im Vorland Schafe und der Schäferspitz.

Und Schlick und Schlamm. Die Krabbenfischer streichen

Mit ihren Netzen langsam durch die Prile,

Ihr Schiffchen gibt der See ein mürrisch Zeichen.

Die Möwen necken sich in zänkischem Spiele,

Die Buhnen strecken sich wie Finger vor,

Der Ebbe Sinken ist am letzten Ziele.

Der ewige Weststurm knattert mir ums Ohr;

Musik des Windes! Odins Gruß und Kraft!

Neptun, Tritonen singen mit im Chor.

Die Schwalbe flitzt vom Land her meisterhaft;

Als wollt sie mir die grauen Haare stutzen,

So nah macht sie mit mir Gevatterschaft.

Doch hui, der Wind wird gleich die freche putzen,

Pfeilschnell wirft er sie wieder hintern Deich,

Bis sie von neuem anfängt aufzutrutzen.

„Bischuern“ regnets. Sonnenschein zugleich.

Und überm Ozean ein Regenbogen,

Erst voller Farben, bleicher dann und bleich.

Und unter ihm, weit, weit, die grauen Wogen,

Im Gischt, im Kampf die wilden weißen Kämme,

Und alles ist von Glanz und Gold umzogen.

Ein rotes Segel tanzt in dieser Schwemme,

Ein großes weißes Segel tanzt dazu,

Grell fällt ein Streifen aus der Wolkenklemme.

Helldunkel, dunkelhell und ohne Ruh,

So tanzen dort die zwei im feuchten Saal,

Das eine Boot blitzt wie ein Silberschuh.

Aus schwarzen Ballen noch ein schräger Strahl,

Dann feiern Sturm und Regenguß ein Fest,

Die Fische halten ihre Königswahl.

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Die Sonne hat ein wenig Hausarrest,

Da endlich sprengt sie wieder den Verschluß:

Genug! Vom Tag gehört jetzt mir der Rest!

Dem Abend schenkt sie ihren Scheidekuß,

Der Wind entschläft, ein Lüftchen kraust die Wogen;

Im Süden spannt sich, nun Ade Verdruß,

Just mitten übern Deich der Regenbogen.

Weit, weit in einer einzigen graden Flucht,

Liegt jetzt vor mir nach Norden und nach Süden

Der Winterdeich, nirgends die kleinste Bucht.

Und wenn mich auch die Engel vor sich lüden

Und mir bewiesen: „Sieh, der Deich läuft schief,“

Er streckt sich kerzengrad von Nord nach Süden!

Was ist das? Ein Gedicht? Eine Vers-Erzählung? Eine Parodie? Woher rührt die merkwürdige Unsicherheit, die den Zuhörer beim Anhören dieser Verse ergreift? Oder ist das, was hier zu hören war, ganz einfach und unkompliziert?

Es gibt Verse, die Stimmung vermitteln: „Und überm Ozean ein Regenbogen, erst voller Farben, bleicher dann und bleich. Und unter ihm, weit, weit, die grauen Wogen, im Gischt, im Kampf die wilden weißen Kämme, Und alles ist von Glanz und Gold umzogen.“ Andere Verse wiederum scheinen nur poetische Klischees zu häufen: „Viel tiefer als des Frühlings sanfter Süd, als seine Lämmer, Veilchen, Nachtigallen, dringt mir der Herbst zu Sinnen und Gemüt.“ An wieder anderen Stellen wird parodierende Absicht deutlich: „Die Schwalbe flitzt vom Land her meisterhaft; als wollt sie mir die grauen Haare stutzen, so nah macht sie mit mir Gevatterschaft.“ Dazu kommen ebenso merkwürdige Wechsel zwischen gehobener und alltäglicher Sprechweise.

Mythologisches Vokabular steht unmittelbar neben umgangssprachlichen Redewendungen, ja einzelnen niederdeutschen Wörtern. Gereimt werden etwa: Stuten – buten – Fluten. Beschreibende Elemente wechseln mit metaphorischen und parodierenden.

Ein Durcheinander also? Ein Durcheinander, dem auf Anhieb kein tieferer oder höherer Sinn abzulesen ist? Vielleicht das Zeugnis eines vollkommenen Scheiterns? Einfach schlechte Lyrik? Zweifellos spürt man schon nach der erst[en] Probe, daß solche Gegenfragen nicht einfach mit Ja zu beantworten sind. Es steckt dann doch wieder zuviel System in der merkwürdigen Mischung dieser Verse, als daß es sich bloß um Unvermögen handeln könnte. Was dann?

Daß es sich um System und Vorsatz handelt, zeigen die Eingangsverse des Werks, aus dem die Terzinen des ersten Zitats stammen. Sie lauten:

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Dies ist ein Epos mit und ohne Held,

Ihr könnts von vorne lesen und von hinten,

Auch aus der Mitte, wenn es euch gefällt.

Ja, wo ihr wollt, ich mache nirgends Finten,

Klaubt euch ein Verslein aus der Strophenwelt!

So sucht ein Kind im Kuchen nach Korinthen.

Ob sie euch schmecken, kümmert mich fürwahr nicht;

So lest denn mit Geduld! Meintwegen garnicht.

Tut, drin zu lesen, wirklich wer den Schwur,

Ums Himmelswillen, nur nicht die „Gesänge“

Wie einer Zwiebelreihe tote Schnur

„Herunterhaun“, sonst kommt er ins Gedränge.

Denn das wär eine Elefantenkur,

Und gräßlich wirkte, opiumgleich, die Länge.

Nein, wie gesagt, nur hier und dort ein Canto,

Und ganz beliebig ausgehülst ex Quanto.

Zwar wähl ich mir ein fremdländisch Gewand:

Ich greife zu Ottaven und Terzinen.

Doch werd ich dich, mein deutsches Vaterland,

Deshalb nicht weniger gewandt bedienen.

Die Stanze ist mir nur der Zellenstand,

Den Honig bringen meine heimischen Bienen.

Und der Terzinen Sancta Trinitas

Dämmt die Gedankenflut ins rechte Maß.

Ich möchte gern in alles Leben sehn,

Und die Maschine unsrer Erde schildern,

Ihr Triebwerk bis ins zarteste Rädchen drehn.

Vermessenheit, auch nur in Umrißbildern

Die Welt auf einem Kohlblatt zu verstehn.

So muß ich schleunig meine Absicht mildern.

Und gar von eines einzigen Menschen Qual

Kennt selbst der liebe Himmel nicht die Zahl.

„Ergreift“ die Ewigkeit den Gänsekiel;

Sie kann nicht eines Menschen Stunde schreiben.

Sie sähe nichts von seinem Ziel und Spiel,

und sähe sie durch alle Fensterscheiben.

Gräbt sie ihm dann sein letztes Domizil,

Wird er sich still dem Weltschoß einverleiben,

Ohn daß er mehr aus seiner Daseinsfülle

Ertastet hätte, als der Seele Hülle.

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Geheimnisvoll ist unser Tun und Handeln,

Geheimnisvoll verstummen wir ins Grab.

Und wenn wir noch so breit und spurig wandeln,

Wir schwanken nur am sichern Todesstab.

Und was wir binden auch, und was wir handeln,

Geheimnis steigt wie Stein mit uns hinab

Ist unenträtselbar des Menschen Leben,

Wie könnt ich seines Schicksals Aufschluß geben.

Na gut, was tu ich denn in die Behälter?

Erinnrung? Traum? Erlebnis? Phantasie?

Ich habe Angst, mein Blut wird täglich kälter,

Zum Teufel geht allmählich der Esprit.

Zusammen schab ich drum, eh immer älter,

Die schäbigen Reste meiner Poesie.

Denn vor mir, eine greuliche Pagode,

Hockt steif des Dichters „zweite Periode“.

Oh, da wirds eisig, „objektiv“ wirds da,

Der Springinsfeld setzt ruhiger den Fuß

Und ruft nicht mehr sein lustiges Hurra.

Trübsinnig hört er fernen Sängergruß,

Am Ende kommt noch gar das Podagra,

Auf alle Farben fällt ein grauer Ruß.

O Jemine, so sinkt die Kraft der Jugend,

Verwandelt sich in wermutvolle Tugend.

Nein, nein! Noch nicht! Noch immer, kommts drauf an,

Sitz ich im Sattel zweiundsiebzig Stunden,

Noch immer pfeif ich auf Hans Biedermann,

An keine Regel, nur an mich gebunden;

Und was für Fallen mir der Schmerz ersann,

Noch hab ich stets die Rettungstür gefunden.

Noch fließen meines Lebens rote Wellen,

Und forschen Sinns versprudl ich meine Quellen.

Hier wird nun gewissermassen das Programm vorgestellt, nach dem der Autor dieses literarischen Gebildes vorzugehen beabsichtigt. Er nennt es Epos. Die Strophenform, die er für dieses Epos gewählt hat, sind Ottave und Terzine, zwei in der deutschen Literatur einigermaßen ungewöhnliche Formen. Ungewöhnlich deshalb, weil sie eine große Beweglichkeit des Reims verlangen, etwas, wofür sich die italienische Sprache weit besser eignet als die deutsche. Aus der Schwierigkeit, die der Autor mit den Reimen hat, wird, wie sich bereits an den zitierten Beispielen erkennen ließ, wie es die weitere Lektüre aber immer deutlicher zeigt, eine Methode gemacht. Hohes wird mit Niederem, Metaphorisches ←15 | 16→mit Vulgärem, Hochdeutsch mit Niederdeutsch, Deutsch überhaupt mit fremdsprachlichen Zitaten gekoppelt. Nicht die Einheitlichkeit der Sprechlage, des Stils oder der Stimmung ist bezeichnend, sondern deren Durcheinander. Dies Durcheinander ist nicht gemeint als Bruch, als Witz, als Ironie, wie etwa bei Heinrich Heine, sondern verläßt sich darauf, daß all dies einander Widersprechende gleicherweis zur Verfügung steht, benutzbar ist für den, der versucht, eine literarische Summe zu ziehen. Wenn man das unvermittelte Nebeneinander von verschiedenartigen überlieferten Methoden und Redeweisen als eklektisch bezeichnen kann, so wäre dies Epos, seinem selbstverkündeten Programm nach, die rigorose Konsequenz aus einem literarischen Eklektizismus.

Nun endlich ist es an der Zeit, zu sagen, um was es sich eigentlich handelt. Die zitierten Verse stammen aus dem, wie es im Untertitel heißt: „Kunterbunten Epos“, das 1896 zuerst in einem Umfang von zwölf „Cantussen“ veröffentlicht wurde, bis 1908 auf 29 Cantusse anschwoll und den Haupttitel Poggfred, das ist auf Hochdeutsch: Froschfrieden trägt. Sein Verfasser ist Detlev von Liliencron.Poggfred ist Liliencrons vorletztes und merkwürdigstes Werk, immer nur als Kuriosität behandelt, heute weitgehend vergessen, im Übergang stehend von einer abgeschlossenen Epoche zu etwas völlig Neuem, in diesem Übergang so könnte man sagen, eine der Eingangshallen der Moderne in der deutschen Literatur, vergleichbar etwa dem ganz anders gearteten, gleichzeitigen Phantasus von Arno Holz.

Detlev von Liliencron, dessen Vornamen, laut Taufregister, in Wahrheit Friedrich Axel Adolf waren, wurde am 3.6.1844 in Kiel geboren und starb am 22.7.1909 in Alt-Rahlstedt bei Hamburg. Das Lexikon der Weltliteratur von 1961 sagt über ihn unter anderem folgendes:

„Nach einer menschenscheuen, träumerischen Kindheit wurde Liliencron preußischer Offizier, nahm, durch eine unglückliche Liebe in Schulden gestürzt, seinen Abschied und ging nach Amerika, wo er sich als Sprachlehrer, Klavierspieler, Stallmeister und Zimmermaler durchbrachte. Nach anderthalb Jahren kehrte er enttäuscht zurück, wurde Gesangslehrer in Hamburg, dann Kirchspielvogt in Kellinghusen. Nach dem großen Erfolg seines ersten Gedichtbandes ließ er sich als freier Schriftsteller in München, später in Altona und Alt-Rahlstedt nieder. Seine ersten Novellen stehen unter dem Einfluß Theodor Storms und Turgenjews, seine ersten Gedichte unter dem August von Platens, Nikolaus Lenaus, Eduard Mörikes, Emanuel Geibels und anderer. Liliencron war eng befreundet mit Richard Dehmel. Schon in den Adjutantenritten (1883) vollzog er im Bereich der Lyrik jene volle Hinwendung zum Naturalismus, die ihn zum Bahnbrecher einer wirklichkeitsnahen Lyrik werden ließ.“

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Als naturalistischer und impressionistischer Lyriker ist denn Liliencron auch in die Literaturgeschichte eingegangen. Zu fragen wäre allerdings, was damit gemeint sein kann. Gegenüber Gedichten Geibels oder auch Dehmels zeigen die Liliencrons eine schlichtere Metaphorik, liegen Bild und Beschreibung dichter zusammen und beherrscht der Stimmung hervorrufende Ausdruck die poetische Diktion. Konkrete Landschaftsbezeichnungen, konkrete Topographie, subjektive Varianten, überraschende Formulierungen bestimmen das Gedicht Liliencrons mehr als die konventionellen oder abgewandelten Vergleiche.

Die Spur davon findet sich ja auch noch in den vorgestellten Zitaten aus Poggfred. Aber nur die Spur. Man könnte sagen, Liliencron habe seine Lyrik aufgehen lassen wollen in etwas Umfassenderes. Wollte er tatsächlich eine der ältesten Traditionen restaurieren und am Schluß das leichtgewichtig im Gedicht Verstreute im Hauptwerk, im Epos binden? Übernahm er sich nun im Ehrgeiz zu diesem Hauptwerk? Mußte er nicht, da die Voraussetzungen für eine solche epische Gesamtschau fehlten, notwendigerweise scheitern?

Nun steckt ja dieses Scheitern, wie zu hören war, bereits im programmatischen Auftakt. Was bedeutet das? Was bedeutet es, daß dieses Epos als ein „kunterbuntes“ bezeichnet wird? Die Fahrt im leichten Wagen, die anfangs zitiert wurde, setzt sich so fort:

Doch unten, unterm Regenbogen tief,

Ganz fern im Süden: quirlt dort eine Masse?

Lebendig wirds, wo eben Alles schlief.

Was krabbelt da? Bald eine schwarze? blasse?

Verschwommne? klare Richtung? Seltsamkeit?

Was nähert sich auf meiner schmalen Gasse?

Nun schrumpft es ein, dann wird es wieder breit.

Sinds Menschen? Tiere? Wie sichs vorwärts schiebt!

Was springt denn vor? Fast wie zum Flug bereit!

Nun quetscht sichs eng zum Ball. Dann wie zersiebt.

Ich werd nicht klug aus dieser Quallengruppe.

Wie Alles wieder auseinander stiebt!

Da springt ein Panther aus der Nebelsuppe.

Was? Endlich wird es meinen Sinnen klar:

Natürlich eine Tier- und Tänzergruppe.

Zwei Männer. Ihnen folgt ein Löwe gar

Und, hungerdürr wie durch die Winteröde,

Ein Wolf noch. Oder Wölfin? Sonderbar,

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Mein alter Jägerblick verläßt mich schnöde.

Wer sind die Männer bloß? Der eine hinkt,

Der andere geht hochauf. Mein Blick wird blöde:

Das ist … ja …. nein … ob mir das Tollhaus winkt?

Was? Hier im Dunst auf meinem Winterdeich,

Wo silbern, fern im Watt der Seehund blinkt.

Wie? Hier in meinem ewigen Regenreich,

Wo nie ein Ölbaum in der Sonne brannte,

Wo feucht die Birken tropfen, nebelweich,

Im Lande der Barbaren find ich – Dante?

Und neben ihm? Das ist doch nicht Virgil,

Der da herhumpelt an der Wasserkante?

Die Feder sträubt sich meinem Gänsekiel:

Ich sehe Byron! Arme Oberlehrer,

Euch schaudert wohl bei diesem Gaukelspiel,

Des klaren, zierlichen Virgils Verehrer!

Kann ich dafür? Er ist mir ennuyant,

Er ist mir komisch wie ein Pudelscherer.

Oh, jetzt erkenn ich all den bunten Tand:

„Das muntre Pardeltier“, des Löwen „Wut“,

Der magern Wölfin gierigen Wünschebrand.

Und vor mir steht der Zug: Daß all mein Blut

Zum Herzen stößt in wirbelnder Erregung,

Und ganz entstürzen will mir Mark und Mut.

Und mir entstürzt auch jede Überlegung,

Nur, wie sichs ziemt vor so erlauchten Geistern,

Verneig ich mich mit ruhiger Bewegung.

Und warte, bis mich einer von den Meistern

Anredet, und inzwischen steh ich starr,

Kann aber meine Neugier kaum bemeistern.

Und fühle mich ein wenig hier als Narr,

Und warte weiter, wer den Speech beginnt,

Und komm mir vor, als war ich ein Scholar.

Und Dante fragt mich finster: „Menschenkind,

Wer bist du?“ Ich: „Du hast noch nie gelogen:

So geb ich Antwort dir aus dir geschwind:

Und wer durchs Leben ruhmlos hingezogen,

Der läßt nur so viel Spur in dieser Welt,

Wie in den Lüften Rauch, Schaum in den Wogen.“

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Und Dante lächelt: „Wenns sich so verhält,

Da will ich deinen Weg nicht weiter stören,

Langweilig ist mir solch ein fader Held.“

„Halt, bitt ich, laß mich eins noch von dir hören:

Du warst mit deinem Urteil oft zu strenge,

Das muß mich immer wieder sehr empören.“

Und Dante sprach: „Als ich noch durch die Enge

Der vollen Lebensgassen friedlos schritt,

Fiel mir am meisten auf im Volksgedränge:

Neid, Haß und Geiz, der Streber, der Bandit,

Bestechlichkeit, die Lüge und das Laster;

Ich sah, daß Gold allein den Sieg erstritt.“

In die, wenn man so will, lyrisch-naturalistische Stimmungsmalerei, die, bei allen Störungen, doch ihre Einheit wahrt, dringt also etwas völlig Fremdartiges ein. Der Ich-Erzähler sieht plötzlich, surreal in der schleswig-holsteinischen Küstenlandschaft, Dante, Vergil und Byron. Ist das als Vision gemeint? Versucht er nur, die autobiographische Reimerei durch großartigstes Bildungsgut zu beleben? In welchem Verhältnis steht die poetische Realität der geschilderten Deichfahrt zu diesem Auftritt der drei literarischen Erzheiligen?

Nun, zunächst tritt ein Erinnerungseffekt ein. Liliencron reagiert hier auf etwas, das auch sonst in der ihm zeitgenössischen Literatur und Kunst allenthalben sein Echo hat. Dante und seine Divina Comedia spielen eine gewisse Leitrolle in der Literatur der Jahrhundertwende. Stefan George, lyrischer Gegenpol zu Liliencron in Deutschland, erklärte Dante ausdrücklich zum Vorbild der Dichtung schlechthin. Hat sich etwas davon bei Liliencron im Poggfred niedergeschlagen? Zum Vergleich der Anfang der Georgeschen Übersetzung der Göttlichen Komödie:

Details

Seiten
560
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631850800
ISBN (ePUB)
9783631850817
ISBN (MOBI)
9783631850824
ISBN (Hardcover)
9783631817742
DOI
10.3726/b18203
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Konservative Moderne Dadaismus Expressionismus Literaturtheorie Naturalismus Avantgarde
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 560 S.

Biographische Angaben

Helmut Heißenbüttel (Autor:in) Hans-Edwin Friedrich (Band-Herausgeber:in)

Der Autor Helmut Heißenbüttel (1921–1996) war einer der wichtigsten Vertreter der Neoavantgarde nach 1945. Er wurde ausgezeichnet u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Hörspielpreis der Kriegsblinden und war als Kritiker, Essayist sowie Redakteur und Leiter der Redaktion «Radio-Essay» im Süddeutschen Rundfunk einer der einflussreichsten Beobachter des Literaturbetriebs der Bundesrepublik. Heißenbüttel lebte seit Anfang der 1980er Jahre bis zu seinem Tod bei Glückstadt an der Elbe. Der Herausgeber Hans-Edwin Friedrich ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Literatur des 18.–21. Jahrhunderts, Avantgarden, nichtkanonisierte Literatur, Arno Schmidt, Peter Rühmkorf.

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Titel: Späte Schriften zur Literatur. Teil 1: Zur Literatur der Moderne und zur Literaturgeschichte
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