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Die Weiblichkeitsbilder in der deutschsprachigen Erzählliteratur von Autorinnen iranischer Herkunft

von Somaiyeh Mohammadi (Autor:in)
©2018 Dissertation 304 Seiten
Reihe: INTER-LIT, Band 16

Zusammenfassung

Diese Arbeit thematisiert zeitgenössische Romane von Autorinnen iranischer Herkunft, darunter Shirin Kumm, Fahimeh Farsaie und Sudabeh Mohafez. Mit Blick auf die Geschichte der iranischen Frauenbewegung und der darin erzählerisch vermittelten Weiblichkeitsbilder fragt sie, inwieweit in diesen Romanen die Darstellung des Iran und der muslimischen Frau westliche Stereotype bedient und inwieweit dies Produkt bewusster Entscheidung und ästhetischer Gestaltung ist. Schritt für Schritt vollzieht die Arbeit kritisch nach, dass und mit welchen literarischen Mitteln die heterogenen Werke dieser Autorinnen politische Maßstäbe des Gastlands antizipieren und so letztlich als literarische Fiktion der öffentlichen Beglaubigung politischer Vor-Urteile dient.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • A Geschichte und Theorie
  • 2 Zur historischen Rolle der Frau im Iran
  • 2.1 Die Konstitutionelle Revolution
  • 2.1.1 Vorgeschichte
  • 2.1.2 Die Situation der Frauen in der Zeit der Konstitutionellen Revolution: Erste Schritte der Frauen der Oberschicht in die Öffentlichkeit
  • 2.2 Die Pahlawi-Dynastie (1925–1979)
  • 2.2.1 Reza Schah
  • 2.2.1.1 Die Politik der einheitlichen Kleidung und Entschleierung
  • 2.2.1.2 Frauenorganisationen
  • 2.2.2 Mohammad Reza Schah
  • 2.2.2.1 Politische Oppositionelle und Frauenrechte
  • 2.2.2.2 Modernisierung und Industrialisierung: Frauen auf dem Arbeitsmarkt
  • 2.2.2.3 Die Weiße Revolution und ihre Auswirkungen für Frauen
  • 2.3 Die Islamische Revolution
  • 2.3.1 Die politische Ära 1979–1997
  • 2.3.2 Die politische Ära 1997–2012
  • 2.3.3 Die Situation der Frauen nach der Revolution
  • 2.3.3.1 Kleidungsvorschriften: Obligatorische Verschleierung
  • 2.3.3.2 Ideale Frauenbilder: Fāṭima und Ziynab
  • 2.3.3.3 Frauenorganisationen
  • 2.3.3.4 Khatami und die Debatte über Frauenrechte
  • 2.3.3.5 Der Schönheitswahn
  • 2.3.3.6 Fazit: Die fünf Generationen der Frauenbewegung
  • 3 Zur Konstruktion weiblicher Autorschaft in der modernen iranischen Erzählliteratur
  • 3.1 Frauenzeitschriften während der Kadscharen-Dynastie
  • 3.1.1 Dāniš („Wissen“ 1910–1911)
  • 3.1.2 Šikūfa („Blüte“ 1912–1916)
  • 3.1.3 Zabān-i Zanān („Die Stimme der Frauen“ 1919–1922)
  • 3.2 Die weibliche Autorschaft in der Pahlawi-Ära
  • 3.2.1 Die ersten Romane der 1930er Jahre
  • 3.2.2 Sūwašūn („Suvashun“ 1969): Der größte Erfolg der iranischen Frauenliteratur der 1960er Jahre
  • 3.3 Die weibliche Autorschaft in der postrevolutionären Ära
  • 3.3.1 Soziale Romane
  • 3.3.2 Triviale Erzählliteratur
  • 3.3.3 Feministische Erzählliteratur
  • 3.4 Die Rezeption der Romane in der postrevolutionären Ära
  • 3.4.1 Die iranische Frauenliteratur als „Mittel zum Einblick in die fremde weibliche Welt“
  • 3.4.2 Iranische Autorinnen als „Scheherezade mit weiblicher Mentalität“
  • 3.4.3 Das Thema „Leiden“ bei iranischen Autorinnen
  • 3.4.4 Zur autobiografischen Lesart der Werke von iranischen Autorinnen
  • 4 Definition relevanter Begrifflichkeiten
  • 4.1 Stereotyp
  • 4.2 Klischee
  • 4.3 Vorurteil
  • 5 Theoretische Annäherung
  • 5.1 Orientalismus
  • 5.2 Grundsätze und Elemente des Neo-Orientalismus
  • 5.3 Orientalismus und Neo-Orientalismus im deutschen Diskurs
  • 6 Zur Lage der iranischen MigrantInnen in Deutschland
  • 6.1 Iranische MigrantInnen vor 1979 in der Bundesrepublik Deutschland
  • 6.2 Iranische MigrantInnen nach 1979 bis heute in der Bundesrepublik Deutschland
  • 6.3 Iranische Verbände und Gemeinden in Deutschland
  • 6.4 Iranische Zeitschriften
  • 6.5 Iranische Verlage
  • 6.6 Deutschsprachige AutorInnen iranischer Herkunft
  • B Literaturanalysen
  • 7 Shirin Kumm: „Royadesara“ (2003)
  • 7.1 Inhalt des Romans
  • 7.2. Analyse des Romans
  • 7.3 Die Männer NICHT als kulturelle Masken
  • 7.4 Diskussion und Rezensionen
  • 8 Sudabeh Mohafez: „Vor Allâhs Thron“ (2004)
  • 8.1 Inhalt der Erzählung
  • 8.2 Analyse der Erzählung
  • 8.3 Diskussion und Rezensionen
  • 9 Fahimeh Farsaie: „Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden“ (2006)
  • 9.1 „Hüte dich vor den Männern mein Sohn“ (1998)
  • 9.2 „Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden“ – Inhalt des Romans
  • 9.3 Die Kritik der kulturellen Identitäten
  • 9.4 Iran- und Deutschlandbild
  • 9.5 Diskussion und Rezeption
  • 10 Jeannine Samadzadeh (Shani Katayun): „Augen in Teheran. Drei Schwestern zwischen Iran und Deutschland“ (2008)
  • 10.1 Inhalt des Romans
  • 10.2 Analyse des Romans
  • 10.3 Diskussion und Rezeption
  • 11 Noshin Shahrokhi: „Unerfüllte Träume einer Iranerin“ (2008)
  • 11.1 Inhalt des Romans
  • 11.2 Traditionalität versus Modernität
  • 11.3 Irrationale und ungebildete Muslimin versus vernünftige, gebildete und freie Frau
  • 11.4 Muslimische Männer versus Frauen
  • 11.5 Die Islamische Revolution 1978/79
  • 11.6 Deutschland als Zufluchtsort
  • 11.7 Diskussion
  • 12 May Atashkar: „Ein Himmel tausend Sterne“ (2012)
  • 12.1 Inhalt des Romans
  • 12.2 Iran und Deutschland
  • 12.3 Delbar als Repräsentantin des rätselhaften Orients
  • 12.4 Exkurs: Scheherezade
  • 12.5 Diskussion
  • 13 Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur (deutsch und englisch)
  • Sekundärliteratur (persisch)
  • Wörterbücher
  • Zeitungsbeiträge und sonstige Quellen

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1 Einleitung

Aktuell wird in Deutschland intensiv über den Islam gestritten – die Verschleierung muslimischer Frauen spielt dabei eine äußerst prominente Rolle. Der Stoff der Bekleidung – sei es Kopftuch, Burka, Chimar, Tschador, Nikab oder Burkini – ist Stoff politischer Sorgen und Kontroversen. Er wird zum einen als „Leichentuch für Frauen“ und als schlagender Beweis ihrer Unterdrückung und Bevormundung gesehen und zum anderen als „Wesensmerkmal des Islams“ und als eindeutiges Zeichen für das entsprechende „politische[] System“ verstanden.1 An ihm zeige sich die grundlegende Differenz zu den Werten der Aufklärung und der Demokratie und daraus wird abgeleitet, dass der Islam und Europa unvereinbar seien. In den westlichen Medien ist die von einem schwarzen Tschador verhüllte Frau zu einem der wichtigsten Bildtopoi geworden, mit denen politische Kontroversen mit dem Nahen Osten illustriert werden. Diese Auffassung schlägt sich auch in der Bevölkerung statistisch eindeutig nieder. Laut einer von der Bild-Zeitung 2016 im Auftrag gegebenen Umfrage meinen ca. 60 Prozent der Deutschen, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre.2 Eine Studie der Bertelsmannstiftung erbrachte schon 2015 nahezu gleiche Ergebnisse. 57 Prozent der nicht-muslimischen deutschen Bürger meinten, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre.3 Mit diesen Zahlen korreliert die Auffassung über die Verschleierung von Musliminnen: Inzwischen fordert die Hälfte aller Deutschen ein Verbot der Vollverschleierung und jeder Dritte wenigstens Beschränkungen.4 Laut einer weiteren Studie hat nur einer von zehn Interviewten in der Freizeit Kontakt zu Muslimen.5

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Wie homogen ist eine Glaubensgemeinschaft von 1,6 Milliarden Gläubigen, wie homogen bleibt sie über alle Lebensverhältnisse und -unterschiede hinweg? Wie schlüssig ist die Charakterisierung der einen muslimischen Masse als per se „aggressiv, frauenfeindlich, rückschrittlich und bedrohlich“?6 So selbstverständlich für den öffentlichen Diskurs und für die private Meinung zum Beispiel der Gegensatz zwischen Schleier und Europa existiert, so fragwürdig erscheint dieser Konsens auf den zweiten Blick. Zwar herrscht im Iran nach offizieller Rechtslage Schleierzwang für Frauen in der Öffentlichkeit, in anderen islamischen Ländern wie Indonesien, Ägypten, oder der Türkei ist dies jedoch nicht der Fall. Sogar im Iran ist zu erkennen, dass der Zwang zur Verschleierung nicht gleichgesetzt werden kann mit einer gesellschaftlichen Passivität und Unterdrückung der Frauen. Der weibliche Anteil an Studierenden an iranischen Universitäten beträgt 60 Prozent. Auch auf individueller Ebene wird der Schleierzwang ambivalent bewertet. Zum einen sehen sich Frauen in ihrer Wahl der Kleidung diskriminiert. Zum anderen berichten andere Frauen, dass sie dadurch erst den Mut gefunden hätten, in die Öffentlichkeit zu treten, zu studieren und zu arbeiten.

Das Urteil über die Bedeutung des Schleiers für eine kulturelle und politische Unvereinbarkeit von Morgen- und Abendland scheint sich also nicht aus der Lage der Fakten zu ergeben. Trotzdem scheint dieses Urteil allgemein durchgesetzt und durch keine Debatte zu verunsichern oder zu relativieren.

Aus historischer Sicht war das bis vor wenigen Jahrzehnten nicht der Fall. Für viele gilt die Islamische Revolution von 1979 im Iran als „inhaltlich entscheidender Wendepunkt des Islambildes“7. Als neues Datum der westlichen Politik und Öffentlichkeit für „die Darstellung der islamischen Welt“ als Ort für Terrorismus, Fanatismus und Fundamentalismus gilt fraglos der 11. September 2001. Infolge dieses Terroranschlags weitete sich der Blick der westlichen Welt auf alle islamisch bestimmten Staaten. Innerhalb der Gruppe der sogenannten „Schurkenstaaten“ erlangte der Iran in jüngster Zeit wegen des vermuteten Baus einer Atombombe wieder eine Sonderstellung. Die Substanz des Diskurses über den Islam habe sich nach 9/11 dabei wenig geändert, schreibt Kai Hafez. So konnte sie erst für die Legitimation des „Kampfs gegen den Terror“ genutzt werden. Jedoch kam es in diesen Zeiten der weltpolitischen Auseinandersetzungen, die mit den Terroranschlägen nun auch im Inland stattfanden, zu einer veränderten Sicht des Westens auf die eigenen muslimischen Minderheiten.8 Das galt ←16 | 17→nicht nur für ihre rechtsstaatlichen Institutionen und Geheimdienste. Auch in der Zivilgesellschaft wuchs die Sensibilität gegenüber den Mitbewohnern, die sich zu ihrer Religion und ihren kulturellen Umgangsformen bekannten. Eine verbale und praktische Eskalation ist zumindest in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden offenkundig. Neuen Antrieb erhielt sie angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise. Besonders deutlich drückt sich die Skepsis gegenüber muslimischen Mitbürgern in Bewegungen und Vereinigungen „besorgter“ Bürger aus. Sie sehen, wie z.B. die PEGIDA, das „Abendland“ durch die „Islamisierung“ bedroht, und fordern die Politik auf, dies zu unterbinden. Mit der „Alternative für Deutschland“ ist eine erfolgreiche Partei entstanden, deren Hauptforderung es ist, die deutsche Kultur vor der islamischen zu schützen. Auf diplomatischer Ebene haben die sogenannten Visegrád-Staaten das Konstrukt einer Feindschaft der Muslime gegenüber den europäischen Staaten zu einem entscheidenden Element ihrer einzelnen nationalstaatlichen wie gemeinsamen europäischen Außenpolitik erhoben.

Migration nach Deutschland ist kein neues Phänomen; sie ist seit den 1950er Jahren deutsche Realität. Die Migrationsforschung hat dies in aller Ausführlichkeit dargestellt und untersucht.

Zur großen Gruppe der aus politischen Gründen in Deutschland aufgenommenen, wie aus ökonomischen Gründen nach Deutschland geholten Menschen, zählen auch und insbesondere Muslime aus der Türkei und aus arabischen Ländern, wie dem Iran. Riem Spielhaus erklärt in dieser Hinsicht, dass Fragen der Religiosität in der Migrationsdebatte in Deutschland erst Anfang der 1990er Jahre ins Spiel kamen und dass sie ihren Höhepunkt im 21. Jahrhundert erreicht hätten.9 In diesem Zusammenhang erklärt auch Iman Attia, dass die Auswanderinnen in der Ära der Nachkriegszeit „nicht primär als Orientalinnen oder Muslime“ betrachtet wurden, sondern erst im 21. Jahrhundert.10

Die Migranten selbst sind nicht nur Gegenstand der Betrachtung der deutschen Gesellschaft geworden. Vielmehr haben sie eigenständig am Diskurs über ihre Stellung innerhalb des Gast- und Heimatlandes partizipiert. Die Literatur stellt einen ausgesuchten Ort dieser Auseinandersetzung dar. Dies hat die germanistische Literaturwissenschaft als originären und bedeutenden Beitrag zur literarischen Öffentlichkeit Deutschlands anerkannt und in vielen Arbeiten ←17 | 18→thematisiert. So hat die Dissertationsschrift von Nico Elste deutlich herausgearbeitet, wie stark der Diskurs über eine deutsche Identität speziell nach der Wiedervereinigung 1990 mit der Selbstthematisierung der nach Deutschland Migrierten und ihrer Nachkommen korreliert.11

Angesichts der neuen welt- und innenpolitischen Konstellationen kann man diese Frage an die Literatur erneut richten, und zwar in beide Richtungen:

In der deutschen Öffentlichkeit genießen Texte iranischer Autorinnen seit 2000 hohe Aufmerksamkeit. Dabei handelt es sich um im Iran geborene Autorinnen, die dort auch ihre Kindheit verlebt haben und gegebenenfalls schon in Beruf und Politik tätig waren. Alle sind früher oder später nach Deutschland emigriert und haben ihre Erzählungen und Romane hier, zumeist auch auf Deutsch, veröffentlicht. Ausdrücklich benennt die Mehrheit von ihnen den Iran und ihr dortiges Leben als Gegenstand ihrer Literatur. Die Autorinnen inszenieren sich dabei als glaubwürdige Zeitzeugen der iranischen Verhältnisse allgemein, der iranischen Menschen, ihrer alltäglichen und politischen Kultur und ihrer Religion. Dieser unmittelbare Zeitbezug schlägt sich in den Handlungen und Motiven nieder. Einige Autorinnen wie Shani Katayun verweisen zusätzlich auf ihr Fachwissen und auf Recherchearbeit. Sie beanspruchen, dass ihre Romane einen wahren Einblick in die historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse des Iran geben.

Bereits auf motivischer Ebene fällt auf, dass diese autobiografischen Romane einen besonderen Blick auf ihren Gegenstand, den Iran, einnehmen. So verwenden die iranischen Erzählerinnen bspw. oft das klassisch abendländische Stereotyp der „verführerischen Orientalin“ oder das neue westliche Stereotyp der „unterdrückten Frau“ zur Darstellung ihrer Erlebnisse. Eine Stereotypisierung des Iran zeigt sich darüber hinaus schon in den Titeln solcher Romane. Diese sind maßgeblich aus dem anglo-amerikanischen Raum oder direkt aus dem Persischen für den deutschen Buchmarkt übersetzt worden. In den Titeln dieser Bücher finden sich Ausdrücke wie „Flucht“, „Gefängnis“, „Albtraum“, „Gefangenschaft“, „Terrorregime“, „Folteropfer“ usw.12

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Wenige der Texte verwehren sich ausdrücklich dieser Stereotype, die sie damit allerdings als Erwartung voraussetzen.13

Die narrative Konstellation verdeutlicht ein erstaunliches Spannungsverhältnis. Die Narration der iranischen Wirklichkeit will einerseits den Fakten und andererseits dem deutschen Diskurs genügen. Besonders frappant ist dies in Bezug zum „illustren“ Gegenstand der gegenwärtigen politischen Debatte über die muslimische Frau. In Persona müssen die Erzählerinnen resp. Autorinnen diesen Widerspruch an sich darstellen und gewissermaßen aushalten. Ihren biografischen Texten kommt dabei eine außergewöhnliche Funktion hinzu: Gilt in den westlichen Kulturen seit geraumer Zeit und das insbesondere für die Literatur- und Kulturwissenschaften und die Öffentlichkeit die Autobiografie als konstruierte, den subjektiven Selbstvergewisserungen dienende „Fiktion“14, ←19 | 20→scheint für die Autorinnen iranischer Herkunft dies gerade nicht zu gelten, ihre Autobiografien sollen für Glaubwürdigkeit bürgen. – Diese besonderen Texte sind wiederum für die Bildung der öffentlichen Meinung in Deutschland nicht unproblematisch. Denn in dem praktizierten Widerspruch bieten diese Romane ein Material, mit dem – anders als die gegenwärtigen Romane deutscher Autoren – der deutsche Blick belegt, dass seine Interpretation des Iran und seine politisch-kulturellen Urteile über ihn und den Islam objektive Wirklichkeit beanspruchen können. Gerade dafür nun bieten die Biografien der Schriftstellerinnen weitere Belege der Authentizität.

Die vorliegende Arbeit untersucht die literarischen Texte deutschsprachiger Autorinnen iranischer Herkunft und deren deutsche Rezeption. Sie geht dabei von zwei Hypothesen aus. Die erste Hypothese lautet, dass die Stereotypisierung des Iran in den Texten bewusstes Produkt ästhetischer Verfahren ist; die zweite besagt, dass diese auf die stereotypen Urteile der Öffentlichkeit reagieren, die den Autorinnen als Erwartung bzw. Anspruch entgegenstehen. Daraus lässt sich folgende Frage an die Romane formulieren: Inwiefern stellt das, was in der Wissenschaft als gewissermaßen überzeitliches Verfahren der Selbst-Orientalisierung diskutiert wird, im Kontext der zeitgenössischen Auffassung des „Okzidents“ und „Orients“ ein literarisches Verfahren zur Integration von Musliminnen dar? In dieser Hinsicht befragt die Arbeit aktuelle und für die deutsche Öffentlichkeit verfasste Texte jener Autorinnen nach ihren spezifischen ästhetischen Umgangsweisen und problematisiert ihre meinungsbildenden Implikationen.

Die literarischen Prosaveröffentlichungen von Schriftstellerinnen, die aus dem Iran nach Deutschland emigrierten und die aus der weiblichen Perspektive über den Iran schreiben, sind Folgende:

1.„Royadesara. Eine Verwirrung“ (2003) von Shirin Kumm

2.„Vor Allâhs Thron“ aus dem Erzählband „Wüstenhimmel, Sternenland“ (2004) von Sudabeh Mohafez

3.„Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden“ (2006) von Fahimeh Farsaie

4.„Augen in Teheran“ (2008) von Shani Katayun

5.„Unerfüllte Träume einer Iranerin“ (2008) von Noshin Shahrokhi

6.„Ein Himmel, tausend Sterne“ (2012) von May Atashkar

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Die Liste der entsprechenden Texte ist nach meiner Kenntnis in dem Zeitraum zwischen 2000 und 2012 vollständig. Wegen des überschaubaren Umfangs nehme ich für diese Arbeit keine weitere Auswahl vor, ihre Gesamtheit stellt mein Korpus dar. In den Blick der germanistischen Literaturwissenschaft sind diese Texte nur in wenigen Fällen gekommen. Die Forschung kann als Desiderat gelten.15 Damit versucht diese Arbeit, die Methoden und Gegenstandsbereiche zweier Disziplinen zu verbinden. Zum Ersten ist das die germanistische Literaturwissenschaft mit ihrem eigenen text- und kontextbezogenen Analyseverfahren; zum Zweiten ist es die Orientalistik mit ihren kulturwissenschaftlichen Konzepten, insbesondere der Konstruktion von Fremd- und Eigenbildern.

Die Arbeit ist in folgende Teile und Kapitel gegliedert:

Der erste Teil beschäftigt sich mit der historischen und theoretischen Kontextualisierung meines Gegenstands: Das zweite Kapitel stellt zunächst historische Fakten über die Rolle der Frau im Iran dar. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die historischen Hintergründe, welche die Frauenbewegung und die Lage der Frauen beeinflusst haben. Das dritte Kapitel schließt daran thematisch unmittelbar an. Es beschäftigt sich in entsprechender Kürze mit der Literatur, die von iranischen Frauen im Iran verfasst wurde. Anhand der Rezeption dieser Werke im Iran werde ich zeigen, warum man diese Literatur autobiografisch liest und wie diese Lesart Einfluss auf die Lesart jener Literatur hat, die in Deutschland von Frauen iranischer Herkunft geschrieben wird.

Die folgenden Kapitel setzen sich mit der Methode bzw. der methodischen Problematisierung der Orientwissenschaften auseinander. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem Begriff „Stereotyp“, dessen Unterschied zu den Begriffen „Klischee“ und „Vorurteil“ und letztendlich seiner identitätsstiftenden Funktion. Kapitel fünf stellt die zwei umstrittenen Konzepte von Neo-Orientalismus und Okzidentalismus vor und diskutiert deren Implikationen und Verfahren. Das Kapitel sechs wendet sich der deutschen Perspektive zu. Es befasst sich mit der Lage der iranischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland. In diesem Kapitel befasse ich mich zudem mit der zunehmenden Popularität deutschsprachiger Literatur von Autorinnen iranischer Herkunft.

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Der zweite, umfangreichere Teil der Arbeit mit seinen sechs Kapiteln befasst sich schließlich mit der Analyse der oben erwähnten Romane. Weil es sich um Romane und Autorinnen handelt, die in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung bisher größtenteils unbeachtet geblieben sind, wird jede Einzelanalyse mit der biografischen Kontextualisierung der Autorinnen eingeleitet. Die Analysen enden mit einer Diskussion der deutschen Rezeption der Romane, sofern sie stattgefunden hat. Das Nebeneinander der Romananalysen gibt dabei einen Einblick in die verschiedenen narrativen Verfahren der Integration des iranischen im deutschen Diskurs. Durch die Werke von Fahimeh Farsaie, Shirin Kumm und Sudabeh Mohafez, die sich offensiv diesen Einordnungen zu entziehen versuchen, bekommen die Integrationsnarrative der Selbst-Orientalisierung zusätzlich Kontur.

1 Schwarzer, Alice: Burka verstößt gegen das Grundgesetz!, unter: http://www.aliceschwarzer.de/artikel/die-burka-verstoesst-gegen-das-grundgesetz-333243, [Zugriff: 01.09.2016].

2 Vgl. http://www.focus.de/politik/deutschland/bevoelkerung-ist-gespalten-umfrage- zeigt-das-denken-die-deutschen-wirklich-ueber-den-islam_id_5502084.html, [Zugriff: 05.05.2016].

3 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/islam-studie-muslime-integrieren- sich-deutsche-schotten-sich-ab-a-1011640.html, [Zugriff: 03.09.2016].

4 Vgl. http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-08/burka-verbot-debatte- mehrheit-der-deutschen, [Zugriff: 28.09.2016].

5 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/islam-studie-muslime-integrieren- sich-deutsche-schotten-sich-ab-a-1011640.html, [Zugriff: 03.09.2016].

6 Schiffer, Sabine: Die Darstellung des Islams in der Presse. Ergon Verlag, Würzburg 2005, S. 3.

Details

Seiten
304
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631779415
ISBN (ePUB)
9783631779422
ISBN (MOBI)
9783631779439
ISBN (Hardcover)
9783631758892
DOI
10.3726/b15139
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Orientalismus Migration Frauenrecht Opposition Stereotyp weiße Revolution
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 302 S.

Biographische Angaben

Somaiyeh Mohammadi (Autor:in)

Somaiyeh Mohammadi studierte in der Universität Teheran (Iran) die deutsche Sprache für Übersetzung. In Pune (Indien) schloss sie ihr Masterstudium Germanistik ab und mit einem Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung promovierte sie im Fach Germanistik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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