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Normativität und literarisches Verstehen

Interdisziplinäre Perspektiven auf Literaturvermittlung

von Lydia Brenz (Band-Herausgeber:in) Torsten Pflugmacher (Band-Herausgeber:in)
©2021 Konferenzband 214 Seiten

Zusammenfassung

Literarische Vermittlungs- und Aneignungsprozesse sind von normativen Ansprüchen und Regeln geprägt. In institutionellen Kontexten sind die sozialen Praktiken des Verstehens beim Umgang mit Literatur stärker und anders mit normativen Implikationen verbunden als in privaten Rezeptionssituationen. Die Beiträge untersuchen aus unterschiedlichen Perspektiven empirisch und theoretisch Literaturunterricht, die normierende Kraft didaktischer Modellierungen sowie die Normativität des Gegenstands Literatur. Der Band dokumentiert die Ergebnisse der Tagung «Normativität literarischen Verstehens» vom Winter 2018 in Göttingen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Normen des schulischen Literaturerwerbs erforschen. Zur Einführung in den Tagungsband: (Torsten Pflugmacher, Lydia Brenz)
  • Theoretische Grundannahmen zur Normativität des Gegenstandes und literarischer Praktiken
  • Kontextualisieren als notwendige Voraussetzung für das Verstehen literarischer Texte: (Jan Borkowski)
  • Verstehen als Arrangement von Praktiken und Normen: (Steffen Martus)
  • Herr Keuner und das Parabelverstehen. Zur Analyse und Kritik von Interpretationsnormen: (Thomas Zabka)
  • Normativität von Wissenschaft und Didaktik in Diskussion
  • Wozu gibt es Literatur und wozu Literaturunterricht? Implizite Normen und explizite Leistungserwartungen im aktuellen literaturdidaktischen Diskurs: (Ulf Abraham)
  • Die (Ein-)Gebildetheit der Unterrichtsforschung: Über eine Tendenz zum „unfairen“ Urteilen in rekonstruktiven Unterrichtsanalysen: (Thomas Wenzl)
  • Was ist normal im Literaturunterricht? Über Normalisierung im literarischen Lernen durch das Markieren und Nicht-Markieren von Differenz(en) im Umgang mit Literatur: (Christoph Bräuer)
  • Normen im Fokus der Empirie
  • Normen gelingenden Interpretierens aus der Perspektive Studierender: (Marco Magirius)
  • Was ist und wie entwickelt sich „angemessenes“ literarisches Verstehen? Perspektiven von Lehrenden auf Verstehensprozesse von Lernenden: (Dorothee Wieser, Irene Pieper und Marie Lessing-Sattari)
  • Das Bewerten von Literatur. Literarische Normen im fachdidaktischen Diskurs und in Abituraufsätzen der 1960er Jahre: (Sabine Reh, Britta Eiben-Zach)
  • Wie weit reicht die normierende Kraft von Operatoren im Umgang mit Literatur?: (Juliane Köster)
  • Reihenübersicht

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Torsten Pflugmacher, Lydia Brenz

Normen des schulischen Literaturerwerbs erforschen. Zur Einführung in den Tagungsband

1 Normfragen und Professionalisierungsherausforderungen für Deutschlehrkräfte

„So kann ich davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr.“ Was hat diese melancholisch anmutende Feststellung, die aus Walter Benjamins autobiografischer „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ stammt (Benjamin 1991, S. 267), mit Fragen der Literaturvermittlung und -aneignung zu tun? Unterschieden wird hier zwischen Aneignung und Resultat. Benjamins Ich trauert den Vorstadien der Erwerbsphase nach, in die er sich nicht mehr hineinversetzen kann. Nicht wegen der zeitlichen Distanz, sondern wohl, weil er längst zum Könner geworden ist und daher die Erinnerung an die Herausforderungen, sich von der horizontalen zur vertikalen Fortbewegung umzuorientieren, überformt worden ist. Er kennt die damit verbundenen Anstrengungen und Übungen nicht mehr.

Darin steckt ein Sinnbild, welches auch die Herausforderungen des Unterrichtens sowie der Lehrer*innenbildung betrifft: Durch ihr Studium werden die angehenden Deutschlehrkräfte im Idealfall Expertenleser*innen. Widerstände, die der literarische Text beinhaltet, werden von ihnen automatisch angemessen bearbeitet: Sie können Gattungen unterscheiden und diesen entsprechende Lesehaltungen einnehmen. Sie wundern sich nicht, dass Rotkäppchen von einem Wolf angesprochen wird. Sie können intuitiv intertextuelle Bezüge erkennen, Texte in literaturhistorische Kontexte einordnen und sie wissen, dass man Gedichte wie Oskar Loerkes „Blauer Abend in Berlin“ mehrfach lesen muss, um den hermeneutischen Zirkel kreisen zu lassen. Zugespitzt formuliert, wird von ihnen erwartet, dass sie Modellleser*innen im Sinne von Umberto Eco (vgl. Eco 1992, S. 61ff.) sind, also in der Lage sind zu rekonstruieren, wie der Text mit dem Lesenden spielt. Auf dem Weg zu dieser Lese-Expertise als einem Prozess des Erwerbs literarischer Konventionen haben sie jedoch vermutlich frühere Lesekompetenzstufen hinter sich gelassen, vergessen oder verdrängt: Nun kann ich lesen; lesen lernen nicht mehr. Im Sinne der Entwicklung ←7 | 8→pädagogischer Professionalität (vgl. Oevermann 1996) erscheint es notwendig, dass Deutschlehrkräfte eine Sensibilität entwickeln für die Leseprobleme ihrer Schüler*innen, die sie selbst längst hinter sich gelassen haben: Schüler*innen wenden in Top-Down-Prozessen qua Übergeneralisierung ungeeignete Konventionen an (vgl. Nickel-Bacon 2012), verfügen ggfs. noch gar nicht über diese oder beginnen aus der Not heraus zu mutmaßen, welches Verstehensziel die Lehrkraft im Blick haben könnte, das vermeintlich gemeinsam erreicht werden soll.

Was bedeutet das für die Professionalisierung von angehenden Lehrkräften? Ein erster Schritt, angehende Lehrkräfte für den Themenbereich literarischer und literaturpädagogischer Normen und Konventionen zu sensibilisieren, besteht im Studium darin, frühzeitig die eigenen – oft mehr oder weniger aus der eigenen Schulzeit mitgebrachten – Normalvorstellungen, Wertmaßstäbe, Überzeugungen und Orientierungen von Literatur und Literaturvermittlung sichtbar zu machen, damit sie vergleichend diskutiert werden können und ggfs. ihre unsichtbare Wirkungsmächtigkeit verlieren (vgl. Lehmann-Rommel 2014).

Der vorliegende Sammelband enthält Beiträge, die sich nun mehr aus verschiedenen interdisziplinären Perspektiven der Frage widmen, inwiefern der institutionell-bildende Umgang mit Literatur normativ geprägt ist. Ausgangspunkt dafür war die Feststellung, dass die Literaturdidaktik als Diskurs traditionell vor allem eine normierende Disziplin darstellt und formuliert, wie Literaturunterricht durchgeführt werden soll. Demgegenüber gibt es noch immer erhebliche Lücken bei der Rekonstruktion der normativen Implikationen der Praktiken ihrer Vermittlung und Aneignung (Pflugmacher 2016a, Winkler 2005), also der Frage wie Literaturunterricht ist. Unsere eigenen Versuche, seine immanente Normativität und damit seine spezifischen Handlungsprobleme rekonstruktiv zu bestimmen, führten sowohl zur Beschreibung von immer wiederkehrenden Routinen als auch zur Beobachtung von Krisensituationen, in denen die Beteiligten unterschiedlichen Regeln bzw. Normen folgten (Pflugmacher 2017). Neben die Normen der Lehrkraft – die die Schüler*innen im besten Fall erwerben sollen –, treten Normen als meist implizite Normalvorstellungen, welche die Schüler*innen mitbringen oder schulkulturell erworben haben und mit denen sie mitunter dem polyvalenten literarischen Gegenstand andere Aspekte abgewinnen, als es die Lehrkraft anstrebt. Bei der Rekonstruktion der Verständigungsprozesse über Literatur zeigte sich aber schließlich auch, dass die Lehrkraft mit dem Text nicht einfach alles machen kann und dieser gewissermaßen auch eigensinnige Seiten als Sinnüberschuss aufweist, die in einem Spannungsverhältnis sowohl zur vermittelnden Intentionalität stehen können wie auch zur Intentionalität der Aneignenden. Auch ←8 | 9→die Erziehungswissenschaftler*innen Idel und Schütz betonen die Herausforderung, „objektive Bedeutungsgehalte der Sache und die sich auftuenden Diskrepanzen der lehrer- und schülerseitigen Sinnzuschreibungen zu heben und zu vermitteln“ (Idel/Schütz 2018, S. 153). Das lässt sich leicht einfordern von Erziehungswissenschaftler*innen, ebenso leicht abwehren von Fachdidaktiker*innen, aber das reale Problem bleibt bestehen: Wie lässt sich der normative Sinngehalt des literarischen Textes bestimmen? Welchen „Modellleser“ sieht der Text im Sinne einer intentio operis vor (Eco 1992, S. 35ff.)? Welche sind demzufolge notwendige Verstehensvoraussetzungen (vgl. Zabka 2012, S. 142)? Solche Fragen haben zu der Tagung Normativität literarischen Verstehens 2018 in Göttingen geführt, deren Beiträge hier publiziert werden.

Unser einleitender Beitrag will die aktuellen Diskurse zu Normen und Orientierungen in verschiedenen für die Literaturdidaktik relevanten Nachbardisziplinen darlegen und die dort verorteten Perspektiven zumindest soweit skizzieren, dass grundlegende Fragen für die literaturdidaktische Forschung sichtbar werden.

Uns ist bewusst, dass die Spezialdiskurse innerhalb der jeweiligen Disziplinen durchaus ausgeschärfter geführt werden, als wir sie hier nachzeichnen können: Dies betrifft den immer wieder aufgeworfenen Diskurs um das Selbstverständnis der Literaturdidaktik als wissenschaftlicher Disziplin zwischen Deskription und Präskription (Abraham/Kepser 2006, S. 8.). Darüber hinaus ist es notwendig, den Blick auf jüngere unterrichtstheoretische Debatten in der Erziehungswissenschaft zu richten: Denn je nach Ansatz wird die Betrachtung des außerunterrichtlichen Gegenstands, seine Sinnstruktur, bevor er zum Lerngegenstand wird, ausgeblendet. Andere Fachdidaktiken (z.B. die Mathematikdidaktik, aber auch die Orthografiedidaktik) sind in Fragen notwendiger Verstehensvoraussetzungen und typischer Verstehenshürden durchaus weiter fortgeschritten und können die spezifisch notwendigen Erkenntniskrisen und die damit verbundenen Herausforderungen des Lernsubjekts wesentlich genauer beschreiben, als die Literaturdidaktik es – aus nachvollziehbaren Gründen – bislang vermag. Dementsprechend gilt es besonders die forschungsmethodische Diskussion mitzudenken und in den Blick zu nehmen, inwieweit die in der Didaktik und Unterrichtsforschung spezifischen Ansätze zur Betrachtung des Normenproblems beitragen können.

Lenken wir aber zunächst exemplarisch den Blick auf die relevanten Problembereiche der Literaturvermittlung und -aneignung, in denen Normativitätsansprüche und Normenkonflikte, Erwartungen und Überzeugungen im Literaturunterricht üblicherweise hervortreten: Relativ bekannt dürften Konventionen sein, die maßgeblich sind bei der Einnahme einer gegenüber ←9 | 10→literarischen Texten angemessenen Lesehaltung. Oft genannt werden die Fiktionalitätskonvention, die Autorkonvention und die Ästhetikkonvention (Rosebrock 2013, S. 42). Hinzu kommt die Polyvalenzkonvention, zu der auch die finale Ambiguitätstoleranz zählt, welche bei einer Wegbeschreibung wenig hilfreich sein dürfte, bei Kurzgeschichten jedoch kaum verzichtbar erscheint (Zabka 2012, S. 146). Normalvorstellungen über die (Nicht-)Identität von Erzähler und Autor reichen in literarische Wissensbereiche hinein, Ähnliches gilt für Haltungen, X sei kein „richtiges“ Märchen oder Y kein „richtiges“ Gedicht, da es sich ja nicht reime: In solchen oft anzutreffenden Äußerungen zeigen sich die Spuren einer Lehre, in der die typischen Merkmale einer Kurzgeschichte im Sinne einer Rätseldidaktik zuvor gelehrt wurden und daraufhin im literarischen Text wiederentdeckt werden sollen.

Gleichermaßen ist der in den Phasenmodellen seit Jürgen Kreft (vgl. Kreft 1977, S. 379) erwünschte Austausch über „erste Eindrücke“ ausgesprochen normativ und voraussetzungsreich: Die Simulation einer vermeintlich authentischen Ich-Betroffenheits-Konvention will erst einmal gelernt sein. Dies zeigt sich in Unterrichtstranskripten beispielsweise in paradoxen lehrerseitigen Anweisungen wie „Unterhaltet euch“ und der irritiert den Arbeitsauftrag reformulierenden Schüleräußerung während der darauffolgenden Gruppenarbeit: „Was hat uns angesprochen?“ (vgl. Pflugmacher 2011, S. 128ff.).

Ebenso erscheint es fast als Konvention, dass von der Lehrkraft nicht explizit legitimierte Sekundärliteratur wie z.B. Lernhilfen keine Rolle im Unterricht spielen und bei der Befragung von den Lehrkräften überwiegend ausgeblendet werden. Die gegenläufige verbreitete Praxis, dass – vermutlich – leistungsstarke Schüler*innen Lernhilfen keineswegs als Hilfe, sondern vielmehr als Ersatz für die selbstständige Lektüre benutzen, scheint vielen Lehrkräften undenkbar, vielleicht weil dies gegen eine Authentizitätskonvention der Ich-Text-Begegnung verstößt (vgl. Masterarbeiten Bürsing 2019, Wittchow 2017).

Wenn eine Lehrkraft im Verlauf eines Unterrichtsprotokolls hingegen den Spieß umdreht – „machen wir doch mal umgekehrt“ – und die Schüler*innen auffordert, Fragen zu stellen, was denn in der Kurzgeschichte „lohnenswert wäre zu untersuchen“, reagieren die Schüler*innen irritiert und haken nach, ob die Lehrkraft damit etwa Fragen meine, die ggfs. im Text selbst stünden. Für diese Schüler*innen erscheint es undenkbar, dass der Schulgegenstand individuelle Irritationen auslöst, die für eine kollektive Bearbeitung im Unterrichtsgang relevant seien. Normativ folgerichtig suchen sie dann im Fortgang der Herausforderung auch nicht jene Fragen, die die Kurzgeschichte in ihnen aufwirft, sondern sie versetzen sich durchaus empathisch in die Lehrkraft und überlegen, welche Fragen erfahrungsgemäß eine Lehrkraft im Umgang mit ←10 | 11→einem literarischen Text an die Schüler*innen richten könnte (vgl. Metskhoveishvili 2005). Auch ist keineswegs selbstverständlich, wer im Deutschunterricht wen verstehen soll: Soll sich im Verständigungsprozess die Lehrkraft in das (vermeintlich) unausgereifte Verstehen des Schülers hineinversetzen, oder wird stattdessen erwartet, dass der Schüler seine Verstehensdefizite zurückstellt und sich auf die Lesarten der Lehrkraft einlässt (Pflugmacher 2015)?

Nach diesen ersten Annäherungen an die Komplexität von Normfragen bei der Literaturvermittlung wollen wir einen ersten Versuch machen, etwas Ordnung in die Erkundung normativer Dimensionen der Literaturvermittlung zu bringen. Dabei ist uns bewusst, dass dies ein schwer zu leistendes Unterfangen darstellt, allen Disziplinen und Anforderungen gerecht zu werden. Die Einblicke können demnach weder vollständig noch detailliert diskutiert werden.

2.1 Normen literarischen Verstehens und des Redens über Kunst (im Deutschunterricht)

Es gibt literarische Konventionen, die mitunter als Vertragsverhältnis betrachtet werden, die von Lesenden erworben und befolgt werden müssen, um Literatur in angemessener Weise zu rezipieren. Wer „Es war einmal“ vernimmt, sollte eben genau das Gegenteil dessen annehmen, was damit behauptet wird, aber im Sinne der „suspension of disbelief“ (vgl. Coleridge 1817) so tun, als ob Rotkäppchen tatsächlich mit einem Wolf eine gepflegte Unterhaltung führen könne. Dass bestimmte Regeln und Erwartungen im Umgang mit Literatur auch wieder verlernt werden müssen, es also einen Erwerbsprozess gibt, zeigt sich spätestens bei der erstaunten Feststellung, dass sich ein Gedicht ja gar nicht reime oder dass es zunächst gar keinen Sinn zu machen scheint. In diesem Sinne wären die Konventionen zu „den“ typischen Merkmalen (einer Kurzgeschichte, einer Ballade etc.) ebenso wie Konventionen für schulische Schreibverfahren wie die Figurencharakterisierung eigentlich transitorische, also vorübergehende und wieder zu verlernende Normen (Feilke 2015, S. 123), die wieder eingeklammert, zurückgebaut werden müssten – was aber oft nicht geschieht.1

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Da Lehrkräfte immer auch eigene (oder aus ihrer schulischen Sozialisation stammende) Konzeptionalisierungen von Literatur und Literaturerwerb mitbringen, sind solche impliziten Normen bzw. solches implizite Wissen nicht nur in der Literaturvermittlungspraxis höchst relevant, sondern sie dürfen auch grundsätzlich für eine noch zu entwickelnde Theorie der Literaturvermittlung nicht aus dem Blick geraten. Dass die Vorstellungen über Literatur und Literaturerwerb von Lehrkraft und Schüler*innen sich unterscheiden können und deren Synchronisation eine typische Herausforderung von professioneller Vermittlungsarbeit ist, hat Torsten Pflugmacher 2011 aufgezeigt: Die Schüler*innen sollen sich im Gespräch über die Lektüre „völlig offen ausfahren“, weisen diese radikale Subjektivierungsherausforderung jedoch zurück und suchen stattdessen explizit danach, was die Lehrkraft über „die Sprache und die Handlung“ vermeintlich hören möchte (Pflugmacher 2011). Diese Divergenz von literaturbezogenen Schüler*innenüberzeugungen und Lehrer*innenüberzeugungen scheint konstitutiv für schulische Literaturerwerbsprozesse zu sein. Daher sind Forschungen notwendig, die den (angehenden) Lehrkräften aufzeigen, welche Normalvorstellungen die Edukanden – aber auch sie selbst – im Umgang mit Literatur haben und die ihnen Mittel und Wege eröffnet, in der Praxis an diese Vorstellungen heranzukommen und damit zu arbeiten.

Ebenso ist es für den literaturdidaktischen Diskurs von größter Wichtigkeit zu wissen, welche Vorstellungen praktizierende Lehrkräfte von Literatur und Literaturerwerbsprozessen haben, weil man – will man Praktiken verändern – an dieses implizite Wissen (Neuweg 2011) andocken muss: Deutschlehrer*innen können keine 1:1-Erfüllungsgehilfen von normativen Lehrplänen und Bildungsstandards sein.

Bislang haben wir denkbare Normenkonflikte im weitesten Sinne zwischen Schüler*innen und Lehrkräften angedeutet. Hinzu kommt aber ggfs. auch der literarische Gegenstand als Interaktant. Es ist umstritten, ob es so etwas wie Normen des Gegenstands gibt. Thomas Zabka widerspricht dem in seinem einflussreichen Aufsatz zur didaktischen Analyse (Zabka 2012, S. 141) deutlich aus einer kognitionspsychologischen Perspektive. Umberto Ecos „intentio operis“ (Eco 1992, S. 35) im Sinne von notwendigen Verstehensvoraussetzungen versteht Zabka als eine Metonymie der „intentio auctoris“ oder anderer Instanzen (Zabka 2012, S. 141).

Einerseits scheint auf der Hand zu liegen, dass es ein notwendiges oder angemessenes Verstehen literarischer Texte gibt, beispielsweise weil es Interpretationen gibt, die nachweislich falsch sind. Andererseits sind Kritiker*innen ernst zu nehmen, wenn sie entweder rezeptionsästhetisch auf den Wandel von Lesarten in der Rezeptionsgeschichte verweisen oder hierbei kognitionspsychologisch ←12 | 13→argumentieren. Und tatsächlich ist zu fragen, ob es eine feststehende Angemessenheitsnorm des Verstehens gibt oder nicht – wie z.B. Kohärenz? Radikale Konstruktivist*innen würden dies ohnehin verneinen. Dieser Skeptizismus hebt aber die Gretchenfrage nicht automatisch auf: Gibt es so etwas wie notwendige (Mindest-)Verstehensanforderungen oder sind diese grundsätzlich ein Konstrukt2? Steinmetz und Möbius gehen unter Verweis auf Arbeiten von Irene Pieper davon aus, „dass der literarische Text die Verstehensanforderungen individuell und bis zu einem gewissen Grad autonom bestimmt“ (Möbius/Steinmetz 2016, S. 7). So tritt beispielsweise der „normative Charakter ästhetischer Verfahren“ laut des Staatsrechtlers Christoph Möllers besonders bei Kunstformen auf, welche der Aufführung dienen (vgl. Möllers 2018, S. 250).

Andere Normen im Umgang mit Literatur sind weithin bekannt, wenn es beispielsweise um die Frage nach der einen richtigen Interpretation geht (Knopf 2013, S. 147): Viele Literaturdidaktiker*innen würden diese normative Haltung gerne unterbinden, aber daran zeigt sich wiederum, dass neben der akademischen Lehrer*innenbildung auch andere wirkungsmächtige Instanzen normative Einstellungen im Umgang mit Literatur tradieren.

Aber auch in der universitären Lehrer*innenbildung konstituieren sich seitens der fachwissenschaftlichen Disziplinen Normen: Diese dienen der fachlichen Expertise, dürften jedoch in einem Spannungsverhältnis zum Unterricht und einer möglichen literaturdidaktischen Praxis stehen. So erlangen hier Normen hinsichtlich der Angemessenheit einer wissenschaftlichen Interpretation ihre Geltung: In der Zuschreibung von (in)kohärentem Sinn müssen die Eigenschaften des Textes selbst adäquat berücksichtigt sein (vgl. Zabka 2005, S. 16; Winko 2002, S. 130f.). Zugleich spielen in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Text lebensweltliche Erfahrung und Involviertheit eine marginale Rolle (vgl. Winkler 2015, S. 195). Also nicht nur die Einstellungen zu Unterricht und Vermittlungshandeln bedürfen einer Distanzierung, sondern auch die fachwissenschaftlichen Normen brauchen eine solche, ohne den Bezugspunkt zur Fachwissenschaft selbst zu verlieren. Wie diese Norm überformt wird, zeigen bereits Forschungsbeiträge in den 1970er-Jahren. So bilden die Fallbeispiele u.a. ab, wie die Literaturwissenschaft als interpretatorischer Horizont der Lehrperson für die Schüler*innen unerreichbar bleibt (Eggert, ←13 | 14→Hartmut/Rutschky, Michael 1979, S. 279). Im Unterricht wiederum beobachten wir aus Sicht der rekonstruktiven didaktischen Unterrichtsforschung, dass viel mehr sagbar ist, als wir aus fachwissenschaftlicher Perspektive als angemessen empfinden dürften.

Details

Seiten
214
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631835302
ISBN (ePUB)
9783631835319
ISBN (MOBI)
9783631835326
ISBN (Hardcover)
9783631817322
DOI
10.3726/b17603
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
literarische Praxis Interpretieren empirische Unterrichtsforschung Erwartungen und Überzeugungen Textsorten
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 214 S., 2 farb. Abb., 3 s/w Abb., 5 Tab.

Biographische Angaben

Lydia Brenz (Band-Herausgeber:in) Torsten Pflugmacher (Band-Herausgeber:in)

Lydia Brenz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Georg-August-Universität Göttingen und erforscht rekonstruktiv literarische Verstehens- und Deutungsprozesse im Deutschunterricht. Torsten Pflugmacher ist Universitätsprofessor für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen mit einem Schwerpunkt in rekonstruktiver Unterrichtsforschung.

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