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Das afghanische Recht versus die Rechtsanwendungspraxis mit frauen- und mädchenspezifischem Schwerpunkt

Afghanische Verfassung, Scharia, internationale Menschenrechtsabkommen und afghanisches Jugendstrafrecht

von Ferial Dost (Autor:in)
©2019 Dissertation 300 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch setzt sich mit den afghanischen Gesetzen versus Rechtsanwendungspraxis wissenschaftlich auseinander, mit besonderem Blick auf die Zielgruppe der Frauen und Mädchen. Hierfür untersucht die Autorin die afghanische Verfassung, die Scharia, internationale Menschenrechtsabkommen und das afghanische Jugendstrafrecht. Sie überprüft, inwiefern diese Regelungen konträr zur afghanischen Rechtsanwendungspraxis sind und worin die Unterdrückung von Frauen und Mädchen begründet ist. Für die Untersuchung der Rechtsanwendungspraxis greift die Autorin unter anderem auf Ergebnisse der eigenen Feldforschung in Afghanistan zurück.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Abstract
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • B. Das Verhältnis der Scharia zu der afghanischen Verfassung
  • I. Die Bedeutung des Begriffs „Islam“
  • II. Die Bedeutung und die Abstammung der Scharia im islamischen Glauben
  • 1. Der Koran als die Primärquelle der Scharia nach islamischem Glauben
  • 2. Die Sunna und die Hadithen als die Primärquelle der Scharia nach islamischem Glauben
  • 3. Die Fiqh als die Sekundärquelle der Scharia nach islamischem Glauben
  • 4. Die Quellen der Scharia am Beispiel Afghanistans Straftatkategorien nach der Hanafi Rechtslehre
  • a) Die Hadd Straftaten
  • b) Die Qisas Straftaten
  • c) Die Tazir Straftaten
  • III. Das Verhältnis der Scharia zu der afghanischen Verfassung
  • 1. Meinungsstreit über das Verhältnis der Scharia zu der afghanischen Verfassung
  • 2. Auslegung von Art. 3 AC
  • a) Grammatikalische Auslegung
  • b) Systematische Auslegung
  • c) Historische Auslegung
  • d) Teleologische Auslegung
  • e) Ausübung des Art. 3 AC in der richterlichen Praxis
  • aa) Umfrage afghanischer Jurastudenten in Afghanistan
  • bb) Interview mit einer afghanischen Rechtsanwältin
  • cc) Zwischenfazit
  • 3. Streitentscheid
  • 4. Fazit
  • C. Die Unterdrückung der Frauen bzw. Mädchen im afghanischen Recht
  • I. Der Gender Gap
  • 1. Gleichberechtigung von Mann und Frau nach der Primärquelle der Scharia
  • 2. Gleichberechtigung von Mann und Frau nach der Sekundärquelle der Scharia
  • II. Die Heiratsbestimmungen für Mann und Frau
  • 1a) Das Heiratsalter und die Frühheirat nach den Primärquellen der Scharia
  • 1b) Das Heiratsalter und die Frühheirat nach der Sekundärquelle der Scharia
  • 2. Die Zwangsheirat nach deutschem Recht
  • a) Die Zwangsheirat nach den Primärquellen der Scharia
  • b) Die Zwangsheirat nach der Sekundärquelle der Scharia
  • 3. Die Mitgift (Mahr genannt) nach den Quellen der Scharia
  • a) Die Mahr nach den Primärquellen der Scharia
  • b) Die Mahr nach der Sekundärquelle der Scharia
  • 4. Das Brautgeld (Peshkash genannt)
  • a) Das Brautgeld (Peshkash) nach den Primärquellen der Scharia
  • b) Das Brautgeld (Peshkash) nach der Sekundärquelle der Scharia
  • c) Abhilfe zur Schließung der Gesetzeslücke
  • 5. Die Polygamie
  • a) Die Polygamie nach den Primärquellen der Scharia
  • b) Die Polygynie nach der Sekundärquelle der Scharia
  • 6a) Die Scheidung nach den Primärquellen der Scharia
  • 6b) Die Scheidung nach der Sekundärquelle der Scharia
  • 7. Die Erbfolgen
  • a) Die Erbvorschriften nach den Primärquellen der Scharia
  • b) Die Erbvorschriften nach der Sekundärquelle der Scharia
  • 8. Zwischenfazit
  • III. Frauen und Mädchen zugeschriebene moralische Verbrechen
  • 1. Das Weglaufen nach den Primärquellen der Scharia
  • 2. Das Weglaufen nach der Sekundärquelle der Scharia
  • 3. Abhilfe zur Schließung der Gesetzeslücke
  • 4. Außerehelicher Geschlechtsverkehr (Zina genannt)
  • a) Die Zina nach den Primärquellen der Scharia
  • b) Die Zina nach der Sekundärquelle der Scharia
  • c) Die Strafbarkeitsbedingungen der Zina
  • aa) Vorsatz der Handlung
  • bb) Vier Zeugen
  • cc) Eigenes Geständnis
  • dd) Abwenden der Strafe durch die Ehefrau
  • 5. Zwischenergebnis
  • IV. Verfügbarkeit eines afghanischen Jugendstrafrechts nach den Quellen der Scharia
  • 1. Das Jugendstrafrecht nach den Primärquellen der Scharia
  • 2. Das Jugendstrafrecht nach der Sekundärquelle der Scharia
  • a) Der Anwendungsbereich des deutschen JGGs im Vergleich zum afghanischen JC
  • b) Das Ziel des deutschen JGGs im Vergleich zum afghanischen JC
  • c) Verantwortlichkeit
  • d) Sanktionsmaßnahmen
  • e) Verbindung von Maßnahmen
  • f) Maßregeln der Besserung und der Sicherung
  • g) Form und Voraussetzungen der Jugendstrafe
  • h) Dauer der Jugendstrafe
  • i) Strafaussetzung
  • j) Bewährungszeit
  • k) Bewährungshilfe
  • l) Bestellung und Pflichten des Bewährungshelfers
  • m) Jugendgerichte
  • n) Besetzung der Jugendgerichte
  • o) Auswahl der Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte
  • p) Jugendgerichtshilfe
  • q) Umfang der Ermittlungen
  • r) Vernehmung des Beschuldigten
  • s) Nichtöffentlichkeit
  • t) Stellung des Erziehungsberechtigten und des gesetzlichen Vertreters
  • u) Vollzug
  • v) Beseitigung des Strafmakels
  • w) Weitere afghanische Vorschriften
  • V. Fazit zu der Unterdrückung der Frauen bzw. Mädchen im afghanischen Recht
  • D. Die Rechtsanwendungspraxis in Afghanistan mit frauen- und mädchenspezifischem Schwerpunkt
  • I. Die Heiratsbestimmungen in der Praxis nach dem bisherigen Forschungsstand
  • 1. Das Heiratsalter und die Frühheirat
  • 2. Die Zwangsheirat
  • 3. Die Mitgift (Mahr)
  • 4. Das Brautgeld (Peshkash)
  • 5. Polygynie
  • 6. Die Scheidung
  • 7. Die Erbfolgen
  • II. Frauen und Mädchen zugeschriebene moralische Verbrechen in der afghanischen Praxis nach dem bisherigen Forschungsstand
  • 1. Das Weglaufen
  • 2. Die Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr
  • III. Die Anwendung des Jugendstrafrechts nach dem bisherigen Forschungsstand
  • 1. Alter der Befragten
  • 2. Die verbüßte Strafe
  • 3. Die Bildung der strafauffälligen Jugendlichen
  • 4. Die Behandlung der jugendlichen Inhaftierten
  • 5. Die Verfügbarkeit der Räumlichkeiten von Jugendstaatsanwälten und Jugendgerichten
  • 6. Die Folgen der Jugendstraftat
  • 7. Umfang der Ermittlungen
  • IV. Zwischenfazit zu dem bisherigen Forschungsstand
  • V. Eigene Feldforschung
  • 1. Der Forschungsgegenstand
  • 2. Das Forschungsziel
  • 3. Die Forschungsmethoden
  • 4. Der Gang der Untersuchung
  • a) Die Vorarbeit
  • b) Die allgemeinen Erkenntnisse
  • c) Der Aufbau der schriftlichen Befragungen der Frauen
  • aa) Der Fragebogenvordruck
  • bb) Der Aufbau der Fragebögen
  • d) Die Vorgehensweisen und die Vorkommnisse
  • aa) Die Vorgehensweisen und Vorkommnisse in Kabul
  • bb) Die Vorgehensweisen und Vorkommnisse in Herat
  • cc) Die Vorgehensweisen und Vorkommnisse in Karokh, Spionageverdacht, teilnehmende Beobachtung
  • e) Die Forschungsergebnisse
  • aa) Die Befragung der Frauen und Mädchen in Kabul
  • bb) Die Befragung der Frauen und Mädchen in Herat
  • cc) Die Befragung der Frauen und Mädchen in Karokh
  • dd) Die Gesamtbetrachtung der Frauen und Mädchen aus allen drei Befragungsorten
  • ee) Die Befragung der Jungen und Männer in Kabul
  • ff) Die Befragung der Jungen und Männer in Herat
  • gg) Die Befragung der Jungen und Männer in Karokh
  • hh) Die Gesamtbetrachtung der Jungen und Männer aus allen drei Befragungsorten
  • ii) Die Gesamtbetrachtung der Frauen vs. die Männer aus allen drei Befragungsorten
  • jj) Das Interview mit der Richterin in Kabul
  • VI. Fazit
  • E. Schlussteil
  • Anhang 1
  • Anhang 2
  • Anhang 3
  • Anhang 4 Zusammenfassung
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis

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A. Einleitung

„The clerics’ council of Afghanistan did not put any limitations on women. It is the sharia law of all Muslims and all Afghans“, erklärte der seinerzeitige Präsident Afghanistans, Hamid Karzai, im Jahre 2012 in der Öffentlichkeit.4 Mit dieser Aussage hat er den Standpunkt der afghanischen Ulema Shura, eines von der Regierung geförderten Gemeinderates bestehend aus religiösen Führern, öffentlich unterstützt. Die Ulema Shura weist eine frauenbenachteiligende Richtung auf. Danach sollen sich Frauen separat von dem männlichen Geschlecht in der Öffentlichkeit aufhalten, separat von ihnen studieren, arbeiten, etc., und nach Möglichkeit jeglichen Kontakt zu dem männlichen Geschlecht vermeiden, soweit sie nicht mit ihnen nah verwandt sind. Auf Reisen sollen sie von nah verwandten männlichen Personen begleitet werden. Ferner sei unter Umständen Gewalt gegen Frauen vertretbar.5 Präsident Karzai begründet seine öffentliche Befürwortung der Ulema Shura damit, dass keine Einschränkungen für Frauen hiermit einhergehen. Vielmehr läge die Ursache in dem Scharia Recht, das für alle Muslime und Afghanen gelte. Demzufolge müsste – zumindest – die Mehrheit der muslimisch geprägten Länder ein der Islamischen Republik Afghanistan ähnliches Frauenbild aufweisen. Dies trifft jedoch auf viele Nationen, dessen Bevölkerung überwiegend muslimisch ist, nicht zu; so u.a. Albanien, Indonesien, Nigeria, Tunesien etc.

Indonesien gilt als das islamische Vorzeigeland. Es verzeichnet 88 % Muslime, hat den Islam nicht als Staatsreligion verankert und hält die Religion aus staatlichen Institutionen fern.6

Albanien verzeichnet viele islamische Bürger. Das Land verfolgt das laizistische Modell. Es wird kein Religionsunterricht an Schulen angeboten, die Bürger werden jedoch aktuell mehr islamisiert durch die radikalen Neuerscheinungen wie der IS.7

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Die Türkei hatte den Säkularismus mit dem laizistischen Modell in Angriff genommen, doch aufgrund zahlreicher Unstimmigkeiten Erdogans mit der EU scheint der Säkularismus der Türkei gescheitert zu sein.8

In Tunesien wird die Religion größtenteils aus der Verfassung rausgehalten, jedoch gibt es Artikel, die wiederum eine andere Deutung zulassen. In der Rechtsanwendungspraxis wenden die Richter eher die Scharia an und auch die Menschen nehmen eher die nach außen hin bekannt gewordenen islamischen Vorschriften an, wie des Hijabstragens entgegengesetzt zu ihren staatlichen Gesetzen.9

Nigeria hat das Verbot der Verankerung einer Staatsreligion ausgesprochen. Allerdings haben 12 der 36 Bundesstaaten die Scharia als Strafrecht eingeführt. Dieses Vorgehen solle rechtmäßig sein, da sie mit diesem Vorgehen keine Staatsreligion ernannt hätten, lasse man außen vor, dass die Scharia islamisches Recht beinhaltet.10

Pushter in Pew Research Center stellt auch fest, dass der überwiegende Teil der islamischen Länder die Befolgung der islamischen Werte und Grundsätze begrüßt, jedoch eine strikte Befolgung nicht erforderlich sei. So z.B. Türkei, Libanon, Indonesien und Burkina Faso.

Insbesondere Pakistan, Palästina, Jordanien und Malaysia seien für eine strikte Befolgung des Korans (Senegal 50:50, Nigeria ca.50:50).11

Zwar weisen die genannten Nationen eine erhöhte islamische Bevölkerungsdichte auf; doch können keine weiteren Gemeinsamkeiten zu Afghanistan verzeichnet werden; v.a. hinsichtlich des Frauenbildes und der Wahl der Staatsreligion. Betrachtet man international alle islamischen Länder, wird schnell klar, dass bis auf Indonesien kaum ein Land ein säkularer Rechtsstaat geworden ist. Indonesien hat den Islam nicht als Staatsreligion ernannt und unterlässt gar Vermischungen. Entsprechend erfüllt Indonesien die Voraussetzungen eines säkularen Staates.

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Bei säkularen Staaten soll die Religion staatlichen Institutionen und Regelungen untergeordnet sein.12 Säkularität ist ein Selbstverständnis der modernen Demokratien westlicher Prägung. Sie fordern eine strenge Trennung von Staat und Religion – nicht feindlich –, sondern sie sehen durchaus den positiven Effekt der Religionen z.B. in Form von Ehrenämtern, Stärkung der Selbstkontrolle oder Freiwilligendiensten. Religion sei jedoch Privatsache und erfordere eine strikte Trennung vom Staat.13 In Europa werden verschiedene Modelle des säkularen Staates verfolgt, so etwa von Frankreich das laizistische Modell. Dies bedeutet eine positive Neutralität gegenüber allen Religionen, zugleich eine strikte Trennung vom Staat.14 Großbritannien verfolgt das staatskirchliche System und Deutschland ein Mischsystem, wobei die Religion staatlichen Institutionen untergeordnet ist, aber an staatlichen Schulen unterrichtet und die Zahlung der Kirchensteuer verlangt wird.15

Das Gegenstück zu diesen teilweise vorhandenen säkularen Staaten bilden die sog. Gottesstaaten. Bei diesen sog. Theokratien – „Gottesstaaten“ – sind sämtliche Strukturen der Religion untergeordnet.16 Beispielländer für die sog. Theokratien, „Gottesstaaten“, bilden u.a. Pakistan, der Iran und Saudi-Arabien. Afghanistan könnte ebenfalls ein sog. „Gottesstaat“ sein.

Empirische Studien, wie die World Values Survey messen regelmäßig die persönliche Einstellung zur Religion. Der vom amerikanischen Fund for Peace und von der Zeitschrift „Foreign Policy“ herausgegebene Index klassifiziert die Staaten der Welt nach der Stabilität ihrer Rechtsordnung. Zu den „gescheiterten Staaten“ gehören z.B. Somalia und Afghanistan. An der Spitze befinden sich z.B. die Schweiz und Finnland. Diese Ergebnisse werden mit den Ergebnissen ←19 | 20→der World Values Survey verglichen. Sie stellen fest, je intensiver die Religiosität, desto instabiler die Rechtsordnung des jeweiligen Landes.17

Aus diesem Grund wird in den folgenden Kapiteln überprüft, ob und inwieweit die afghanische Rechtsordnung instabilen Charakter aufweist. Und, ob die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts in der Islamischen Republik Afghanistan auf die Scharia zurückzuführen, wie von dem seinerzeitigen Präsidenten Karzai geäußert, oder aber kulturell bzw. sozial bedingt ist. Zu den sozialen Risikofaktoren gehören u.a. Armut, Krieg, Schulbildung etc. Diese werden in der hiesigen Arbeit nicht weiter thematisiert.

Gegenstand dieser Arbeit ist vielmehr die Auseinandersetzung mit den staatlichen Gesetzen im Vergleich zur Rechtsanwendungspraxis mit frauen- und mädchenspezifischem Schwerpunkt. Als Grundlage der Gesetze werden die afghanische Verfassung, die Scharia, die internationalen Menschenrechtsabkommen und das afghanische Jugendstrafrecht verwendet. Es wird überprüft, ob diese Regelungen konträr zu der afghanischen Rechtsanwendungspraxis sind und daraus die Unterdrückung der Frauen und Mädchen – wie von den Medien dargestellt – hervorgeht.

Wird die Aussage des Präsidenten Karzais überprüft, so wirft dies eine Vielzahl von Fragen und Problemen auf. Diese Problematiken werden anhand von separaten Kapiteln untersucht. Diese Arbeit umfasst drei Hauptkapitel und einen Schlussteil.

Die Scharia wird im ersten Hauptkapitel untersucht. Der Gedanke, Afghanistan sei ein sog. Gottesstaat, soll Berücksichtigung finden. Gemäß Art. 2 AC hat die Islamische Republik Afghanistans den Islam als Staatsreligion gesetzlich statuiert. Dementsprechend genießt der Islam in Afghanistan eine bedeutende Rolle. Das Verhältnis zwischen der afghanischen Verfassung und der Scharia wird nicht auf verfassungsrechtlicher Ebene geklärt. Diese Unklarheit führt zu zahlreichen Meinungsstreitigkeiten über das Verhältnis der Scharia zu der afghanischen Verfassung. Die deutsche Fassung der afghanischen Verfassung von Davary (2004) soll zugrunde gelegt werden. Die neue Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan ist in 12 Kapitel und 162 Artikel gegliedert. Normen, wie Art. 3, 7 und 130 AC verschärfen diese Kontroverse. In diesem Kapitel soll der besagte Meinungsstreit dargestellt und einer Ansicht gefolgt ←20 | 21→werden. Zu diesem Zweck wird Art. 3 AC nach den deutschen klassischen Auslegungsmethoden ausgelegt. Zuvor werden der Islam, die Bedeutung der Scharia, ihre Abstammung und die ihr zugrunde liegenden Quellen untersucht. Anschließend wird die eigene stichprobenartige Studie mit 26 Jurastudenten aus Kabul und Herat herangezogen. Schließlich wird das Interview mit einer Rechtsanwältin herangezogen, um sich letztlich einer Ansicht anzuschließen. Sobald hier ein Ergebnis feststeht, kann beurteilt werden, welches die einschlägigen Gesetze Afghanistans sind. Sodann stellt sich die nächste Frage, inwieweit diese einschlägigen afghanischen Gesetze eine Unterdrückung des weiblichen Geschlechts herbeiführen.

Deshalb sollen im zweiten Hauptkapitel die afghanischen Vorschriften thematisiert werden. Es soll überprüft werden, ob eine Benachteiligung der Frauen und Mädchen mit den afghanischen Gesetzen konform ist oder auf der Scharia beruht, wie von dem seinerzeitigen Präsidenten Karzai geäußert. Dafür werden einige kontroverse Vorschriften herangezogen. Zunächst soll auf den Begriff des Gender Gaps eingegangen werden. In diesem Zusammenhang werden auch die Historie der deutschen Frauenbewegung sowie die Gender Gaps im Bundesgebiet angesprochen. Sodann sollen die Heiratsbestimmungen, wie z.B. das Heiratsalter, die Zwangsheirat, die Frühheirat, die Mitgift, das Brautgeld, die Polygamie, die Scheidung und schließlich die Erbfolgen behandelt werden. Ferner soll überprüft werden, ob den Frauen und Mädchen zugeschriebene sog. moralische Verbrechen eine gesetzliche Grundlage finden – ebenso wie die jugendgerichtlichen Normen. Bei den jugendgerichtlichen Normen stellt sich die Frage der Anwendbarkeit des Erwachsenenstrafrechts auf Kinder und Jugendliche in diesem Fall insbesondere der Mädchen. In diesem Zusammenhang soll hier das Jugendstrafrecht mitsamt seiner Problematik und seinen Strafmilderungen u.a. besprochen werden.

Zunächst stellt sich die Frage, ob ein Jugendstrafrecht in Afghanistan überhaupt existiert. Sodann sollen jugendstrafrechtliche Normen untersucht werden. Zudem erfolgt eine rechtsvergleichende Betrachtung des afghanischen Jugendstrafrechts mit dem deutschen Jugendstrafrecht.

In diesem Zusammenhang soll u.a. der Anwendungsbereich, die gesetzgeberische Absicht der Erziehung des Jugendlichen neben der Sanktion seines Verhaltens thematisiert werden. Die in Betracht kommenden Maßnahmen für das jeweilige Jugendgericht sowie das Vorhandensein einer Sanktionshierarchie werden dar- und einander gegenübergestellt. Zudem soll auf die Verantwortlichkeit, die Folgen der Jugendstraftat, die Anforderungen an die Ermittlungsbehörden sowie Jugendrichter bei Ermittlungsverfahren gegen Jugendliche, die Stellung des Erziehungsberechtigten, der Vollzug, die Beseitigung des ←21 | 22→Strafmakels – ähnlich der Entfernung eines Eintrags aus dem Erziehungsregister – eingegangen werden.

Erläuterungsbedürftige Begriffe werden definiert und internationale Abkommen werden bei Bedarf herangezogen. Im Rahmen der Prüfung wird jeweils die Primärquelle zu der Sekundärquelle der Scharia dargestellt. Für die Vorschriften der Scharia werden aufgrund fehlender arabischer Sprachkenntnisse deutsche Übersetzungen des Korans verwendet. Da die Übersetzungen Abweichungen aufweisen, werden Übersetzungen mit einer guten Reputation sowie Verständlichkeit Berücksichtigung finden. Dennoch steht fest, dass keine Übersetzung dem arabischen Original entspricht.18

Schließlich kann beurteilt werden, inwieweit die afghanischen Gesetze eine Unterdrückung der Frauen und Mädchen herbeiführen, wie von dem ehemaligen Präsidenten Karzai ausgeführt.

Um einen umfassenderen Eindruck über die Unterdrückung der Frauen und Mädchen in Afghanistan zu erhalten, soll im nachfolgenden Kapitel die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts in der alltäglichen und praktischen Ausübung im Zusammenhang mit den o.g. Vorschriften untersucht werden. Für die afghanische Praxis sollen bisherige Untersuchungen und eine eigene Feldforschung zugrunde gelegt werden. Die Forschungsarbeiten der Organisationen UNICEF, MPI, Amnesty International, AIHRC, UNAMA, OHCHR, LandInfo und viele weitere sollen hier Berücksichtigung finden.

Zum Überprüfen der Rechtsanwendungspraxis erfolgte ein forschungsbegründeter Aufenthalt in Afghanistan zwischen dem 18.06.2013–15.07.2013. Die Feldforschung wurde eigenfinanziert. Die Befragung erfolgte in Kabul, Herat und Karokh, einem Vorort von Herat. Das erreichte Ziel von 1128 Personen hat die erwartete Anzahl von 500 Personen weit übertroffen. Grundsätzlich betrachtet, ist der Umfang dieser Forschung im Vergleich zu den bereits vorhandenen repräsentativerer Art. Jedoch kann diese Untersuchung nach eigener Einschätzung nicht als ausreichend repräsentativ für die gesamte Bevölkerung Afghanistans gelten. An der Untersuchung nahmen im Wesentlichen Personen teil, die Bildung aufwiesen; der Zugang zu ihnen wies weniger Hindernisse auf.

Auf die Vorarbeit, die Durchführung und die Ergebnisse der eigenen Feldforschung soll eingegangen werden. Das Beschreiten des offiziellen Weges begann aus Deutschland ein halbes Jahr im Voraus. Es wurden unzählige Telefonate und ←22 | 23→Schreiben auf elektronischem Wege an verschiedene Ämter, u.a. die Behörde für Inneres und die Behörde für Frauenangelegenheiten in Afghanistan, aufgesetzt. Bis einschließlich heute ist eine Rückmeldung seitens der ersuchten öffentlichen Stellen nicht erfolgt. Aus diesem Grund wurden Wege beschritten, die weniger „bürokratisch“ waren.

Für die Feldforschung Afghanistans wurden verschiedene Methoden angewandt. Die Ansichten und das Normwissen der Bevölkerung wurden anhand quantitativer schriftlicher Befragungen von Männern und Frauen durchgeführt.19 Die Untersuchung fand als Querschnittstudie statt.20 Über die Befragung hinaus erfolgten Interviews mit Juristen bzw. Personen in leitender Funktion in Afghanistan21 und in Hamburg.

Das beabsichtigte Aufsuchen der Haftanstalten zwecks Befragung der Gefängniswärter sowie der weiblichen Gefangenen konnte aufgrund der dortigen Sicherheitslage zum Zeitpunkt des Aufenthalts nicht erfolgen. Die fertiggestellten und ausgedruckten Fragebögen an diese Personenkreise fanden keine Verwendung – und entsprechend auch keine Auswertung. Die Gefängnisse waren zahlreichen Bedrohungen ausgesetzt. Die Bereiche der Gefängnisse wurden weiträumig abgesperrt. Zum Zeitpunkt des Aufenthaltes fanden wöchentlich etwa zwei bis drei Selbstmordattentate in Herat und Kabul statt. Die afghanischen Sicherheitsbehörden hatten dringend dazu geraten, von den genannten Bereichen weitgehend fernzubleiben.

Den Studenten des Studienganges Rechtswissenschaft wurden im Rahmen der schriftlichen Befragung fachspezifische Wissensfragen gestellt. Vor dem Hintergrund der Sensibilität der Menschen bzgl. ihrer Religion wurde in den ←23 | 24→schriftlichen Befragungen aller außer in denen der Jurastudenten die Scharia unter dem Begriff „Gesetz“ eingefasst.

Ferner durfte der praktische Alltag von zwei Polizeibeamten in Karokh beobachtet werden. Mehrere Methoden wurden angewandt, um ein möglichst realistisches Bild von der Situation der Frauen und Mädchen Afghanistans zu gewinnen.

Es werden sodann die Antworten der weiblichen Befragten mit denen der männlichen Teilnehmer verglichen. Abschließend können mögliche Diskrepanzen zwischen Gesetz und Praxis erörtert werden. Auch hier finden die internationalen Abkommen und der Gender Gap bei Bedarf Berücksichtigung. Sodann wird hier die praktische Anwendung des afghanischen Jugendstrafrechts erörtert. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Forschung von UNICEF (2008) gelegt. Hieran anknüpfend wird die Frage der Strafbarkeit der Mädchen wegen eines Verstoßes nach der „Zina“ erörtert; insbesondere die Rechtsgrundlage, das tatsächlich angewandte Recht: Jugendstrafrecht oder Erwachsenenstrafrecht, der Vollzug der Haft: Jugendhaftanstalt oder Erwachsenenhaftanstalt etc. In diesem Zusammenhang soll das Interview mit einer befragten Richterin in Kabul herangezogen werden. Die afghanische Jugendstrafrechtsforschung fällt insgesamt sehr mäßig aus.

Schließlich ist zu vergleichen, ob und inwieweit die praktische Anwendung in Afghanistan mit den Gesetzen übereinstimmen. Folglich kann beurteilt werden, inwieweit oder wie häufig eine Unterdrückung der afghanischen Frauen und Mädchen in der Praxis auftritt.

Im Schlussteil der Arbeit werden die Ergebnisse zusammengefasst. Der Fokus wird dabei auf die afghanischen Frauen und Mädchen gelegt. Die Untersuchung der Frauen und Mädchen erscheint nach diesseitiger Auffassung besonders aufschlussreich zu sein, da die Benachteiligung der Frauen in Afghanistan zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehr verbreitet und üblich ist. Anzumerken ist, dass die vorhandene afghanische Forschungsliteratur sehr mäßig ausfällt. Empirisch abgesicherte Forschung aus Afghanistan ist kaum vorhanden. Daher werden sämtliche Forschungen aus Afghanistan, auch nicht wissenschaftliche Studien, im Rahmen dieser Arbeit berücksichtigt. Der überwiegende Teil der vorhandenen Literatur ist auf englischer Sprache verfasst. Auf das Problemfeld der Pashtunwali22 kann im Rahmen dieser Arbeit aufgrund ihres Umfanges nicht eingegangen werden.

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In Afghanistan fand im Jahre 2014 ein Regierungswechsel statt. Nach mehreren strittigen Wahlen haben sich schließlich Aschraf Ghani und Abdullah Abdullah zu einer Einheitsregierung geeinigt mit Aschraf Ghani als Präsidenten und Abdullah Abdullah als Regierungschef. Diverse Meinungsverschiedenheiten unter ihnen führen dazu, dass keine Politik bzw. Lösungsansätze für die kritische Lage in Afghanistan bereitstehen. Die Taliban sollen offiziell anerkannt werden und mitreden dürfen. Es finden unzählige Attentate auf Zivilisten in dem Land statt.

Details

Seiten
300
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631798225
ISBN (ePUB)
9783631798232
ISBN (MOBI)
9783631798249
ISBN (Paperback)
9783631769560
DOI
10.3726/b15996
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Schariaforschung Gesetzesforschung Genderforschung Praxisforschung Jugendstrafrecht JGG Afghanistan
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019., 300 S., 35 farb. Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Ferial Dost (Autor:in)

Ferial Dost studierte an der Universität Hamburg Rechtswissenschaften, wo sie anschließend auch promovierte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der deutschen und afghanischen Kriminologie, des Allgemeines Strafrechts und des Jugendstrafrechts.

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Titel: Das afghanische Recht versus die Rechtsanwendungspraxis mit frauen- und mädchenspezifischem Schwerpunkt
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