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Rechtstransfer in der Geschichte

Internationale Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 75. Geburtstag

von Gábor Hamza (Band-Herausgeber:in) Milan Hlavačka (Band-Herausgeber:in) Kazuhiro Takii (Band-Herausgeber:in)
©2019 Andere 420 Seiten

Zusammenfassung

Die in der Festschrift veröffentlichten Beiträge stehen mit den weitgefächerten Forschungsgebieten von Wilhelm Brauneder und seinen wissenschaftlichen Kontakten außerhalb des deutschen Sprachraumes im Einklang. Demzufolge werden die Verfassungs- und Verwaltungsprobleme nach dem Ersten Weltkrieg in Ungarn und in Polen, staatliche Strukturen im Fürstentum Liechtenstein, in Brasilien und in Japan untersucht. Weitere Beiträge untersuchen die Wissenschaftsströmungen in Zentraleuropa, die Entwicklungen des Zivilrechts in Rumänien, im Baltikum und im mittelalterlichen Serbien, ferner die Eisenbahnen in den USA im 19. Jahrhundert und das Bildungswesen in China nach 1945.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Würdigung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Christian Alunaru, Arad: Der Einfluss des deutschen Rechtsdenkens auf das rumänische Zivilrecht
  • Balázs Bodzási, Budapest: Die Änderungen der ungarischen Regelungen des Pfandrechts und ihr Verhältnis zur Wirtschaft
  • Maria Rosa Di Simone, Rom: Poveri, vagabondi ed emarginati nella dottrina giuridica tedesca dell’età moderna
  • Andrzej Gulczyński, Poznań: Der Polnische Landtag in Posen (Poznań) 1918 – ein Weg zur Souveränität
  • Gábor Hamza, Budapest: Geschichtliche Entwicklung und Kodifikation des Privatrechts (Zivil- und Handelsrechts) in Lettland (Latvija) bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts
  • Gábor Hamza, Budapest: Grenzfragen von den Pariser Vorortverträgen bis zum Ersten Wiener Schiedsspruch 1938 und seine Folgen
  • Milan Hlavačka, Prag – Martin Pelc, Opava: Anglophilia in Bohemia in the 19th Century: Phrenology, Self-government, Social Question, Darwinism, and Sport
  • Corjo J. H. Jansen, Nijmegen: Pandectism: A Sullied Reputation
  • Janez Kranjc, Ljubljana: Die Zeit der Illyrischen Provinzen im slowenischen kollektiven Gedächtnis
  • Marju Luts-Sootak, Tartu: Zur Verortung des Baltischen Privatrechts (1864/65) unter den europäischen Privatrechtskodifikationen
  • Zoltán Tibor Pállinger, Budapest: Die Frage der inneren Souveränität im Fürstentum Liechtenstein im Spannungsfeld zwischen demokratischem und monarchischem Prinzip
  • Claes Peterson, Stockholm: Das Rechtssystem und die soziale Wirklichkeit:
  • Estevão de Rezende Martins, Brasília: Föderalismus und föderative Institutionen in Brasilien nach der Bundesverfassung 19881
  • Steven Rowan, St. Louis: „Unter Volldampf“ mit Clara von Gerstner
  • Marie Sandström, Stockholm: „Ein Mann aus einem Guss“. Ernst Landsberg über Friedrich Julius Stahl
  • Srđan Šarkić, Novi Sad: Die Gründe für die Ehescheidung im serbischen mittelalterlichen Recht1
  • Shen Han, Nanjing: Reflection on the Movement of Educated Urban School Leavers to Countryside of China in 1960s
  • István Szabó, Budapest: Das Oberpatronatsrecht und der Reichsverweser (1920–1944)1
  • Kazuhiro Takii, Kyoto: Itô Hirobumi und der japanische Konstitutionalismus. Ein kurzes Porträt eines Verfassungsdenkers
  • Tabellenverzeichnis
  • Wilhelm Brauneder – Werkverzeichnis
  • Über die Autoren

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Christian Alunaru, Arad

Der Einfluss des deutschen Rechtsdenkens auf das rumänische Zivilrecht

Abstract: The influence of the German legal thought was already noticeable in Romania when the Moldavian Prince Scarlat Callimachi enforced his code which was considered as a copy of the Austrian ABGB. A clear influence of the German legal thought can be found in the former Austrian provinces which unified with the Romanian Kingdom in 1918, because here the ABGB still remained in force until 1943 and the Austrian Real Estate Register was further maintained. The new Romanian civil code contains undoubted examples for the influence of the German legal thought.

I Bedeutung und Aktualität des Themas

Den Einfluss des deutschen Rechtsdenkens in Mitteleuropa zu erforschen ist meiner Meinung nach ein höchst aktuelles Thema in dieser Zeit, wo die anglo-amerikanische Offensive im europäischen Recht deutlich zu spüren ist. Darüber wurde in Bukarest während des von der Rechtsanwaltskammer Rumäniens zusammen mit dem Deutschen Anwaltverein am 9. September 2014 veranstalteten Symposiums heftig debattiert. Das Thema des Symposiums war „Law made in Germany“ und das Ziel der vom Präsidenten des Deutschen Anwaltvereins, Prof. Dr. Wolfgang Ewer, geleiteten deutschen Delegation bestand darin, die Vorteile des deutschen Vertragsrechts im Vergleich zum angelsächsischen Recht zu erläutern, damit die Parteien eines grenzüberschreitenden Vertrags das deutsche Recht als anwendbares Recht wählen sollen.

Es ist erwähnenswert, dass dieser Einfluss des deutschen Rechtsdenkens in verschiedenen Ländern Europas Interesse geweckt hat. So hat z.B. am 22. Oktober 2014 an der Andrássy-Universität in Budapest eine internationale Konferenz zum Thema „Einfluss des deutschen Rechtsdenkens in Mitteleuropa“ stattgefunden, wo ich zum ersten Mal versucht habe zu beweisen, dass dieser deutsche Einfluss auch dem rumänischen Zivilrecht nicht fremd ist. Die Bedeutung des deutschen Rechtsdenkens hervorzuheben war auch der eigentliche Zweck des von der Jagiellonen-Universität Krakau veranstalteten Seminars „Struggle for Law and the continental legal tradition“ vom 9. bis 10. März 2017. Es war eine Debatte über die von Rudolf von Ihering in seinem am 12. März 1872 vor der Juristischen Gesellschaft in Wien gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Kampf um’s Recht“1 ausgedrückten ←11 | 12→revolutionären Ideen. Der Vortrag, der ab 1874 in Schriftform erweitert abgefasst und in 20 Sprachen übersetzt wurde2, war sein Abschiedsgeschenk an Wien, das er für Göttingen verlassen hat.

Die Tendenz, dass die öffentliche Sprache der internationalen Konferenzen Englisch sein soll, hat sich auch in Krakau durchgesetzt, folglich wurde das deutsche Werk Iherings in englischer Sprache analysiert. Das hat die Übersetzung einiger von Ihering verwendeten Rechtsbegriffe vorausgesetzt. Doch hat sich die Übersetzung einiger Begriffe, die für das Rechtsdenken Iherings spezifisch sind, als besonders schwierig erwiesen. Sogar der Titel seines Vortrags „Kampf um’s Recht“ ist meiner Meinung nach etwas unbeholfen mit „Struggle for law“ übersetzt, weil „law“ sowohl „Recht“ als auch „Gesetz“, „Jura“ oder „Jus“3 bedeutet. Folglich ist der Sinn der von Ihering vorgebrachten Ideen durch die Übersetzung entstellt. Der von Ihering verwendete Begriff „Rechtsgefühl“ wurde in der Literatur größtenteils in „the feeling of the legal right“ (Struggle for Law, 1879, ins Englische übersetzt von John J. Lalor) und „the sense of justice“ (beispielsweise Wolfgang Fikentscher, Manfred Rehbinder) übersetzt. Das ist aber recht problematisch, da der englische Ausdruck „right“4 an sich schon schwer zu übersetzen ist und den Begriff „Rechtsgefühl“ zu stark ins Subjektive bewertet. Auch „law“ wäre nicht passend. „Justice“ (Gerechtigkeit)5 trifft die Bedeutung auch nicht. Der Ausdruck „legal sentiment“ wäre dem deutschen Begriff „Rechtsgefühl“ am nächsten. Aber keine dieser Übersetzungen ist zufriedenstellend. Aus diesem Grund hat die Autorin6 des Beitrags „Ihering’s concept of Rechtsgefühl and its role in Struggle for Law“ diesen Begriff bewusst nicht ins Englische übersetzt, obwohl der Beitrag in englischer Sprache verfasst wurde.

Diese Auseinandersetzung zwischen dem deutschen und dem angloamerikanischen Recht ist kein rein theoretisches Problem, sondern auch ein wirtschaftliches. Britische, aber hauptsächlich amerikanische große Konzerne überwältigen Europa mit ihren ausführlichen Verträgen, mit Klauseln, die ihrer Auffassung gemäß gestaltet sind, und setzen so die Grundsätze des angelsächsischen Rechtssystems durch.

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Was die wissenschaftliche Forschung betrifft, ist auch hier der englische Einfluss deutlich zu spüren. Die Verhandlungen des Europäischen Rechtsinstituts (ELI) wie auch vieler europäischer Konferenzen verlaufen in englischer Sprache. Manche Rechtswissenschaftler stellen sich aber eine berechtigte Frage: Was begründet noch nach dem „Brexit“7 die Verwendung des Englischen als Amtssprache der juristischen Konferenzen nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU?8 Es ist aber keine Frage der Sprache oder der Grammatik, sondern der Rechtsbegriffe. Nicht nur die Begriffe sind verschieden, vielmehr geht es um die Mentalität, die Auffassung von Juristen, die von ganz unterschiedlichen Rechtssystemen beeinflusst sind.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Begriff „property“, der in England nicht das im französischen, rumänischen oder deutschen Rechtssystem bekannte „Eigentumsrecht“ bedeutet, sondern „Grundstück“, „Besitztum“, „Gut“, oder „Vermögen“9. Die französische (und belgische) Rechtslehre war der Meinung, dass der englische Begriff „ownership“ viel näher der französischen Auffassung vom Eigentum („proprieté“) wäre10. Die rumänische Rechtslehre11 hat, nach dem Vorbild der französischen12, das Risiko der Versetzung einiger Rechtsbegriffe aus einem Rechtssystem ins andere hauptsächlich mit Bezug auf das geistige Eigentum betont. Sogar der Begriff „geistiges Eigentum“ (propriété intellectuelle) wurde von Andrée Puttemans als eine Folge der fehlerhaften Übersetzung des Begriffes „property“ aus dem Englischen ins Französische mit dem Wort „propriété“ betrachtet, zum Trotz der Tatsache, dass der Begriff „propriété intellectuelle“ sogar von den Autoren, die ihn bestreiten, als ein Adelstitel anerkannt wurde und dass dieser Begriff als Adelstitel in den internationalen Wortschatz eingedrungen ist.13

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Es gibt auch andere Begriffe, die im kontinentalen Recht eine andere Bedeutung haben als im angelsächsischen Recht. „Compensation“ wird in der englischen Rechtssprache für Schadenersatz verwendet (französisch: réparation civile, indemnisation, dommages-intérêts), ist aber für den rumänischen und französischen Juristen irreführend, weil im Französischen wie im Rumänischen „compensation“ „Ausgleich“ bedeutet.

Auch die heutige Tendenz, den englischen Begriff „copyright“ statt „Urheberrecht“ zu verwenden (rumänisch: drept de autor, französisch: droit d’auteur), als ob diese Synonyme wären, ist kritisierbar, weil diese eine verschiedene Bedeutung haben. Diese verschiedene Bedeutung hat, der Rechtslehre gemäß, ihren Ursprung in zwei verschiedenen, sogar entgegengesetzten wirtschaftlichen und kulturellen Auffassungen: die Auffassung Amerikas und die des kontinentalen Europas. Im europäischen System haben die Rechte und Interessen des Urhebers Vorrang, während im amerikanischen System die Interessen des Verbrauchers, der Wissenschaft und Industrie vorherrschen, die die immateriellen Rechte des Urhebers ignorieren. Im Copyright-System sind das Publikum und der Investor privilegiert, während im kontinentalen Urheberrechtssystem der Urheber bevorzugt wird. Im Mittelpunkt des Berner Übereinkommens14 stehen der Urheber und seine immateriellen Rechte, während im Copyright-System der Akzent auf das Werk und auf die Vermögensrechte gesetzt wird. Im amerikanischen System ist das Rechtsinstitut „copyright“ eher ein Begriff des Handelsrechts als ein Begriff der geistigen Schöpfung15. Zwar wurden mit dem Beitritt der USA zum Berner Übereinkommen (am 1. März 1989) die Unterschiede zwischen den beiden Systemen abgemildert, doch das begründet immer noch nicht die Verwendung des englischen statt des deutschen oder französischen Begriffs. Ein anderes Beispiel für dieses künstlich geschaffene, kontinental-englische Juristenenglisch ist die ungeschickte Übersetzung des Obersten Gerichtshofs aus Frankreich (Cour de Cassation, rumänisch: Înalta Curte de Casație și Justiție) mit „Court of Cassation“. Und diese Aufzählung könnte fortgesetzt werden.

Wird es in naher Zukunft ein einheitliches europäisches Zivilrecht geben, das die Möglichkeit, einen Vertrag dem angelsächsischen Rechtssystem zu unterwerfen, ausschließt? Aus dem Projekt des Europäischen Kaufrechts (CESL) geht hervor, dass dieses gemeinsame Recht nur als ein optionales Recht erdacht ist. Auch was ein Europäisches Zivilgesetzbuch betrifft, haben ←14 | 15→sich inzwischen das Europäische Parlament und tendenziell auch die Kommission für einen optionalen Kodex ausgesprochen16, wie ihn schon vor mehr als zehn Jahren Stefan Grundmann bei der Wiener Konferenz zum Thema „Das ABGB auf dem Weg in das 3. Jahrtausend. Reformbedarf und Reform“ vorgestellt hat. Die Perspektive eines Europäischen Zivilgesetzbuchs ist jedoch noch weit entfernt und ein optionaler Kodex bedeutet nicht, dass die nationalen Rechtssysteme ersetzt werden. Es stellt sich somit die berechtigte Frage: Was setzt das europäische kontinentale Recht dieser angelsächsischen Offensive entgegen? Ist das kontinentale Recht einheitlich? Bestimmt nicht. Es gibt wenigstens zwei große Rechtssysteme: das deutsche und das französische.

II Das rumänische Zivilrecht und die Einflüsse des ABGB in den ehemaligen österreichischen Provinzen und im Fürstentum Moldau

Das rumänische Recht ist von seinem Ursprung her durch das französische Recht beeinflusst. Das stammt daher, dass das erste rumänische Zivilgesetzbuch, das im Jahre 1864 verabschiedet wurde und am 1. Dezember 1865 in Kraft getreten ist, trotz anderer Gesetze jener Zeit, die als Quellen verwendet wurden (wie z.B. das belgische Hypothekengesetz vom 16. Dezember 1851, der Zivilgesetzbuchentwurf von Pissanelli und einige Vorschriften des alten rumänischen Rechts), als eine Nachahmung des französischen Code Napoléon betrachtet wurde.

Die Erklärung für diesen wichtigen französischen Einfluss, trotz der Tatsache, dass keines der rumänischen Fürstentümer während der Geschichte unter französischer Herrschaft oder Oberhoheit geraten ist, kann auch jene sein, dass Frankreich die Vereinigung der beiden außerhalb des Karpatenbogens gelegenen rumänischen Fürstentümer (der Walachei und der Moldau) im Jahre 1859 unterstützt hat. Es sind nicht nur der französische Kaiser Napoleon III., sondern auch viele Persönlichkeiten Frankreichs, wie Jules Michelet, Edgar Quinet, Paul Bataillard, Elias Regnault und Thibault-Lefevre gemeint, die gute Beziehungen zu den rumänischen Intellektuellen ←15 | 16→hatten und Beiträge über die beiden Fürstentümer geschrieben haben, durch welche diese in Frankreich bekannt wurden17. Es scheint also eine unmögliche Aufgabe zu sein, den Einfluss des deutschen Rechtsdenkens auf ein Rechtssystem zu suchen, das sich von Anfang an als ein Nachfolger des Code Napoléon verstanden hat.

Rumänien war aber sehr nahe daran, ein vom österreichischen ABGB beeinflusstes Zivilgesetzbuch zu haben. Wer die Geschichte Rumäniens kennt und weiß, dass der heutige rumänische Staat hauptsächlich durch die Vereinigung der drei großen Fürstentümer Moldau (Moldawien), Walachei und Siebenbürgen (Transsylvanien) entstanden ist, denkt, dass das Verbindungselement zwischen dem rumänischen Rechtssystem und dem ABGB nur Siebenbürgen sein kann, weil es vor 1918 zu Österreich-Ungarn gehört hat und hier das österreichische ABGB noch 25 Jahre nach der Vereinigung mit dem Königreich Rumänien (also bis 1943) in Kraft geblieben ist18. Selbst nach 1943, als das rumänische Zivilgesetzbuch in Siebenbürgen eingeführt wurde, wurde das Grundbuchsystem aus der österreichischen Zeit beibehalten, obwohl es den Grundsätzen des französisch beeinflussten rumänischen Rechts, hauptsächlich dem Konsensualprinzip, widersprach. Es mussten Sondervorschriften für die ehemaligen österreichischen Provinzen (Siebenbürgen, Banat und Bukowina) erlassen werden, die vor allem den Eintragungsgrundsatz (das Intabulationsprinzip) vorgeschrieben haben, und die österreichischen Grundbücher wurden einer rumänischen Grundbuchordnung (Gesetz Nr. 115/1938) unterworfen.

Das sind also die Argumente, die Siebenbürgen (Transsylvanien) als Verbindungselement zwischen dem ABGB und dem rumänischen Recht angeben. Doch die Überraschung kam aus der Moldau, einem Fürstentum, das zu jener Zeit noch Vasall des Osmanischen Reiches war. Darüber hinaus wurden zwischen 1711 und 1821 die moldawischen Fürsten (wie auch die walachischen) vom Sultan aus den griechischen Familien des Stadtviertels Fanar in Istanbul ernannt.

Wie es dazu kam, dass der moldawische Fürst Scarlat Calimach19 (1806, 1807–1810, 1812–1819) im Jahre 1817 ein Zivilgesetzbuch („Code ←16 | 17→Callimaque“)20 verabschiedet hat, das ein getreues Abbild des österreichischen ABGB war, ist eine lange und lustige Geschichte, für die hier leider nicht genügend Raum vorhanden ist. Für die Kommentatoren aber, die die Behauptung des griechischen Professors Triandaphylopoulos in seinem Aufsatz „Sur les sources du code Callimaque“, dass dieses Gesetzbuch „une copie fidèle du code autrichien“21 sei, bestreiten, muss ich Folgendes erläutern: Der wahre Verfasser dieses Gesetzbuches war der wichtigste und gebildetste Mitarbeiter22 des Fürsten, der Rechtsprofessor Christian Flechtenmacher, seinerzeit der berühmteste Jurist des Fürstentums Moldau. Und dieser war ein ehemaliger Student Franz von Zeillers, dem Verfasser des ABGB! Es war ein Siebenbürger Sachse aus Kronstadt (Brașov), der seinen Doktortitel in Wien – als Student Franz von Zeillers – erworben hatte und daher für seinen Kommentar zum neuen Moldawischen Gesetzbuch den Kommentar seines Meister verwendete.

Dieses Gesetzbuch des Fürsten Callimachi hat als Quelle das österreichische ABGB, wurde aber ursprünglich in griechischer Sprache, der Amtssprache der Justiz in den rumänischen Fürstentümern, verfasst. Es wurde erst später von E. K. Zachariae von Lingenthal ins Deutsche übersetzt und im Vorwort zu der zweiten Auflage seines Werks „Geschichte des griechisch-römischen Rechts“ veröffentlicht.23

Manche der rumänischen Kommentatoren bekämpfen die Behauptung, dass der Codex Calimach ein getreues Abbild des ABGB wäre.24 Diese Kommentatoren bauen ihre Theorie auf den Quellen des Codex sowie auch auf den Berichten verschiedener ausländischer Persönlichkeiten jener Zeit auf, welche das moldawische Gesetzbuch nicht als eine Kopie des ABGB beschreiben. Diese Quellen sind in der Verkündungsverordnung des Fürsten angegeben: das römische und griechisch-römische Recht, insbesondere die ←17 | 18→Basiliken, einem Meisterwerk des byzantinischen Rechts, die Kaiser Leon VI., dem Philosophen (886–911), zu verdanken sind.

Doch als Gegenargument zitiere ich, außer der kategorischen Meinung des griechischen Professors Triandaphylopoulos, auch die Behauptung eines anderen griechischen Professors: Mantzufa behauptet in seiner Vorlesung an der Universität Innsbruck mit dem Titel „Zeillers Kommentar, das Vorbild des Codex Calimach“, dass „die Verfasser des Gesetzbuches Callimachi das ABGB und andere österreichische Gesetze nicht nur verwendet und unschöpferisch zusammengestellt, sondern in vielen Artikeln und Randnoten den Kommentar Franz von Zeillers (Verfasser des österreichischen Zivilgesetzbuches und Dekan der Rechtsfakultät in Wien) zum ABGB, regelrecht kopiert haben“.25

Eloquent ist auch die Behauptung des österreichischen Vertreters Raab in Iassy (Iaşi), der Hauptstadt des Fürstentums Moldau. Dieser sandte am 28. August 1818 der Kaiserlich-Königlichen Hofbibliothek die griechische Ausgabe des Moldawischen Gesetzbuches, „so wie bis jetzt noch keine in der Moldau erschienen ist“, und schrieb, dass auch die moldawische Fassung folge, sobald diese erscheinen würde.26 Der österreichische Vertreter behauptete, dass als Vorbild für dieses Gesetzbuch, das dem Fürsten Ehre mache, das ABGB diente. „Die Gesetze sind genau so wie unsere, doch wurden jene Vorschriften behalten, die hier kraft der Sitten und Gebräuche noch gelten.“27 Sogar der berühmte rumänische Zivilrechtsprofessor Dimitrie Alexandresco musste zugeben, dass der Codex „einen großen Teil des österreichischen Zivilgesetzbuches, das einige Jahre davor erschienen ist, vielleicht mit einigen Änderungen, wiedergibt“28.

Die internationalen Verhältnisse in Europa zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten eine Verschiebung der politischen Interessen der vereinigten rumänischen Fürstentümer von Österreich nach Frankreich zur Folge. Frankreich hat die Vereinigung der beiden rumänischen Fürstentümer (Moldau und Walachei) unterstützt, Österreich nicht. So diente als Vorbild für das ←18 | 19→rumänische Zivilgesetzbuch statt des ABGB nun das französische Gesetzbuch.

Wäre diese Kopie des österreichischen ABGB auch nach der Vereinigung der Moldau mit der Walachei in Kraft geblieben, hätten wir heute fast gar keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Grundsätzen des österreichischen und des rumänischen Rechts zu analysieren. Das rumänische Zivilrecht wäre weiter unter dem Einfluss des deutschen Rechtsdenkens gestanden. Der „Codex civilis Moldaviae“ oder „Codex Callimach“ wurde aber am 1. Dezember 1865 durch das vom französischen Recht beeinflusste Zivilgesetzbuch des neu entstandenen rumänischen Staats (unter Fürst Alexandru Ioan Cuza) ersetzt. Statt eines Zivilgesetzbuchs österreichischer Abstammung hat sich Rumänien durch die Verabschiedung des Zivilgesetzbuchs von 1865, einer Nachahmung des Code Napoléon, für das französische Rechtssystem entschieden. Von nun an stand das ganze Zivilrecht, mit wenigen Ausnahmen, unter französischem Einfluss. Die meisten Rechtsinstitute, sogar die Rechtssprache, wurden aus dem französischen Recht übernommen. Das rumänische Privatrecht schien sich in diesem Augenblick vom deutschen Rechtsdenken für immer entfernt zu haben.

Warum der erste Fürst der vereinigten Fürstentümer Moldau und Walachei, Alexandru Ioan Cuza, den Code Napoléon und nicht das ABGB als Vorbild gewählt hat, habe ich schon erklärt. Vom deutschen BGB konnte zu der Zeit noch nicht die Rede sein, weil das BGB erst 1896 verabschiedet wurde. Folglich ist es verständlich, warum der Nachfolger des Fürsten Cuza, ein deutscher Fürst, kein deutsches Zivilrecht eingeführt hat. Schon wenige Monate, nachdem das rumänische ZGB von 1864 in Kraft getreten ist (also am 1. Dezember 1865), musste Fürst Cuza im Jahre 1866 abdanken und sein Nachfolger wurde Fürst Karl von Hohenzollern Sigmaringen. Nachdem der neue Staat Rumänien im Jahre 1877 als Folge des Kriegs gegen das Osmanische Reich unabhängig wurde, wurde 1881 Karl von Hohenzollern zum „König Carol I. von Rumänien“ erklärt. Das Zivilgesetzbuch von 1864 blieb weiterhin in Kraft. Auf diese Weise blieb das rumänische Zivilrecht für lange Zeit in bedeutendem Maße von den Grundsätzen des französischen Rechts geprägt.

III Die unmittelbare Anwendung des ABGB in den ehemaligen österreichischen Provinzen nach deren Vereinigung mit Rumänien

Das Vierteljahrhundert, in dem das ABGB in den einstigen österreichischen Provinzen (Siebenbürgen, Banat, Bukowina) nach deren Vereinigung mit Rumänien in Kraft geblieben ist, hat eine in das französisch-beeinflusste rumänische Rechtssystem geschlagene Bresche bedeutet. Wie kam es dazu, ←19 | 20→dass das österreichische Zivilgesetzbuch so lange in einem fremden Land beibehalten wurde?

Durch den Vertrag von Sévres vom 10. August 1920 wurde die Vereinigung der ehemaligen österreichisch-ungarischen Provinzen mit dem Königreich Rumänien, die eigentlich schon im Jahre 1918 de facto aufgrund von Nationalversammlungen verwirklicht wurde, anerkannt.29 Doch die politische Einheit bedeutete noch lange nicht zugleich auch die Vereinheitlichung der Gesetzgebung. Es war nicht leicht, in Provinzen, in welchen das ABGB gegolten hatte, ein völlig neues Rechtssystem einzuführen.

Wie aus dem Bericht des Ministerpräsidenten Ion Gigurtu und des Justizministers Ion V. Gruia vom 26. August 1940 über das Projekt des Zivilgesetzbuchs von König Karl II. hervorgeht30, ist „die Einheit der Rechtsordnung (Gesetzgebung) im Bereich Zivilrecht nicht direkt und unvermeidlich mit der politischen und nationalen Einheit des Staates verbunden, so wie es die öffentliche Rechtsordnung ist. Deshalb wurde die Vereinheitlichung des öffentlichen Rechts gleich nach der Entstehung des Einheitsstaates Rumänien verwirklicht. Die politische Einheit wie auch die Einheit des nationalen Bewusstseins haben dann die Vereinheitlichung des Zivilrechts durchgesetzt. Schon in Art. 137 der Verfassung vom 29. März 1923 stand es deutlich: Es werden alle in verschiedenen Teilen des Rumänischen Staates bestehenden Gesetzbücher und Gesetze revidiert um sie mit diesem Grundgesetz zu harmonisieren und die Einheit der Gesetzgebung zu sichern“31.

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Im sogenannten „Alten Rumänischen Königreich“ stand seit dem 1. Dezember 1865 das rumänische Zivilgesetzbuch („Codul civil român“) in Kraft, das, wie schon vorher erläutert, eine Nachahmung des Code Napoléon war. Obwohl es als Quellen auch andere Gesetze dieser Zeit verwendet hat und deshalb kein getreues Abbild seines französischen Vorbilds war, ist eines sicher: Das rumänische Zivilrechtssystem, das man in den neuen Provinzen einführen wollte, unterschied sich wesentlich vom hier geltenden österreichischen Recht.

Ein wichtiger Unterschied betraf die Eigentumsübertragung. Das Zivilrechtssystem des rumänischen Staats war, unter französischem Einfluss, dem Grundsatz der Formfreiheit des Rechtsgeschäfts, dem „Konsensualismus“ unterworfen. Dieser Grundsatz bedeutet aber viel mehr als der „Grundsatz der Formfreiheit“ (§ 883 ABGB), d.h. mehr, als dass der Abschluss des Rechtsgeschäfts an keine besondere Form gebunden ist.32 Aus dem Grundsatz, dass die Übertragung des Eigentumsrechts durch einfache mündliche Einigung des Veräußerers und des Erwerbers möglich ist, ergibt sich, dass so ein Rechtsgeschäft gleichzeitig Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft ist. Es fehlt also die „Zweiaktigkeit“ des sachenrechtlichen Rechtsgeschäfts33 (§ 380 ABGB), oder, wie es in der deutschen Rechtslehre heißt, das Trennungsprinzip, d.h. die „systematische Trennung zwischen dem Verpflichtungsgeschäft und der dinglichen Rechtsänderung“. Folglich fehlt auch die im deutschen BGB geltende „Abstraktheit“ der dinglichen Rechtsgeschäfte („Abstraktionsprinzip“).34 Im Unterschied zum österreichischen Recht, das noch in den neuen rumänischen Provinzen galt, fehlte der für den Rechtserwerb erforderliche „Modus“ – die Übergabe für bewegliche Sachen und die grundbücherliche Eintragung für Liegenschaften.35

Die Übertragung des Eigentums erfolgte bei unbeweglichen Sachen nur durch die Einigung der Vertragsparteien. Dieser Erwerb wirkte jedoch nur inter partes. Erga tertios (erga omnes) wirkte das Erwerbsgeschäft nur durch Eintragung (Umschreibung) im Register zur Eintragung und Bekanntmachung der Grundstücksgeschäfte, welches kein Grundbuch im österreichischen Sinne war. Diese Art der Eintragung stammte aus dem Feudalrecht36 ←21 | 22→und bestand in der buchstäblichen Umschreibung der „übertragenden“ Rechtsgeschäfte, also jener Verträge, die gleichzeitig Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäfte in einem sind, sowie auch jener dinglichen Rechte an Liegenschaften, die verpfändet werden können.37 Bei beweglichen Sachen beruhte die Eigentumsübertragung auch nur auf der Willensübereinstimmung der Vertragsparteien, welche jedoch sowohl inter partes als auch erga tertios wirkte. Die Tradition (Übergabe) spielte überhaupt keine Rolle. Obwohl Art. 644 des rumänischen ZGB von 1865 die Übergabe im Zusammenhang mit den verschiedenen Erwerbsarten des Eigentums aufzählte, regelten Art. 971 als lex generalis und Art. 1295 Abs. 1 als lex specialis für den Kauf, den formfreien Erwerb des Eigentums (an beweglichen und unbeweglichen Sachen) allein durch Einigung.

In den ehemaligen österreichischen Provinzen ist diese konsensualistische Auffassung auf die österreichischen Grundbücher gestoßen, wo die Eigentumsübertragung nur durch Eintragung ins Grundbuch erfolgen konnte. Diese Kollision hätte durch die Abschaffung des Grundbuchsystems gelöst werden können. Die rumänische Verwaltung hat aber die Überlegenheit des österreichischen Grundbuchsystems dem französischen Publizitätssystem mit seinen Registern zur Eintragung und Bekanntmachung der Grundstücksgeschäfte gegenüber eingesehen38 und die österreichischen Grundbücher beibehalten. Deshalb wurde die Einführung des rumänischen Zivilrechtssystems in diesen Provinzen bis zur Einführung des Grundbuchsystems in ganz Rumänien und der Verfassung eines neuen Zivilgesetzbuchs, das dem neuen Publizitätssystem angepasst sein sollte, verschoben.39

←22 | 23→

Zum selben Zweck der Vereinheitlichung des Zivilrechts in Rumänien wurde auch ein neues „einheitliches Zivilgesetzbuch“ („Codul civil unificat“) am 6. September 1940 verabschiedet, das dem neuen Publizitätssystem der Grundbücher angepasst war. Doch wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs ist dieses Gesetzbuch nicht mehr in Kraft getreten.40 Die Bedeutung dieses Projekts wird im nächsten Abschnitt ausführlicher erläutert werden. Weil das einheitliche Zivilgesetzbuch nicht in Kraft gesetzt werden konnte, wurde durch das Gesetz Nr. 389 vom 22. Juni 1943 in Siebenbürgen das alte rumänische Zivilgesetzbuch von 1865 eingeführt, das das ABGB ersetzt hat, doch die Grundbücher und die Rechtsordnung, welcher diese unterworfen waren, wurden weiter beibehalten.41

Im Norden Siebenbürgens, der durch den Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 ein Teil von Ungarn geworden ist, wurde das rumänische Zivilgesetzbuch durch die Verordnung Nr. 1945/260 eingeführt.

Man kann also feststellen, dass das ABGB in den ehemaligen österreichischen Provinzen noch ein Vierteljahrhundert nach der Vereinigung mit Rumänien in Kraft geblieben ist. Für einen Einheitsstaat, als den sich das Königreich Rumänien bezeichnete, stellte die Beibehaltung des ABGB etwas Besonderes dar, denn sie verursachte einen räumlichen Normenkonflikt nicht nur bezüglich des Publizitätssystems der Liegenschaftsrechte, sondern auch des materiellen Zivilrechts.

Die Beibehaltung des ABGB in einem wichtigen Teil Rumäniens hatte zur Folge, dass dieses Gesetzbuch in die rumänische Sprache übersetzt42 und von der Rechtswissenschaft43 kommentiert wurde, sowie auch, dass an den ←23 | 24→Universitäten in diesen Provinzen, wie z.B. an der Universität „König Ferdinand“ in Klausenburg (Cluj), der Hauptstadt Siebenbürgens, österreichisches Zivilrecht unterrichtet wurde44.

Scheinbar sollte die Einführung des rumänischen Zivilgesetzbuchs das Ende der Anwendbarkeit des ABGB in Rumänien bedeuten. Es war aber nicht so. Sondergesetze ermöglichten noch viele Jahre nach der Einführung der rumänischen Zivilrechtsordnung in Siebenbürgen die Anwendung des ABGB. So machten z.B. die Übergangsvorschriften des Ausführungsgesetzes der rumänischen Grundbuchsordnung in Siebenbürgen (Gesetz vom 12.7.1947/241) das österreichische materielle Recht (§§ 1468, 1470, 1477 ABGB) im Falle der Ersitzung unter bestimmten Umständen auch heute noch anwendbar.45 Wenn die Ausübung des qualifizierten Besitzes vor dem 22. Juli 1943 begonnen hat, ist die Rechtswirkung der Ersitzung dem Gesetz unterworfen, das zu diesem Zeitpunkt in Kraft war (Art. 6 Abs. 2), also dem österreichischen ABGB.

IV Einige Erläuterungen zum Zivilgesetzbuchentwurf46 von König Karl II.

Wie schon im vorigen Abschnitt erwähnt, gehört zu den Versuchen, das Zivilrecht in Rumänien zu vereinheitlichen, auch der Zivilgesetzbuchentwurf von ←24 | 25→König Karl II., das sogenannte „Einheitliche Zivilgesetzbuch“ („Codul civil unificat“) vom 6. September 1940, das wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs nicht mehr in Kraft getreten ist. Dieses Gesetzbuch hatte versucht, das rumänische Zivilrecht dem neuen, durch die Vereinigung der ehemaligen österreichischen Provinzen mit Rumänien übernommenen Publizitätssystem der Grundbücher anzupassen.

Weil der Hauptzweck dieses Beitrags die Erforschung des Einflusses des deutschen Rechtsdenkens ist, werde ich kurz den Einfluss dieses Rechtsdenkens im Zivilgesetzbuchentwurf von König Karl II. hervorheben. Der besondere Wert dieses Zivilgesetzbuchs wurde im Rahmen der von der Universität Regensburg veranstalteten Tagung mit dem Thema „Nichtgeborene Kinder des Liberalismus? Zivilgesetzgebung im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit“ (20.–21. Oktober 2016) hervorgehoben. Schon im Flyer der Tagung haben die Organisatoren einige Grundsätze bezüglich der Zivilgesetzgebung der Zwischenkriegszeit zum Ausdruck gebracht: „Die nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Staaten im östlichen Mitteleuropa übernehmen vielfach zunächst das bislang auf ihrem Territorium geltende Recht. Jedoch wird schon bald die Schaffung einer eigenen, einheitlichen Rechtsordnung angestrebt durch die Neuregelung zentraler Rechtsbereiche, insbesondere des Zivilrechts. Diese Entwürfe stehen an einer Schwelle. Einerseits sind sie die vielleicht letzten großen Leistungen des Zeitalters der liberalen Zivilrechtskodifikationen, das mit dem französischen Code Civil beginnt und an dessen Ende mit dem Diktum Wieackers das deutsche BGB «als ein spät geborenes Kind des Liberalismus» steht, so dass sie gleichsam als nichtgeborene Kinder des Liberalismus erscheinen mögen. Andererseits können im Anschluss an die europäische Entwicklung der Zwischenkriegszeit auch schon stärkere soziale oder paternalistische Tendenzen zu spüren sein, die den Übergang zum heutigen sozialen Privatrecht markieren. Allen Texten ist gemeinsam, dass sie sich durch hohe Qualität auszeichnen. Jeder Einzelne von ihnen verdient eine intensive wissenschaftliche Bearbeitung.“

Aus diesen Sätzen können einige wichtige Schlussfolgerungen gezogen werden. Erstens hat auch Rumänien, wie die anderen nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Staaten im östlichen Mitteleuropa, zunächst das bislang auf einem Teil ihres Territoriums geltende Recht, in diesem Fall das österreichische Recht, übernommen. Wie auch in den Nachbarländern wurde schon bald die Schaffung einer eigenen, einheitlichen Rechtsordnung angestrebt und zwar durch die Neuregelung zentraler Rechtsbereiche, insbesondere des Zivilrechts. So wurde das Zivilgesetzbuch König Karls II. verabschiedet, das sich „durch hohe Qualität auszeichnet“. Weil dieses Zivilgesetzbuch wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs nie in ←25 | 26→Kraft getreten ist, kann es deshalb als ein „nichtgeborenes Kind des Zivilrechts“ bezeichnet werden.

So wie es aus dem Bericht des Justizministers Ion V. Gruia vom 26. August 194047 hervorgeht, weist die Vereinheitlichung des Zivilrechts in Rumänien eine spezifische Eigentümlichkeit auf. Auf dem Gebiet Rumäniens sind zwei große Rechtstendenzen, welche unseren Kontinent teilen, zusammengestoßen: Die französische, vertreten durch das Zivilgesetzbuch des alten Königreichs Rumänien, und die deutsche Rechtsströmung, verkörpert durch die modernen ungarischen Gesetze und durch das österreichische Bürgerliche Gesetzbuch, hauptsächlich das novellierte ABGB. Eine Synthese dieser Rechtsordnungen zu verwirklichen bedeutet, den Stamm des alten, vom französischen Recht beeinflussten Zivilgesetzbuchs mit den überlegenen Rechtsfiguren des deutschen Rechts zu veredeln.48 Es sollte auch die Methode anderer Gesetzbücher, die nach dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch in Kraft gesetzt wurden, verwendet werden. Die Eigenart der Vereinheitlichung des rumänischen Zivilrechts legitimiert folglich die Anwendung jener Gesetzbücher, die die Fortschritte der Rechtswissenschaft nach dem Jahr 1804 verkörpern. Der Minister behauptet, dass sich die Novellierung des ursprünglichen Entwurfs des ZGB von 1939 wichtige Teile dieser modernen Gesetzbücher ausgeliehen hat. Es werden folgende zitiert: das deutsche BGB, ein wissenschaftliches und technisches Meisterwerk; das schweizerische Zivilgesetzbuch, eine glückliche Zusammenstellung des romanischen und germanischen Rechtssystems; das brasilianische Zivilgesetzbuch; das chinesische Zivilgesetzbuch, das nichts anderes ist als ein deutsches Gesetzbuch, das im lateinischen Geist seines Verfassers, ←26 | 27→dem Franzosen Escara, ausgearbeitet ist; das französische Obligationengesetzbuch aus dem Libanon; das polnische Obligationengesetzbuch, ein gesetzgeberisches Meisterwerk von hohem wissenschaftlichem Wert, das durch die Verschmelzung des französisch-italienischen Entwurfs eines Gesetzbuchs der Verträge und der Obligationen mit dem ursprünglichen Projekt deutscher Inspiration entstanden ist; der Entwurf des italienischen Zivilgesetzbuchs, der teilweise in Kraft getreten ist und einen bedeutenden deutschen Einfluss aufweist.

Details

Seiten
420
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631800782
ISBN (ePUB)
9783631800799
ISBN (MOBI)
9783631800805
ISBN (Hardcover)
9783631795255
DOI
10.3726/b16084
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Verfassungsgeschichte Privatrechtsgeschichte Wissenschaftsgeschichte Wirtschaftsgeschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien 2019. 420 S., 3 s/w Abb., 1 Tab.

Biographische Angaben

Gábor Hamza (Band-Herausgeber:in) Milan Hlavačka (Band-Herausgeber:in) Kazuhiro Takii (Band-Herausgeber:in)

Dr. Dr. h.c. Gábor Hamza ist Professor an der Eötvös Loránd Universität (ELTE) in Budapest, Ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Römisches Recht, Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, Europarecht sowie Rechtsordnungen der mittel- und osteuropäischen Länder. Prof. Dr. Milan Hlavačka ist Professor für tschechische Geschichte an der Karls-Universität in Prag. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische, soziale und wirtschaftliche Geschichte der böhmischen Länder und der Habsburger Monarchie im 18. und 19. Jahrhundert sowie Geschichte von Familienunternehmen. Dr. Kazuhiro Takii, LL.D. ist Professor am International Research Center for Japanese Studies in Kyoto. Seine Forschungsschwerpunkte sind Entstehung und Entwicklung des modernen Verfassungssystems in Japan.

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Titel: Rechtstransfer in der Geschichte
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