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Timur Kibirovs dichterisches Werk in seiner Entwicklung (1979–2009)

Ringen um Werte in einer Zeit der Umbrüche

von Marion Rutz (Autor:in)
©2018 Dissertation XIV, 438 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Ein Paradigmenwechsel Mitte der 1990er Jahre hat in der Slavistik die Gegenwartsliteratur als Thema etabliert, allerdings betraf er vor allem die postmoderne Prosa. Die Dichtung (Lyrik) erfuhr lange Zeit wenig Aufmerksamkeit. Diese Arbeit stellt einen der wichtigsten russischen Dichter der letzten Jahrzehnte vor: Timur Kibirov (*1955). Kibirovs Verstexte sind ein Seismograph der gesellschaftlichen Prozesse im spät- und postsowjetischen Russland. Immer wieder fragen sie nach moralischen, ästhetischen und religiösen Werten. Sie suchen nach einem Mittelweg zwischen den Extremen der ideologischen Verfestigung und des postmodernen Relativismus, ob sie in konzeptualistischer Manier sowjetische Ideologie dekonstruieren oder postmodern für Moral und Glauben agitieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Autoren
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1. Kanonisierungsindikatoren, Forschungsüberblick, Fragestellung
  • 1.2. „Staatsbürgerliche“ Thematik und Gesellschaftsbezug bei Kibirov
  • 1.3. Intertextualität bei Kibirov
  • 1.4. Terminologisches („Bezugstexte“, „Sprecher“)
  • 1.5. Theoretische Verortung und Aufbau der Arbeit
  • 2. Grundlagen
  • 2.1. Publikationskontexte und -geschichte
  • 2.1.1. Kanonische Ausgaben im Vergleich
  • 2.1.2. Drei Öffentlichkeiten
  • 2.1.3. Kaukasus und Календарь
  • 2.1.4. Durchstarten nach 1990 und Normalität
  • 2.1.5. Sonderausgaben
  • 2.2. Gliederung in Schaffensperioden
  • 2.3. Kibirov und die Konzeptualisten
  • 2.3.1. Kibirov als Schüler
  • 2.3.2. Annäherungen an den Konzeptualismus (Kosuth, LeWitt, Grojs, Ėpštejn)
  • 2.3.3. Der Konzeptualismus aus der Sicht zentraler Akteure (Prigov, Rubinštejn)
  • 2.3.4. Kibirovs Ansatzpunkte
  • 2.4. Kapitelresümee
  • 3. Komische Sowjet-Dekonstruktionen
  • 3.1. Werkkontext: Poetologische Reflexionen
  • 3.2. Der doppelte Boden der Hagiographie: Когда был Ленин маленьким
  • 3.2.1. Historisch-literarischer Hintergrund: Leninkult und Leninkritik
  • 3.2.2. Prätexte und Überblick
  • 3.2.3. Spielerische Tabubrüche
  • 3.2.4. Subversive Symboliken
  • 3.2.5. Alternative Kausalitäten
  • 3.3. Die Prägung einer Mythosparodie: Жизнь К. У. Черненко
  • 3.3.1. Die Černenko-Threnoi
  • 3.3.2. Literarischer Hintergrund: Schreiben über die Führer
  • 3.3.3. Topoi und Simulacra
  • 3.3.4. Intimitäten und Problemstellen
  • 3.3.5. Die Abrechnung mit der Sowjetliteratur
  • 3.4. Kapitelresümee
  • 4. Perestrojka-Perspektiven
  • 4.1. Auswege aus der sowjetischen Gegenwart: Рождественские аллегории
  • 4.1.1. Die christliche Alternative
  • 4.1.2. Vier Fallbeispiele
  • 4.1.3. Die generalisierenden nationalen Mottos
  • 4.1.4. Emotive Perspektivierung und lyrische Katharsis
  • 4.2. Kathartische Retrospektive: Сквозь прощальные слезы
  • 4.2.1. Einordnung in den Geschichtsdiskurs
  • 4.2.2. Die Gesamtperspektive: emotionale Trennung und pietätvolle Beisetzung
  • 4.2.3. Das Narrativ ‚Tragödie‘
  • 4.2.4. Fünf Konfliktfelder der Sowjetgeschichte
  • 4.2.5. Kollektives Erinnern, individuelle Kommentierung, persönliches Einfühlen
  • 4.2.6. Vergleichstext im Stil Prigovs: Любовь, комсомол и весна
  • 4.3. Kapitelresümee
  • 5. Künstlerische Neuausrichtung: Feindbilder und Vorbilder
  • 5.1. Poetische Wende: Das Vorwort zum Buch Стихи о любви
  • 5.1.1. Polemische Abgrenzungen gegen die Perestrojka-Literatur
  • 5.1.2. Jenseits der staatsbürgerlichen Pflicht: von der Leier zur Hirtenflöte
  • 5.2. Legitimationsbestrebungen des Untergrunds: Versbrief an „Miša“ Ajzenberg
  • 5.2.1. Unversöhnte Feinde: андеграунд vs. шестидесятники
  • 5.2.2. Fraternisierung mit Mandel’štam
  • 5.2.3. Auf den Spuren Sumarokovs
  • 5.3. Antiromantik als neue Maxime: К вопросу о романтизме
  • 5.3.1. Zur Orientierung: Termini, Werkkontext, Textgestalt
  • 5.3.2. Im Brennpunkt: Aleksandr Blok
  • 5.3.3. Die Spannbreite des Romantischen
  • 5.3.4. Positive Projektionen: das „apollinische“ Puškin-Bild
  • 5.4. Kapitelresümee
  • 6. Die Entfaltung Des Anti-Romantischen Programms
  • 6.1. Puškin als Konservativer: das Buch Послание Ленке и другие сочинения
  • 6.1.1. Antiromantische Facetten in den Versbriefen an Gandlevskij und Pomerancev
  • 6.1.2. Die Mottos: Selbstbespiegelung durch Puškin und seinen moralisch-erbaulichen Roman Капитанская дочка
  • 6.1.3. Puškin als „Spießer“
  • 6.2. In Deržavins Spuren: das Buch Парафразис
  • 6.2.1. Deržavin’sche Bezüge im Zyklus Памяти Державина
  • 6.2.2. Deržavins rurales Idyll als Vorlage: История села Перхурова
  • 6.2.3. Die Verbindung von Ironie und Ernst: Молитва
  • 6.3. Die Tochter als Katalysator der Postmodernekritik: Sonette an Saša Zapoeva
  • 6.3.1. Iosif Brodskij als Repräsentant der Postmoderne
  • 6.3.2. Timur Kibirovs (neosentimentalistische) Gegenposition
  • 6.3.3. Die Selbstrelativierung durch die Nabokov-Allusionen
  • 6.4. Kapitelresümee
  • 7. Reaktionen Auf Die Postmoderne
  • 7.1. Die Kritik aktueller philosophisch-philologischer Modelle (Интимная лирика)
  • 7.1.1. Das Literaturverzeichnis als unausgeschöpfte Quelle
  • 7.1.2. Distanzierung vom Bachtin’schen Karneval
  • 7.1.3. Bekenntnis zum Phallogo- und Literaturzentrismus
  • 7.1.4. Sackgassen der poststrukturalistischen Lektüre
  • 7.2. Die Kritik des (post-)modernen ennui: Auseinandersetzung mit Baudelaire
  • 7.2.1. Intertextuelle Hintergründe: Baudelaire, Cvetaeva
  • 7.2.2. Die moderne Befindlichkeit als pubertäre Krise
  • 7.2.3. Postmoderne Implikationen
  • 7.2.4. Die Anbindung an das christlich verankerte Weltbild
  • 7.3. Die Postmoderne als kreative Herausforderung (Amour, exil…)
  • 7.3.1. Umberto Eco und andere: die Sekundaritäts-Problematik am Beispiel der Liebe
  • 7.3.2. Variationen des Ewig-Gleichen
  • 7.3.3. Rückbindung an die (fiktionale) Realität: die Adressatin
  • 7.4. Kapitelresümee
  • 8. Die Englische Literatur: Inspiration und Legitimation
  • 8.1. Anglophilie und Heimatdiskurs: Русская песня. Пролог (Сантименты)
  • 8.2. Postmodernes Spiel aus dem Geiste der nicht-didaktischen Kinderliteratur
  • 8.2.1. Humpty Dumpty & Šaltaj-Boltaj: Intertextuelle Überlagerungen
  • 8.2.2. Autobiographische Projektionen
  • 8.2.3. Spielerisches Untergangsszenario
  • 8.2.4. Die antididaktische Literatur als Traditionslinie
  • 8.3. Die Auseinandersetzung mit A. E. Housman (На полях «A Shropshire Lad»)
  • 8.3.1. Leserlenkende Selbstauslegung: das auktoriale Vorwort
  • 8.3.2. Aktualisierung und Personalisierung
  • 8.3.3. Konträre Weltanschauungen
  • 8.3.4. (Überraschende) Gemeinsamkeiten
  • 8.4. Weltanschauungen im nationalen Wettstreit: Баллады поэтического состязания
  • 8.4.1. Walter Scott und der englisch-französische Gegensatz
  • 8.4.2. Intertextueller Anlass und Wahl der Gattungen
  • 8.4.3. Für und wider Nietzsche
  • 8.4.4. Kibirov als Ivanhoe und weitere Ritter-Motive
  • 8.5. Literatur und Religion (Греко- и римско-кафолические песенки и потешки)
  • 8.5.1. Das christliche Gesamtkonzept
  • 8.5.2. Christliche Poetiken im Vergleich: Kibirov und Dorothy L. Sayers (Texte, Cover)
  • 8.5.3. C. S. Lewis: Christliche Botschaft in literarischer Form
  • 8.5.4. Natalʼja Trauberg und die christliche Intelligenzija
  • 8.6. Dickens vs. Gogolʼ und die Frage nach Europa: Лиро-эпическая поэма
  • 8.6.1. Der intertextuelle Ausgangspunkt: Dickens, Chesterton, Мистер Пиквик в России
  • 8.6.2. Ambivalentes Vorbild Gogolʼ und slavophile Dimensionen
  • 8.6.3. Vom anglophilen Projekt zur Englandkritik
  • 8.7. Kapitelresümee
  • 9. Rekapitulation und Forschungsperspektiven
  • Резюме (На Русском Языке)
  • Literaturverzeichnis

1. EINLEITUNG1

Ein Paradigmenwechsel Mitte der 1990er Jahre hat in der deutschsprachigen Slavistik die Literatur der Gegenwart als Forschungsbereich etabliert, sich allerdings v. a. der neuen Prosa angenommen. Die zeitgenössische Dichtung erfuhr lange Zeit weit weniger Aufmerksamkeit. Einem breiteren wissenschaftlichen Publikum sind eigentlich nur die Konzeptualisten bekannt, die den Zusammenbruch der sowjetischen Utopie literarisch spiegelten, sich in das Paradigma der internationalen Postmoderne einpassten und auch Gedichte verfassten. Die vielseitigen Generationen nach Dmitrij Aleksandrovič Prigov (1940–2007) und Lev Rubinštejn (*1947) – hinzunehmen könnte man Vsevolod Nekrasov (1934–2009) – sind wenig erforscht. Allerdings hat die Dynamik in den letzten Jahren international zugenommen. Im deutschsprachigen Raum hat sich die neueste russische Dichtung u. a. zu einem Forschungsschwerpunkt der Trierer Slavistik entwickelt.2 In diesem Umfeld entstand vorliegende Arbeit zu einem der wichtigsten russischen Dichter der vergangenen drei Jahrzehnte: Timur Kibirov (so das literarische Pseudonym von Timur Jur’evič Zapoev3), geboren 1955. Was sein Werk auszeichnet und insbesondere für die Auslandsslavistik zu einem lohnenden Gegenstand macht, sind die sich mittlerweile über einen ansehlichen Zeitraum in Verstexten manifestierenden Beobachtungen und Kommentierungen der Entwicklungen der spätsowjetisch-postsowjetischen Gesellschaft, die sich inmitten einer Fülle von Kulturzitaten verschiedenster Provenzienz realisieren. Gemeinsamer Nenner vieler Texte ist dabei die Frage nach den moralischen, ästhetischen, religiösen Werten, die sich bald als Demontage sowjetischer Ideologeme, bald als kritische Reflexion postsowjetischer intellektueller Trends, bald als Aufstellen von eigenen Wertesystemen manifestiert. Dekonstruktion wie auch Konstruktion vollziehen sich vor dem Hintergrund der sich in der russi ← 1 | 2 → schen Literatur entfaltenden literarischen Postmoderne, die in Kibirovs Gedichten der 1990er auch explizit als Bezugssystem diskutiert wird.

Von der Frage nach dem Ringen um Werte ausgehend Kibirovs Werk und dessen kulturgeschichtliche Bedeutung zu erfassen, ist das Ziel vorliegender Untersuchung. Es handelt sich um die erste umfangreichere Arbeit zu diesem Klassiker der Gegenwart außerhalb Russlands.

Das Einleitungskapitel fragt zunächst grundsätzlich nach Kibirovs Status als Gegenwartsautor; zu diesem Zweck werden verschiedene Indikatoren für eine (zumindest vorläufige) Kanonisierung herangezogen. Ein wichtiges Einzelereignis war ein Literaturskandal in den Jahren 1989/1990, auf den auch die ersten philologischen Untersuchungen zurückzuführen sind. Ausgehend von einem umfassenden und systematischen Forschungsüberblick werden anschließlich Innovativität und Relevanz der eigenen Fragestellung dargelegt sowie Parallelen zu vorhandenen Ansätzen vermerkt (Kap. 1.1). Weitere Unterkapitel führen in zwei für die Arbeit zentrale Themenkomplexe ein: Zum einen werden die im Werk artikulierten Positionen zur Tradition der sog. „staatsbürgerlichen Dichtung“ (гражданская поэзия oder лирика) und die sich verändernde Bedeutung politischer Themen betrachtet (Kap. 1.2). Zum anderen wird das für Kibirovs Schreibweise wohl charakteristischste Verfahren erörtert: der außerordentliche Reichtum an Zitaten und Anspielungen. Die Relevanz von Intertextualität manifestiert sich dabei auch explizit in poetologischen Gedichten. Weiterhin werden theoretische Positionen der literaturwissenschaftlichen Intertextualitäts-forschung skizziert und ihre Anwendbarkeit auf Kibirovs Texte diskutiert (Kap. 1.3). Das Einleitungskapitel schließt mit einer allgemeinen literaturtheoretischen Verortung der eigenen Fragestellung und Arbeitsweise sowie einem Überblick über das gewählte Vorgehen und den Aufbau des Buches (Kap. 1.4). ← 2 | 3 →

1.1.     KANONISIERUNGSINDIKATOREN, FORSCHUNGSÜBERBLICK, FRAGESTELLUNG

Das Œuvre des Moskauer Autors, der während der Perestrojka, in der Endphase des literarischen Untergrunds, debütierte, umfasst in dem als äußerste zeitliche Grenze vorliegender Untersuchung gesetzten Jahr 2014 21 als künstlerische Einheiten konzipierte Gedichtbücher (im Sinne des Terminus книга стихов, ausführlicher S. 37). 2010 erschien ein erster Roman (Лада, или Радость), 2014 ein ebenfalls über die Dichtung i. e. S.4 hinausgreifendes Buch mit „musikalisch-dramatischen“ Stücken (Муздрамтеатр).5 Kibirovs Werke werden seit Mitte der 1990er Jahre regelmäßig in den auflagenstärksten Literaturzeitschriften und in bekannten Poesie-Verlagen gedruckt. Die positive Wertung der Literaturszene und der mit ihr eng vernetzten Literaturkritik lässt sich an Auszeichnungen und Stipendien ablesen, wobei vier Preisen in ihrem jeweiligen Kontext eine besondere Bedeutung zukam:6 dem mit 40 000 DM dotierten Puškin-Preis der deutschen Alfred-Töpfer-Stiftung, den Kibirov 1993 zusammen mit Dmitrij Aleksandrovič Prigov entgegennahm; dem russischen Anti-Booker in der Sparte ‚Dichtung‘ (1997); dem Italien-Stipendium des Joseph Brodsky Memorial Fellowship Fund (2000) und schließlich dem seit 2005 verliehenen, finanziell einträglichen Preis Поэт (2008).7 Auch die Präsenz seiner Texte in einer großen Zahl von in- und vor allem ausländischen Anthologien spiegelt Popularität und Renommee. Es gibt u. a. Übersetzungen ins Deutsche, allerdings kein separates ← 3 | 4 → Buch.8 In der umfassenden Auswertung von Gedichtsammlungen, Literaturgeschichten und ähnlichen Quellen, die Robert Hodel seiner Meta-Anthologie mit zwischen 1940 und 1960 geborenen russischen Dichterinnen und Dichtern zugrunde legte, teilt sich Kibirov mit Ol’ga Sedakova den 3. Platz hinter Iosif Brodskij und D. A. Prigov.9

Ein weiteres Indiz für eine fortschreitende Kanonisierung ist die Präsenz des Dichters in russischen biographischen Nachschlagewerken10 und in englischsprachigen Lexika.11 Für die langfristige Rezeption spielen Literaturgeschichten und die durch sie vorgeschlagenen Einordnungen in umfassendere Zusammenhänge eine große Rolle. Kibirov wird in allen russischsprachigen Überblicksdarstellungen behandelt, die Gegenwartsdichtung (ab ca. 1990) berücksichtigen und ← 4 | 5 → sich nicht auf Segmente des Feldes beschränken, die ihn per se ausschließen.12 Dabei wird er in der Regel in den Kontext von Postmoderne und/oder Konzeptualismus/Soz-Art eingeordnet.13 In der westlichen Slavistik ist der Dichter ebenfalls bekannt, steht jedoch eher im Hintergrund: In der Metzler’schen Literaturgeschichte wird Kibirov im Umfeld des Konzeptualismus erwähnt,14 Reinhard Lauer ordnet ihn (nicht ganz überzeugend) als einen dem „Arion-Kreis“ zugehörigen Dichter ein15 und in Stephanie Sandlers Überblick taucht der Name mehrfach passim auf.16

Neben solchen allgemeinen Daten zum Stand der Kanonisierung lässt sich ein konkreter Zeitpunkt bestimmen, zu dem Kibirov in kurzer Zeit einem größeren Publikum bekannt wurde und das Interesse von Philologen erregte. Auslöser für diesen ersten Kanonisierungsschub war sein Poem Л. С. Рубинштейну, dessen Publikation in der lettischen Sowjetrepublik und später in der Leningrader Presse als Skandal empfunden wurde. Am 21.08.1989 waren Ausschnitte des ← 5 | 6 → umfangreichen Verstextes in Atmoda (‘Erwachen’), dem halblegalen „Informationsbulletin“ (информационный бюллетень) der Volksfront Lettlands, erschienen.17 Die Publikation nicht-standardsprachlicher Lexik im Rahmen eines Gedichts ohne euphemistische Synonyme oder Auslassungen (...) rief nicht nur eine polemische Notiz in der Pravda hervor,18 sondern ebenfalls die Rigaer Behörden auf den Plan. Offiziell wurde von der Prokuratur der Lettischen Sowjetrepublik die Aufnahme eines Strafverfahrens wegen „minderschwerem Rowdytum“ (мелкое хулиганство) gegen die Redaktion erwogen und zehn Experten aus verschiedenen Disziplinen um Gutachten zur Feststellung des Tatbestandes gebeten.

Bei einigen der angeschriebenen Experten handelte es sich um angesehene Philologen, die, teils am Anfang der 1990er Jahre, teils später, in wissenschaftlichen Publikationen auf Kibirov eingingen: 1990 stellte Aleksandr Iljušin (MGU) seine Stellungnahme zu den vier Leitfragen der Rigaer Behörde an das Ende eines Aufsatzes.19 2007 gab sich der vielseitige Linguist Jurij Stepanov vom Institut für Sprachwissenschaft als weiterer Gutachter zu erkennen.20 (Stepanov gestattete mir im gleichen Jahr einen Einblick in das ihm als Gutachter zugeschickte Material.) Kibirov nannte in einem persönlichen Gespräch Michail Gasparov als weiteren Experten, was ein bei Zolotonosov erwähntes Interview bestätigt.21 In der Sekundärliteratur ist weiterhin die Rede von Evgenij Toddes, ← 6 | 7 → der 1990 in einem Artikel auf die Skandalpublikation einging.22 Toddes’ Name findet sich nicht auf der der Anfrage der Prokuratur beigelegten Gutachterliste in Stepanovs Unterlagen. Allerdings erinnert die Einleitung von Toddes’ Text an die Fragen der Staatsanwaltschaft, so dass offen bleibt, inwieweit er vielleicht doch – etwa als Ersatzkandidat – in das Verfahren einbezogen war.

Obwohl Toddes, Iljušin und weitere Kommentatoren sich auf die Frage nach der Angemessenheit von „obszöner Lexik“ im literarischen Text und auf die Publikation als kulturgeschichtlichen Wendepunkt konzentrierten, ging es bei der Affäre um mehr als Fragen des Geschmacks oder das Verständnis von „guter“ Literatur. Kibirovs Text erschien in einem politisch sensiblen Kontext. In der gleichen Nummer von Atmoda, die kurz vor dem 50. Jahrestag des Molotov-Ribbentrop-Paktes herauskam (23. August 1939 bzw. 1989, siehe Abb. 1), finden sich beispielsweise ein Entwurf für die Konstitution einer unabhängigen Lettischen Republik sowie ein Leitartikel, der faschistische und sowjetische Okkupation gleichsetzt. Kibirovs Poem wurde stark verkürzt (siehe Abb. 2) und verkündet in dieser Form die klare Botschaft vom Zusammenbruch der Sowjetunion, die so im Original nicht vorhanden ist. Л. С. Рубинштейну wurde als weitere Waffe für den Kampf um die Abspaltung bzw. Unabhängigkeit instrumentalisiert. Entsprechend zielte die Reaktion der Behörden weniger auf den Autor als auf die Redaktion des Printorgans der Lettischen Volksfront (Aleksej Grigor’ev sowie seinen Stellvertreter Vladimir Linderman) und hatte somit durchaus eine politische Stoßrichtung.23

Man fragt sich, ob eine bestimmte (antiseparatistische) Gruppe hinter der Anzeige stand und wie groß das Interesse der Behörden an einer Strafverfolgung war, da zumindest mit Iljušin, Stepanov und Gasparov wohlwollende Experten ausgewählt wurden. Im Februar 1990 benachrichtigte die Prokuratur die Gutachter von der Einstellung des Verfahrens. (Schon am 4. Mai 1990 sollte der Oberste Sowjet der Lettischen SSR die Unabhängigkeit proklamieren.) ← 7 | 8 →

Obwohl Michail Zolotonosov, der nach Verfahrensende die Publikation des Poems in der Leningrader Zeitung Čas pik initiierte,24 2010 eine Monographie zu Л. С. Рубинштейну und den Hintergründen von Publikation und Rezeption ← 8 | 9 → veröffentlichte,25 bleibt bzgl. des baltischen Kontextes einiges offen. Für Zolotonosov erhielt der Text erst durch die Publikation in Čas pik seine kulturgeschichtliche Bedeutung, er schreibt als Zeitzeuge aus russischer Perspektive.

Ausgelöst durch das Skandal-Poem setzte früh die erste Phase einer literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Kibirovs Werk ein. Inzwischen gibt es – vor allem in Russland – relativ viele Studien, meist kürzere (und wohl kurzlebige) Tagungsbeiträge. Neben einigen umfassenderen Aufsätzen sind an Literatur v. a. Zolotonosovs schon erwähnter Kommentar im Buchformat sowie die drei Dissertationen von Dmitrij Bagrecov (2005), Ekaterina Visnap und Roza Nurmuchamedova (beide 2008) zu nennen.26 Im englisch- und deutschsprachigen Raum kommt man auf ein Dutzend Aufsätze und Artikel, die eigenen Publikationen nicht mitgerechnet. Die Forschung – literarturkritische Artikel und Rezensionen sind in folgender Übersicht nur am Rande berücksichtigt – kreist um eine Handvoll Themen:

1. „Obszöne“ Lexik. Am Anfang der philologischen Beschäftigung steht das Interesse an Kibirovs Tabubrüchen und ihrer Einordnung in den kulturgeschichtlichen Kontext. 1990 gibt Aleksandr Iljušin einen Überblick über die Verwendung von Jargon (мат) in der Literatur und klassifiziert Kibirovs Text dabei, wie erwähnt, als legitim. Zeitgleich äußert sich Toddes in einem vierseitigen publizistischen Artikel zur Angemessenheit der „obszönen“ Sprache, 1991 bezieht Zolotonosov ähnlich Stellung.27 Beide problematisieren dabei v. a. die Vorstellungen der sowjetischen Leserschaft von „guter“ Literatur. Die Frage nach dem Kulturbruch steht auch hinter Zolotonosovs Monographie von 2010, die Л. С. Рубинштейну samt historischem Kontext ausführlich, aber subjektiv, kommentiert.28 Andrej Zorin sieht in Kibirovs Poem sogar den Moment, in dem nach der politischen und ästhetischen auch die moralische Zensur zu fallen begann.29 ← 9 | 10 →

2. Kommentierung lebensweltlicher Realien. Ähnlich wie Jurij Stepanov30 und Zolotonosov, der in seinem Buch zahlreiche in Л. С. Рубинштейну erfasste Realien und Zitate erläutert, haben weitere Wissenschaftler erkannt, dass Kibirovs Frühwerk zunehmend der Kommentierung bedarf. I. L. Fal’kovskij unternahm 1997 in Kooperation mit dem Dichter eine Aufschlüsselung des Poems Лесная школа.31 Nikolaj Bogomolov wies auf die Grenzen dieses Auto-Kommentars hin und stellte neben die auktorialen Erläuterungen die eigenen.32 Einen methodologisch und technisch innovativen Versuch zur Fixierung der entschwindenden semantischen Kontexte unternahm Oleg Lekmanov mit einem kollektiven Blog-Kommentar zum Prolog von Сквозь прощальные слезы.33 In Richtung einer Intertextualitätsanalyse im engeren Sinne, die auf Literaturzitate fokussiert, geht E. V. Markasova.34 I. S. Skoropanova erläutert in ihrem Postmoderne-Lehrbuch ebenfalls einige zentrale Referenzen des zitatdichten Textes Сквозь прощальные слезы,35 mit dem sich in auch Katharine Hodgson beschäftigte.36 ← 10 | 11 →

3. Intertextualitätsanalysen. Die Analyse einzelner Texte, bestimmter Textensembles oder auch des Gesamtwerks auf die dialogische Auseinandersetzung mit bestimmten literarischen Vorgängerinnen und Vorgängern oder bestimmten intertextuellen Formationen hin hat sich zu der wohl populärsten und produktivsten Fragestellung innerhalb der Kibirov-Forschung entwickelt: Tat’jana Čeredničenko beschäftigte sich mit Lied-Zitaten,37 Nikolaj Bogomolov und Oleg Lekmanov mit dem Verhältnis zu den sog. Barden.38 Es gibt zwei Skizzen zu Esenin-Bezügen (die allerdings kaum am Text arbeiten);39 als Dialog mit Čechov wurde Kibirovs Positivwertung des Spießertums behandelt.40 Auffallend viele Beiträge behandeln die Puškin-Bezüge in den Büchern der 1990er Jahre.41 ← 11 | 12 → Selten thematisiert wurden dagegen Bezugnahmen auf Zeitgenossen wie Sergej Gandlevskij42 sowie auf jüngere Klassiker wie Iosif Brodskij43 oder Vladimir Nabokov.44 Ljudmila Zubovas Kibirov-Kapitel untersucht schließlich Intertextualität als zentrales Merkmal seines Schaffens und unter Berücksichtigung exemplarischer Gedichte.45

Den bislang wichtigsten Beitrag zu den intertextuellen Referenzen sowie zum Werk im Ganzen stellt die Ekaterinburger Dissertation von Dmitrij Bagrecov dar, die ausgehend von den Schlüsselbegriffen „schöpferische Individualität“ und „Intertextualität“ eine Vielzahl von Aspekten behandelt – darunter Kibirovs Verhältnis zu Puškin („Autorität“), Blok („Opponent“) und den Akmeisten („Vorgänger“).46

4. Postmodernizität. Neben den Intertextualitätsanalysen ist Kibirovs Zugehörigkeit zur Postmoderne ein Thema, das in vielen Arbeiten wiederkehrt. Die Untersuchungen, die diese Frage ins Zentrum stellen, sind allerdings meist kurz, allgemein gehalten und unzureichend durch Analysen oder Textbelege gestützt.47 Einen ungewöhnlichen Fokus wählte Gurtueva, die den Moskauer Dichter Mitte der 1990er in die russischsprachige postmoderne Dichtung des ← 12 | 13 → Nordkaukasus einordnet.48 Zu Kibirovs Postmodernizität haben sich aber auch bekannte Forscher geäußert: Michail Gasparov nennt die Resemantisierung bestehender poetischer Formen als wichtige Entwicklungstendenz der aktuellsten Dichtung und führt Timur Kibirov (sowie Lev Rubinštejn) als Beispiel an.49 Er vermeidet zwar den Begriff, dennoch ist die von ihm beobachtete offene Zitation fremder Metren in das Postmoderne-Paradigma einzuordnen. Willem Weststeijn klassifiziert Kibirov explizit als Konzeptualisten, nennt seine Schreibweise (Karnevalismus, Zitathaftigkeit) explizit postmodern, sieht in dem Vorhandensein einer eigenen Stimme allerdings eine Abweichung.50 In den schon erwähnten Lehrbüchern mit Postmoderne-Fokus werden insbesondere bei Lejderman/Lipoveckij postmoderne und nicht-postmoderne Charakteristika erörtert (siehe Kap. 7, Fn.891, S. 271).

Rutten zählt Kibirov in ihrer gerade erschienenen Monographie zu den Vertretern der „Neuen Aufrichtigkeit“ (New Sincerity, Новая искренность),51 einem in der russischen Kultur sowie international zu beobachtenden Trend, der sich gegen die Postmoderne positionierte und oft als deren Ablösung verstanden wird. Rutten plädiert dabei dafür, New Sincerity nicht generell als ‚post ← 13 | 14 → postmodern‘ einzuordnen, sondern als genuines Thema der (russischen) Postmoderne zu verstehen.52 Kibirov wird mehrmals beiläufig erwähnt53 und sein Werk würde diese These stützen. Im Zentrum der Untersuchung stehen allerdings Prigov, Sorokin sowie die Neuen Medien.

5. Stilistik und Verfahren. Eine Reihe von weiteren Studien beschäftigt sich mit Besonderheiten der Sprache und Schreibweise. Zubova berücksichtigt in ihrer Monographie zu sprachlichen Archaismen in der Gegenwartsdichtung auch Texte von Kibirov54 und sichtet sein Werk in einem Aufsatz aus sprachgeschichtlicher Perspektive.55 Babenko untersucht die Präsenz von Fachlexik u. a. bei Kibirov.56 Mit bestimmten literarischen Verfahren beschäftigen sich die beiden 2008 verteidigten Dissertationen: Ekaterina Visnap entwirft eine allgemeine Klassifikation der rhetorischen Mittel und illustriert am Kibirov’schen Material Funktionen von Akkumulation und Enjambement.57 Roza Nurmuchamedova fragt nach verschiedenen Formen der Realisierung von „lyrischer Subjektivität“ und konzentriert sich dabei v. a. auf Сквозь прощальные слезы.58 Auch G. M. Kolevatychs Annäherung an Kibirovs Überschriften lässt sich hier einordnen.59

6. Analyse und Interpretation spezifischer Textzusammenstellungen. Glušakova thematisiert die in Kibirovs Auswahlpublikation Избранные послания gesammelten Versepistel als literarisches Zeugnis des sowjetischen underground.60 Rogačevskaja interpretiert den Zyklus Вариации (aus Послание ← 14 | 15 → Ленке и другие сочинения) als Gang durch die lyrischen Gattungen des 18./19. Jahrhunderts.61 S. Ju. Suchanova widmet sich klassisch einer bestimmten Gattung, nämlich den Eklogen aus Kibirovs Buch Стихи о любви.62 Ellen Rutten verlässt den reinen Text und betrachtet den illustrierten Auswahlband Стихи о любви. Альбом-портрет von seiner visuellen und materiellen Seite.63

7. Historisch-zeitgeschichtliche Dimension der Texte. Insbesondere im Ausland sind Kibirovs Gedichte, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Themen und Diskussionen beschäftigen, auf Interesse gestoßen. Kevin Platt wählt in seiner Monographie von 1997, die literarische Reaktionen auf die verschiedenen russischen Revolutionen untersucht, als Schlüsseltext der Nach-Perestrojka-Zeit Kibirovs Versbrief an Sergej Gandlevskij. Ein Jahrzehnt später untersucht er post-postsowjetische Geschichtsbilder u. a. anhand von Kibirovs Poem Карабарас! (aus Kibirovs gleichnamigem Buch).64 Gregory Freidin interessiert die Konservierung der spätsowjetischen Alltagswelt (des simulakren „Potemkinland“65). Ellen Rutten streift in ihrer Dissertation Gedichte, die sich mit der Nationalitätsproblematik auseinandersetzen.66 An russischen Arbeiten gibt es neben dem Russlandkapitel in Bagrecovs Dissertation (Kap. 1.3) einen (wenig ← 15 | 16 → aufschlussreichen) Aufsatz zum Verhältnis zwischen „Fremdem“ (= Ausländischem) und „Eigenem“ in Kibirovs Buch Парафразис.67

Ebenfalls von Rutten stammt ein in Richtung Literatursoziologie weisender Beitrag. Im Rahmen ihrer Forschung zu Neo-Sentimentalist Trends in Contemporary Russian Literature bzw. zur New Sincerity deutet sie die Hinwendung von Kibirov, Prigov und Sorokin zu post-postmodernen Schreibweisen („Reclaiming the Reader“, „Reviving the Author“) als sozio-ökonomische Strategien im veränderten postsowjetischen literarischen Feld. Einige Rubriken des als Grundlage für weitere Forschung umrissenen „erweiterten CV“, den sie für Kibirov anlegen will, entsprechen den in vorliegender Arbeit in Kap. 1.1 sowie 2.1 gesammelten Eckdaten zu Kibirovs schriftstellerischem Renommee.68 Auch die Frage nach Strategien der Positionierung ist stimulierend – denn tatsächlich setzt Kibirov seit der zweiten Hälfte der 1990er sein Werk mit Hilfe der Medien in Szene. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Interviews, in denen der Autor häufig Informationen positioniert, die das Werk im Ganzen und vor allem die jeweils aktuellen Texte erläutern.

Nicht wenige der hier vorgestellten Fragestellungen lassen sich in den Themen einzelner Unterkapitel sowie in den methodologischen Prämissen vorliegender Dissertation wiederfinden. Sie haben die Untersuchung befruchtet (z. B. wird in Kapitel 4, in kritischer Auseinandersetzung mit Nurmuchamedova, auf die narrative Perspektivierung eingegangen) und eigene Überlegungen bestärkt (etwa Ruttens Interesse an Kibirovs Position im literarischen Feld). In mehreren Fällen hat die vorhandene Forschung – insbesondere in den Kapiteln ‚Kibirov und die Konzeptualisten‘ (Kap. 2.3) und ‚Kibirov und die Postmoderne‘ (Kap. ← 16 | 17 → 7) – alternative methodologische Herangehensweise gefordert, um bereits bekannte Fragestellungen aus neuen Perspektiven zu betrachten und neue Aspekte beizutragen. Ruttens Monographie zur Neuen Aufrichtigkeit lieferte schließlich – kurz vor Erstellung der Druckfassung vorliegender Arbeit – einen konzeptuellen Rahmen, in den sich Kibirovs literarische Projekte einordnen lassen.

Zentral bei den eigenen Textanalysen ist, wie in der gesamten Forschung, die Aufschlüsselung und Interpretation intertextueller Bezüge (wobei schon Erarbeitetes eher ausgespart und bislang Unentdecktes bevorzugt wurde). Punktuell spielt die „obszöne Lexik“ eine Rolle, allerdings unter dem Fokus ‚Karnevalisierung‘. Soweit möglich werden kultur- und literaturhistorische Hintergründe einbezogen, aus denen heraus Kibirovs Texte entstanden und vor denen sie wahrgenommen wurden. Als produktiv hat sich ebenfalls erwiesen, Gedichte zum einen nicht isoliert, sondern innerhalb größerer kompositorischer Einheiten (Zyklen, Bücher) zu betrachten, und zum anderen, spezifische Publikationskontexte stärker zu berücksichtigen, bis hin zur Einbeziehung von Illustrationen.

Der eigenen Arbeit besonders nahe steht der letzte im Forschungsüberblick genannte Zugang, auf den die zu Anfang getroffenen Entscheidung für Timur Kibirov (und nicht etwa Sergej Gandlevskij oder Ol’ga Sedakova) letztlich zurückzuführen ist und der die Ausrichtung der eigenen Untersuchung prägte: das genuine Interesse an Gedichten, die zeitgeschichtliche Prozesse und aktuelle gesellschaftliche Probleme thematisieren. Während die vorhandene Forschung allerdings nur Einzeltexte oder Einzelthemen betrachtet, verfolgt vorliegende Monographie die Reflexion gesellschaftlicher Prozesse und v. a. die Wertediskussionen als thematische Leitlinie durch Kibirovs Gesamtwerk. Ein vergleichbarer Zugriff auf das Œuvre als Ganzes findet sich bislang nur in Bagrecovs Monographie, die – das sei hier angemerkt – manche relevante Themen bzw. Textensembles behandelt, die in vorliegender Arbeit ebenfalls untersucht werden. Allerdings zerfällt Bagrecovs Untersuchungsgegenstand in ein Mosaik an Einzelaspekten, wobei seine Leitbegriffe „schöpferische Individualität“69 (konzeptuell prägend für sein Kap. 1) und „Intertextualität“ (Kap. 2) die zentrifugale Tendenz verstärken und Zusammengehöriges trennen (z. B. das Thema ‚Spießertum‘ vom intertextuellen Dialog mit Puškin). Kap. 3 trägt schließlich den unscharfen Titel „Современное творчество Т. Кибирова“ und umfasst thema ← 17 | 18 → tisch gänzlich heterogene Analysen. Die in vorliegender Arbeit als analytisches Raster und Gliederungsprinzip gewählte chronologische Herausarbeitung von Schwerpunkten in Kibirovs fortwährender Reflexion und Kommentierung gesellschaftlich-kultureller Entwicklungen bewirkt das Gegenteil – es kommen Ähnlichkeiten zwischen auf den ersten Blick unterschiedlichen Themen bzw. Texten zum Vorschein. Gerade die diachrone Achse ermöglicht der Leserin und dem Leser auch die grundlegende Orientierung im Werk und zeigt dessen Entwicklung auf.

1.2.     „STAATSBÜRGERLICHE“ THEMATIK UND GESELLSCHAFTS-BEZUG BEI KIBIROV

                            Я считаю, что сейчас я имею полное право встать в традиционную, может быть, даже немного смешную и дурацкую позу высокомерного отношения к политике. Пусть разбираются сами.

Timur Kibirov im Interview (1996)70

Ausgangspunkt vorliegender Untersuchung ist, wie schon erwähnt, die Beobachtung, dass Kibirovs Gedichte die historischen Peripetien, sozialen Probleme und kulturellen Verschiebungen im Russland der 1980er, 1990er und 2000er Jahre nachzeichnen, Wertediskussionen im Medium der Literatur reflektieren und auch selbst Lösungen projektieren. Diese Verarbeitung von Zeitgeschichte unterscheidet sich jedoch in ihrer Zielsetzung und literarischen Gestaltung von der in Russland kulturgeschichtlich wichtigen Tradition der sogenannten ‚staatsbürgerlichen Dichtung‘ (гражданская поэзия bzw. лирика). Obwohl Kibirov immer mit Blick auf die jeweiligen gesellschaftlichen Zustände schreibt und insbesondere das Frühwerk politisch gelesen wurde, schlüpft der Dichter nicht in die Rolle des Chronisten-und-Publizisten, der die jeweiligen aktuellen Ereignisse zeitnah vertextet und politischen Einfluss ausüben will, wie etwa Vsevolod Emelin oder Dmitrij Bykov, der während der umstrittenen Wahlen 2011 die Opposition mit dem Projekt Гражданин поэт unterstützte.71 Während Bykov über das Urteil gegen Michail Chodorkovskij vom 14.02.2011 schreibt oder Emelins Blog die Naval’nyj-Affäre kommentiert,72 meiden Kibirovs Gedichte lange Zeit ← 18 | 19 → die Tagespolitik.73 Konkrete Ereignisse der 1990er und 2000er Jahre hallen nur punktuell, stark verfremdet und verallgemeinert nach, der 2. Tschetschenienkrieg etwa in dem aus alten Losungen zusammengesetzten Gedicht Новости oder in dem antinationalistischen „Разогнать бы все народы…“ (beide im Buch Нотации, 1999).74

Ende der 1980er entstandene Gedichte distanzieren sich explizit von den literarischen Stellungnahmen zu politischen Themen, die typisch für die vorangegangene Generation – die Dichter und Schriftsteller der Tauwetterzeit – waren. Man denke nur an das sprichwörtlich gewordene Zitat aus Evgenij Evtušenkos Братская ГЭС:

        Поэт в России – больше чем поэт.

        В ней суждено поэтами рождаться

        лишь тем, в ком бродит гордый дух гражданства,

        кому уюта нет, покоя нет.75

Die literarisch-politische Publizistik der Perestrojka, die von diesen Autoren mitgetragen wurde, wird im einleitenden Manifest zu Kibirovs Gedichtband Стихи о любви (1988) abgewertet; nicht weniger polemisch ist die Abrechnung mit den sog. шестидесятники in der Versepistel Мише Айзенбергу. Эпистола о стихотворстве (Сантименты, 1989).76

Um das Paradoxon aufzulösen, inwiefern die Thematisierung politischgesellschaftlichen Geschehens einen Schwerpunkt des Werks darstellen kann, obwohl einzelne Texte sich explizit von der Tradition der Staatsbürgerlichkeit absetzen, ist zuerst einmal eine Klärung des Begriffs ratsam. Die Bedeutung von гражданская поэзия / лирика lässt sich mit den deutschen Termini ‚politische‘ oder ‚engagierte Lyrik‘ sowie dem (pejorativen) Begriff ‚Tendenzdichtung‘77 ← 19 | 20 → annähernd umreißen. Bei der Suche nach genauen Definitionen, die kulturspezifische russische Bedeutungen berücksichtigen, wird man nach langer fruchtloser Recherche in einem Band der Literaturenzyklopädie von 1925 fündig: Staatsbürgerliche Dichtung beschäftige sich mit Themen, die die gesamte Gesellschaft angehen, artikuliere Stimmungen und Empfindungen und rufe zum Handeln auf. Vorgeschlagen wird die pointierte Definition „künstlerische Publizistik in Versen“ („Таким образом Г. П. есть художественная публицистика в стихах. В этом ее сила и ее слабость“).78 Sergej Čuprinins Lexikon aktueller Termini von 2007 bietet eine ähnliche Erklärung – Texte, die sich kritisch mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinandersetzen –, berücksichtigt jedoch auch die negative Konnotation des Begriffs in spätsowjetischer Zeit. Als „staatbürgerlich“ bezeichne man Literatur, die den Geschmack der oppositionell gesinnten Bevölkerungsschichten wie auch von Staat und Partei getroffen habe und weder hyperpolitisiert noch apolitisch gewesen sei79 – also eine Art von Kompromissliteratur, die auch der Macht verpflichtet war. Čuprinin erwähnt aber auch die Anthologie Время Ч als Beispiel für eine Aktualisierung der „Tendenzdichtung“ in der jüngeren Gegenwart.80

Eben auf diesen Band mit Stellungnahmen zum Tschetschenienkrieg bezieht sich Kibirovs Gedicht По прочтении альманаха «Время Ч» (ШалтайБолтай, 2002), das kritisch den Wechsel poetischer Moden vermerkt. Während der Dichter selbst früher wegen seiner politischen Verse kritisiert worden sei („за грубый утилитаризм / и неуместный прозаизм“), schlügen nun die damaligen Kritiker eben solche Themen an. Das Gedicht stellt also zumindest Kibirovs um 2000 entstandene Texte nicht in die Tradition des literarischen Engagements. Der Sprecher stilisiert sich stattdessen mit Blick auf Lomonosovs Zyklus Разговор с Анакреонтом zum apolitischen Lyriker und bevorzugt, in Opposition zu Lomonosov und wie ursprünglich Anakreon, gegenüber der heroischen Thematik die Liebe. In Kibirovs Gedicht По прочтении альманаха «Время Ч» heißt es: ← 20 | 21 →

Spöttisch wird die staatsbürgerliche Tradition ebenfalls im Gedicht „Все-таки лучше всего…“ (Нотации, 1999) bewertet. Verweise auf zwei Fabeln ironisieren den Anspruch, Einfluss auf das gesellschaftlich-politische Leben auszuüben. Zum einen wird Krylovs gereimte Fabel Слон и моська aufgerufen, in der ein Mops (der Dichter) einen Elefanten (den Staat) anbellt. Auf die Vergeblichkeit seines Tuns hingewiesen, entgegnet das Hündchen, dass es die anderen Hunde beeindrucken wolle. Zum anderen wird der engagierte Literat mit dem übermütigen Böckchen aus Kornej Čukovskijs Kindergedicht Бебека gleichgesetzt, das von seinem Kampf mit dem Bären schreibt und sich realiter als Sieger fühlt.82

Die Tagespolitik ist lange Zeit kein primäres Anliegen Kibirovs: Wie Gorbačev und die postsowjetischen Regierungschefs ist auch Putin kein Thema. Sein Name wird in dem Gedicht „Ей же Богу…“ (Кара-барас, 2002–2005) zwar erwähnt, der Text spricht sich allerdings gegen vereinfachende Parallelisierungen wie Putin = Nikolaj I. aus, nimmt sich also aus politischen Diskussionen heraus.83 Von 1988 bis 2013 realisieren die Gedichte Themen, die weniger der Gefahr ausgesetzt sind, nach kurzer Zeit obsolet und unverständlich zu werden. Der Schwerpunkt liegt auf der poetischen Suche nach tragfähigen Fundamenten für das private und soziale Leben: allgemein-menschliche Werte, reflektierter Patriotismus, Religion. Dieser Themenkomplex mit seinem Impetus, den Verfall der Gesellschaft aufhalten zu wollen, ist trotz der Bindung an die konkrete russische Situation universell und wohl auch überzeitlich.

Kibirovs Vorwort zu dem 2013 erschienenen Auswahlband Избранные поэмы skizziert eine weitere Wortmeldung zu gesellschaftlichen Funktionen von Dichtung. Es kritisiert die stereotype Annahme, dass die russische Literatur in besonderem Maße außerliterarische Ziele verfolge, während die anderen europäischen Literaturen unpolitisch seien, sowie die binäre Opposition von engagierter vs. autonomer Kunst. Wahre Dichtung vereine stets beides, literarischen Anspruch sowie den Wunsch nach einer Wirkung auf die Leser- und die Gesellschaft:

Durch die Ukraine-Krise und die durch den Krieg forcierten Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas in Russland wurde allerdings wieder eine Hinwendung zum Politischen ausgelöst. Einige 2014 erschienene Texte Kibirovs beschäftigen sich offen mit der Tagespolitik: In dem Что все это означает? überschriebenen zweiten Teil des Buches См. выше geht es u. a. um Putin, die Partei „Einiges Russland“, die Olympischen Winterspiele in Soči, die Gesetze gegen Homosexualität und Pussy Riot. Im Buch Муздрамтеатр behandelt das erste Stück die durch den Krieg in Gang gesetzten Mechanismen in einem auf dem Themenkreis des Trojanischen Krieges aufbauenden Mini-Drama. Das Gedicht, das in См. выше den tagesaktuellen Buchteil einleitet, fasst diese erneute Wende als Herabsteigen des selbst staunenden Dichters vom Helikon:

        Гляжу я на Путина и изумляюсь,

        Гляжу на себя – изумителен сам.

        Из горных высот в дольний прах приземляясь,

        Не верю своим я глазам и мозгам.85

Verstärkt wird dieser Bruch dadurch, dass den politischen Bezugnahmen im Buch ein apolitisch-idyllischer erster Teil vorangeht, der die anakreontische Position pflegt.

In Kibirovs Werk lässt sich somit – insbesondere angesichts dieser jüngsten Entwicklungen – keine kategorische Absage an die staatsbürgerliche Thematik bzw. das politische Engagement ausmachen. Die Positionen verändern sich analog zur gesellschaftlichen Realität: von parodistischen Reflexionen sowjetischer Ideologeme, denen politische Sprengkraft innewohnte, zur Distanzierung von der omnipräsenten Politisierung der Literatur im Kontext der Glasnost’, zum Plädoyer gegen eine „asoziale“ Dichtung, und schließlich wieder zum politi ← 22 | 23 → schen Engagement. Während die Kunst in den 1990ern nicht als Ersatzöffentlichkeit dienen musste und die Postmoderne den Weg der l’art pour l’art präferierte,86 wird die staatsbürgerliche Funktion in den 2010er Jahren – nicht nur bei Kibirov – wieder stärker nachgefragt. Trotz der erneuten Beschäftigung mit politischen Themen bleiben in seinen Texten allerdings Unterschiede zu der prototypischen staatsbürgerlichen Dichtung des 19. Jahrhunderts und der sowjetischen Zeit bestehen: Pathos, Aufrichtigkeit, Anklage- und Aufforderungsgesten werden unterlaufen. Die Texte sind immer ironisch, auch wo vordergründig Sentimentalität und Appell dominieren. Literarische Projekte und Polemiken verbinden sich paradoxerweise mit Selbsthinterfragung, Ambiguität und mit Distanz zu der eigenen Aussage.

1.3.     INTERTEXTUALITÄT BEI KIBIROV

Die zentralen Verfahren, die Kibirovs Texten letztlich ‚postmodern‘ zu nennende Züge verleihen, sind Karnevalisierung und Intertextualisierung.87 Dem ersten Charakteristikum ist der literarische Skandal von 1989 zu verdanken, denn im Poem Л. С. Рубинштейну wird die gewohnte „hohe“ poetische Sprachnorm durch „niedrige“ Jargonismen gestört.88 Auch in späteren Texten werden norm ← 23 | 24 → widrig Hohes und Niedriges kombiniert und Sakrales profaniert, so etwa in der 2009 erschienenen Sammlung religiöser Gedichte Греко- и римскокафолические песенки и потешки (siehe Kap. 8.5.3). Derartige Überschreitungen sorgen für amüsante Irritationen, zusätzlich zu allgemeinen Verfremdungseffekten erzeugen sie ironische Distanz zum Gesagten.

Eine ähnliche Wirkung hat die Anreicherung des eigenen Textes mit Bezügen auf andere Texte. Die Aufschlüsselung und Interpretation solcher intertextuell bedingter Anomalien,89 die den Textfluss stören und das Verstehen zumindest im ersten Augenblick behindern, sind ein wichtiger Bestandteil der folgenden Textanalysen. Wie der Forschungsüberblick gezeigt hat, wird Intertextualität noch stärker als die karnevaleske Subversion („obszöne“ Lexik) als Markenzeichen und Dominante von Kibirovs Poetik angesehen. In den Büchern der späten 1990er gibt es sogar entsprechende poetologische Gedichte: Постмодернистское (Улица Островитянова, 1999) behandelt Intertextualität als Problem der zwangsläufigen Sekundarität angesichts der dichten literarischen Tradition. Alles scheint schon gesagt bzw. geschrieben, heißt es in Str. 1:

        Все сказано. Что уж тревожиться

        и пыжиться все говорить!

        Цитаты плодятся и множатся.

        Все сказано – сколько ни ври.90

Am Anfang des folgenden Bandes Нотации (1999) wird der Charakter des eigenen Schreibens umrissen. Das Ged. „Это, конечно же, не сочинения…“ spielt verschiedene Konzepte durch und beschreibt die eigene Stimme in Str. 4–5 schließlich als eine Art (musikalische) Begleitung, die die Texte der Klassiker sozusagen rahmt:

        Кажется, даже не интерпретатор,

        просто прилежный аккомпаниатор.

Details

Seiten
XIV, 438
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631760277
ISBN (ePUB)
9783631760284
ISBN (MOBI)
9783631760291
ISBN (Paperback)
9783631760260
DOI
10.3726/b14491
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Russische Literaturwissenschaft Russische Gegenwartslyrik Postmoderne Konzeptualismus Intertextualität
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018., 452 S., 9 farb. Abb., 12 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Marion Rutz (Autor:in)

Marion Rutz studierte an der Universität Trier Slavistik, Geschichte und DaF und promovierte ebenda zur russischen Gegenwartsdichtung. Aktuell ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Slavische Literaturen und Kulturen der Universität Passau. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der Russistik und Polonistik.

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Titel: Timur Kibirovs dichterisches Werk in seiner Entwicklung (1979–2009)
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