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Ichbewusstsein – Gruppenbewusstsein

Die Energiebasis und ihre logischen Folgen

von Sander Wilkens (Autor:in)
©2019 Monographie 494 Seiten

Zusammenfassung

Die Weltgeschichte hat einige Kehren – und Kehrseiten – erlebt, theoretisch dreht sie sich noch immer um das Einzelbewusstsein. Praktisch trifft dies nicht mehr zu, seit einigen Dezennien hat das Gruppenbewusstsein das Zentrum übernommen. Das einzelne oder individuelle hat sich ihm nach- oder unterzuordnen, es mag auch das gemeinschaftliche heißen. Warum das möglich ist, und beides zugleich, der Wandel und sein ganz anderer, geradezu gegenteiliger Anschein, hat mehrere Gründe. Der erste ist die fundamentale Basis, die Energie. Es gilt, selbige ins Zentrum zu heben, dabei aber nicht auf die naturwissenschaftliche (genetische oder neurologische) zu beschränken. Die anderen Gründe haben allesamt mit der Logik zu tun, dem Schlüssel, der an und für sich der Philosophie gebührt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Vorbemerkung I
  • Vorbemerkung II
  • 1. Warum Ich- versus Gruppenbewusstsein
  • 2. Umgangssprache und Monotonie
  • 3. Alternativmengen
  • 4. Bewusstsein und Versus-Beziehung
  • 5. Gegenprobe
  • 6. Ausblick
  • I. Einführung
  • 1. Systematik
  • 1.1 Definition, begriffliches Umfeld
  • 1.2 Abgrenzung zu Cartesianismus und Ichbewusstsein
  • 1.3 Das Gruppenbewusstsein als bedingter Mittelbegriff
  • 1.4 Erläuterungen
  • 1. Gegenteil, Kollektive Intelligenz, Gegenseitigkeit
  • 2. Unter- versus Überzeitigkeit
  • 1.5 Das direkte Gegenteil im Gegensatz
  • 2. Historische Anknüpfungspunkte
  • 2.1 Leibniz
  • 2.2 Hypothese zu Neuzeit und Moderne
  • Einige zusätzliche Anmerkungen
  • 1. Der Ausdruck ‚man‘
  • 2. Gruppenmerkmale/-faszikel (Bourdieu)
  • 2.3 Menge als Meinungsmenge, Polarisation versus Neutralisierung
  • Anmerkungen
  • 1. Sprachliche Vergegenwärtigung der Gruppe
  • 2. Die Gedanken sind [nicht] frei (deutsches Volkslied um Hambach, Mitte 19. Jahrhundert)
  • 3. Systematische Vertiefung an Historie und Gegenwart
  • 3.1 Leibniz – Meinung und Parteiung
  • 3.2 Vertiefung der Konstellation
  • 3.3 Zusammenfassung
  • 3.4 Die Menge als Meinungsträger in der Antike
  • Nachbemerkung
  • 1. Zur Dialektik
  • 2. Zwei Exempel zu Umbrüchen des Gruppenbewusstseins (modern)
  • II. Haupteil
  • 1. Einzelbewusstsein – Individualbewusstsein
  • 1.1 Systematik: Differenzen der Theoriebildung, Energiebasis, Intersubjektivität
  • 1.2 ›Bewusstsein in Bewusstsein‹
  • 1.3 Das interpolierte Bewusstsein
  • 1.4 Bewusstsein als ± Einzelbewusstsein, Kommutation und Kommutativität
  • 2. Einzelbewusstsein – Gruppenbewusstsein (Team, Mannschaft, Stab, Besatzung, Belegschaft, Gremium, etc.)
  • 2.1 Systematik der Formen, Subjektivität unter der Restriktion, das Mitsein.
  • 2.2 4 Zentralfragen: Antwort auf 1 (Gruppenbewusstsein als Antipode)
  • 2.3 Antwort auf 2 (Kriterium, Schwelle von Gruppenbewusstsein)
  • 2.4 Antwort auf 3 (Verhältnis zu Ich-/Wir-, Teilnehmer-/Beobachterbewusstsein)
  • 2.5 Neutralisierung
  • 2.6 Antwort auf 4: Gruppen- versus soziales, staatliches Bewusstsein
  • 2.7 Grenzerwägung
  • 2.8 Zusammenfassung und Ausblick: 3 Fragen
  • 2.9 Vertiefung der Schleife unter Frage 3
  • Anmerkungen
  • 1. Die schismatische Bedingung im Gruppenprozess
  • 2. Searle und die kollektive Intentionalität
  • 2.10 Erläuterung der theoretischen Schleife an Bourdieu
  • 2.11 Exemplifikation zum Mechanismus
  • 1. Zu Searle
  • 2. Zu Bourdieu
  • III. Das Wir als repräsentative Rede
  • 1. Einführung (allgemein-systematisch): Exempel A, B und C
  • Exempel A (Gemeinverstand)
  • Exempel B (aus: Kant. Metaphysik der Sitten)
  • Schlussbemerkung
  • Korrolar. Herleitung der Peripheriegrenzen
  • Kommentar
  • Exempel C (aus: Popper. Grundprobleme der Erkenntnislogik)
  • 2. Einführung (historisch)
  • 2.1 Vorüberlegung
  • 2.2 Sigmund Freud
  • 2.3 Zu Darwin
  • 2.4 Zusammenfassung
  • 3. Searle und das Gruppenbewusstsein
  • 3.1 Systematische Defizite herkömmlicher Auffassungen
  • 3.2 Paradigma des Wir-Subjekts
  • 3.3 Diskrepanz zwischen kollektiver Intentionalität und institutionellem Status
  • 3.4 Gruppenbewusstsein versus Wir-Bewusstsein – neutrale Instanz?
  • 3.5 Zusammenfassung in vornehmlich formaler Hinsicht
  • 4. Beispiele
  • 4.1 Aus der Arbeitswelt
  • Anmerkung
  • 1. Fokale Rolle und Peripherie (›| _ ≈ _ |‹)
  • 2. ± Reflexivität im Verhältnis Element-Menge, Komplementarität w/f
  • 4.2 Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839)
  • Anmerkung
  • [A]. Zwei Hauptsätze zu Dimension und fokaler Anlage
  • [B]. Das Verhältnis zur Krümmung
  • [C]. Unter- versus Überzeitigkeit
  • [D]. Erläuterung zu ›tm = t0(t0 – tm)‹
  • [E]. Freier Antrieb/Vorstellung und Transzendentalität
  • [F]. Zur Linse oder der kriteriale Brennspiegel
  • [G]. Das Schisma als Zerfall in die kollektive Innen- versus äußerliche Individualsphäre
  • IV. Das historische Subjekt
  • 1. Der Stellenwert der Evolution
  • Anmerkung 1
  • [A]. Zum evolutionären Verständnis des Schismas
  • [B]. Beweis (1) praktisch (oder experimentell) Beweis (2) theoretisch
  • Anmerkung 2
  • [A]. Eingeborene Vorstellungen – dimensionale Anlage
  • [B]. Der empiristische Widerspruch im ± Verhältnis Vermögen/Vorstellung
  • [C]. Die Lenkbarkeit des dimensionalen Knotens
  • [D]. Zwei Zusätze zur Lenkbarkeit
  • 2. Historisches Bewusstsein
  • 3. Exempel (Einstein bei Ausbruch des Krieges aus Sicht eines Literaten)
  • 4. Energiebasis und Mannigfaltigkeit
  • 5. Zeitliche Verschleifung als Bedingung der Historie
  • 6. Das historische Subjekt – Erschließung über den Herd; Exempel
  • 7. Formale Darstellung der Linsen, Unter- ≈ Überzeitigkeit; 2 Exempel
  • 8. Kommentar
  • V. Basisannahmen zum Kalkül
  • 1. Distinktivität (Klassenteilung)
  • 2. Imprädikabilität und doppelte Verneinung
  • 3. Negation und Fusion in der Begriffsachse
  • 4. Koinzidenz von› xy‹, die fokale Bindung
  • 5. Einführung des Symbols ›≈‹
  • 6. Prüfung der prädikativen Anlage
  • 7. Zwischenschritt und abschließende Schemata zur Periodik
  • Anmerkung
  • 1. Herkunft des Bruchs oder Sprungs, Klassifikation ohne Kontinuum
  • 2. Vagheit und Paradox
  • 3. Knoten und S-P-Wechsel
  • 4. Knoten und Lage, Anwendung
  • 5. ›∆x || F+(x) ≈ F-(x) ||‹
  • 6. Bezeichnung der 3 Knotenlagen: je Extrem ≈ Binnenlage
  • 7. Abschluss zu Kapitel und Anmerkung
  • 8. Ausblick (und historische Schlusslinse, i.e. Projektionsfläche zum Ganzen und vorhergehenden Kapitel)
  • VI. Resümee I versus II
  • I. Überschlägige Einschätzung zur Lage der Menschheit
  • II. Widerlegung des Psychologismus oder Aufhebung seiner Schranken
  • Sachregister
  • Personenregister

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Vorwort

›Daten regieren die Welt‹. Sätze dieser Art – man könnte sie Aphorismen, wenigstens aphoristisch nennen – wecken den Einwand. Sodann wechseln, mit Bedacht, die Reihen in den beiden Stellen, die einen verschärfen den Chronismus, und setzen statt der Daten und -sätze die Zahlen, die Algorithmen – offenbar eine Steigerung –, die andern weichen in die Historie und setzen das Geld (Kapital, die Währungen), die Präsidenten, Zensoren, Umfrager und Statthalter. Schließlich, da die (menschliche) Weisheit nicht ausbleiben darf, die Mehrzahl, die Katastrophen, die Schwächen und Fehler oder – endgültigen Defizite. Selten ist zu erwarten – das Bewusstsein. Es sei, gleichwohl, an dieser Stelle, und das Bewusstsein regiert die Welt.

Wenn sich die Philosophie hierfür entscheidet, muss sie Grund haben, noch dazu einen guten. Wenn sie überhaupt einen Grund hat, fühlen sich vermutlich nicht wenige berechtigt, dies möge reichen, und so ziehen sie den Pfad über den stets selbigen Plan, jedenfalls als selbig angenommenen. Die Lebenszeit gibt ihnen öfters recht, bedenkt man, wieviel (oder eher wenig) sie tatsächlich während ihres Ablaufs ändern mussten, i.e. ihr Grund wurde geduldet. Sollte er aber ein guter sein müssen, kehrt der Absatz zurück, und der Plan unterliegt, eventuell, gewaltigen Veränderungen. Nun aber selbige als Evolution oder Umbruch erneut in der Chronik anzumelden, dürfte obsolet sein. Fraglos sind die letzten hundert Jahre, ja nur zwei Dezennien Einbrüche in Wissenslagen und Bewerkstelligung des human-gesellschaftlichen Lebens, wie sie den Apex der Evolution kennzeichnen (und nichts anderes). Das Bewusstsein gilt seitdem als exorbitanter Gegenstand neu entstandener und sich entwickelnder Wissenschaften (Neurologie, Neurophysiologie bis zur Genetik, ggf. sogar der Physik, wenn die Materie als Stofflichkeit ihre Grenze erreicht oder soll, und, nicht zuletzt, Einstein musste seit der Relativität stets den ›Beobachter‹ und sein Bewusstsein als echten Faktor bemühen), während die akademische Philosophie nach wie vor der Sprachphilosophie und ihren analytischen Grundlagen anhängt (in der Hauptsache) oder die historischen Verzweigungen auf der Bild- respektive Projektionsfläche aufrecht zu erhalten sucht, die sich an die klassischen Namen knüpfen.

Gewiss hat sie angestammte und unveräußerliche Themen, dies seien Wahrheit, Moralität, Erkenntnis, die echte Logik, die Vorstellung von Raum und Zeit, die Realität versus Irrealität oder ± Realität, eine Schreibweise, die häufiger an dieser Stelle gesucht wird. Das Bewusstsein aber muss hinzuzählen – und somit nicht im Rahmen der historischen Zeitenwende als für abgemeldet gelten –, da ← 13 | 14 → ihm, und nicht der Sprache, selbst nicht der Logik, wiederum auch nicht irgend gestelltem Anlehnungsproblem (an Fremd- oder Beziehungswissenschaften) die Aufgabe des Schritthaltens zuwächst. Womöglich, dies wäre noch besser, kommt ihm sogar zu, den Apex des Schrittes zu formulieren oder wenigstens zu wissen. Das Bewusstsein ist somit stets maßgeblich gefordert und beteiligt, wenn irgend Satz oder Ersetzung des einleitenden Aphorismus auf den Plan tritt und seine Erklärungs- oder Interpretationsdominanz der chronischen Lage verlangt. Dies braucht, womöglich, nicht im Einzelnen erläutert zu werden. Ein Datum existiert nicht nur nicht ohne sein zugehöriges Format, es existiert (nach wie vor, möchte man im durchaus klassischen Sinne formulieren, obgleich er an dieser Stelle nicht, fast zur Gänze nicht bekräftigt wird) vor allem nicht ohne seine Interpretation oder Lesung, ja Simulation, die instantane Mitlese. Und selbige verlangt nun einmal das Bewusstsein, mithin die Lehre seiner Verfassung, seiner Möglichkeiten und Potenz(en), eine exakte Kenntnis seiner wirklichen Vermögen und Kapazitäten; noch dazu wenn es um schwierigere Vorstellungen geht, die ursächlich und von Natur her – ausdrücklich nicht aufgrund von Setzung oder Konstruktion – mit Projektion, Zeitverkürzung und Überlagerung, dem Bruch (oder direkten Gegenteil des herkömmlichen) Kontinuums und einer entsprechenden Klassifikation zu tun haben, schließlich den gemeinschaftlichen Vorstellungen, ihrer effektiven Basis, Notwendigkeit und ggf. tatsächlichem Zwang, der sie impulsiert und orientiert. Letztere verschwinden also nicht, sollten sie nicht geäußert, gar ›ausgesagt‹, nicht beachtet oder generell verdrängt und unterschlagen werden. Sogar werden sie inzwischen auch von der Maschine (dem Roboter oder seinem genetischen Urheber, der sog. künstlichen Intelligenz) simuliert (und gelesen), aber hiermit beginnt nur eine erneute Verzweigung oder Diremption, wie es einmal hieß; denn die Simulation gehört keineswegs nur in das Gebiet von Technologie und Zeitenwende, nunmehr Elektrifizität, sondern in die Basis der Energie, und selbige ist gleichermaßen jene des Bewusstseins – und verlangt ihre Erschließung. Dies möge aus den Eigenmitteln geschehen (in der Hauptsache), nicht durch die Übertragung der Naturwissenschaften und ihrer Begriffe.

Wie man nun sieht oder ahnt (letzteres der sog. Nichtfachmann), es handelt sich nicht um eine Neuauflage der Phänomenologie des Geistes oder gar der hergebrachten Vermögens- als Fakultätenlehre, deren Wert immerhin nichts Geringeres bedeutet, als das Fundament der Philosophie der Neuzeit zu verkörpern, (das sich insgesamt auch für die Neurowissenschaften als unverzichtbar erweist). Die kritische Schwelle, welche besagt, es ist bei irgend Satz, als Urteil, Erkenntnis oder Lehrmeinung, wenigstens die Eigenleistung des Bewusstseins ← 14 | 15 → zu berücksichtigen, die dafür notwendig oder zumindest erforderlich ist, möge (als das wohlbekannte Verdienst Kansts) gleichwohl gelten (auch wenn schon die unmittelbar Nachgeborenen, etwa Schopenhauer, ihn sofort wieder missverstanden). Wenn nun die Philosophie mit folgendem Satz in die Prosa übergeht, ihr angestammtes Gebiet bzw. Äußerungsform jenseits des Aphoristischen und der Symbolik (als Symbolgebrauch), möge zugleich das Thema angezeigt sein und warum es dieser Wissenschaft, die sich noch immer Philosophie nennt, bedarf. Anders besehen, die Freiheit des Bewusstseins beginnt nicht gegen die Materie oder einen Anspruch der Natur als Physis, sondern freilich auch und mindestens ebenso stark gegen die Bewusstseinsansprüche der Gesellschaft, Gemeinschaft, spezifischen Gruppe, der der Einzelne angehört“ (138). Somit trifft es, obgleich die Hauptströmung der vergangenen Jahrhunderte bis zur letzten Wende und scheinbar in Einklang mit dem Grundmuster des Gemeinverstands, noch immer – von einem ebenso verdienst- wie verständnisvollen Neurologen (für pathologische neuronale Erscheinungen) geäußert – nicht zu, dass „Bewusstsein ist ein rein privates Phänomen, das ganz auf die Perspektive der ersten Person beschränkt bleibt, auf jenen privaten Prozess in der ersten Person, den wir Geist nennen“.1 Zum einen fällt der Gegensatz damit in die Sphäre des öffentlichen Bewusstseins, das sich einer Komplementarität im Begriff erfreut, die sich längst als obsolet dürfte herausgestellt haben. Der Einzelne in seiner Privatheit ist kein, gesetzt, Solotänzer auf der anderwärts unbeobachteten, ja von der ± passiven Eindrücklichkeit anderen Bewusstseins ausgeschlossenen Bühne. Vielmehr gibt es die Grenze gar nicht, welche die klassische, gemeinsinnige und wissenschaftstheoretische Konvention gleichwohl so gerne bemüht und, über Grundgesetze und hochlöbliche Chartas, dem Bürger zu sichern sucht. Wie sollte irgend Vorstellung, die auch die Neurologie und anhängige Wissenschaften mit einer mehr oder weniger immensen Leichtigkeit bemühen (als ob mitunter keine 2000-jährige Philosophie ihrer Ergründung und Streuung gegolten), Gehalt, Geltung und Verkehr erlangen, wenn nicht von vornherein, geradewegs a priori, jenseits und über die Wurzel des Einzelbewusstseins hinaus? Somit stehen exakt dieser Verkehr und Verbindung, damit der resp. die Gegensätze auf dem bedingungslosen Prüfstand, da sie allzuleicht eine Gemengelage – oder vermeintliche Disjunktion – präsumieren, wo viel eher, und ganz besonders, distinkte Abgrenzung gefordert, die Möglichkeit eingeschlossen, dass die Negation in die Beweglichkeit der Vorstellung, wenn nicht schon jeglicher Energie, einkehrt und jene Beziehung ← 15 | 16 → schöpft, die man Polarität nennt. Zum anderen, und schon im Zitat sichtbar, muss der Stammhalter der Norm, das Ich, in den Plural weichen und sieht sich stillschweigend bekräftigt im ›Wir‹ aufgehoben. Selbiger Zug oder Bemühung ist aber alles andere als bloße Rhetorik oder, gesetzt, der Selbstverstand. Sollte es diesen geben, bislang fraglos nicht, müsste er sich instantan über die indefinite Anzahl von Subjekten ausbreiten, mehr, diese geradewegs implizieren, und wenigstens die Norm bürgen, auf die sich der Neurowissenschaftler geflissentlich, und noch einmal geradehin, beruft. Wenn aber der Geist den Plural benötigt, da ihn der einzelne nicht aus sich zu gewähren imstande, wiederum es selbigen, Geist, nicht gibt, wenn nicht kraft seines Mediums oder Trägers, des Bewusstseins, dann wird auch dieses den (mit größter Wahrscheinlichkeit eingeborenen) Syllogismus nicht beleidigen und sich geradehin, mit Leichtigkeit, in den Plural bewegen. Weiterhin sei die tatsächliche Viel- und nicht etwa Mannigfaltigkeit, mithin die Brüchigkeit des Wir, die geradezu normhaft und gesellschaftlich- politisch, schichtbedingt-charakterlich, kurzum milieugemäß vorausnehmbar, an dieser Stelle nicht mehr belangt, das zugehörige Kapitel sucht ihnen, zumindest im Ansatz, gerecht zu werden.

Hiermit dürfte bereits klar, vielleicht sogar deutlich geworden sein, und geradezu ein gesuchtes Datum, das Bewusstsein des Einzelnen besteht nur in Konkurrenz – im buchstäblichen, nicht literarischen oder gesuchten Sinne – und sofortiger, dies meine instantaner Gegenwart des umschließenden und einfallend anderen Bewusstseins, es sei das Gruppenbewusstsein. Es sei auch zugestanden, die Sprache ist ein Mittel, und selbige bedarf gelegentlich einer erheblichen Zuspitzung, ja beiläufigen Erfindungskraft, um das Vermeinte bzw. tatsächlich Bestehende angemessen auszudrücken. Dies wäre aber nur ein Beweis, dass in der Sprache selbst dieser Zwist des Bewusstseins abgestanden ist und wenigstens die Wissenschaft sich dagegen richtet, ihre abgeschliffenen Münzen oder aber den Sinn des Abschleifens überhaupt zu bekräftigen, geschweige endgültig zu verleugnen.2

Im Hunsrück, Trier, März 2019Sander Wilkens

1 Antonio Damasio. Ich fühle also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. Deutsch München 2002, 24.

2 Für den, den es eventuell interessiert, der Text war Gegenstand einer Vorlesung im kleineren Kreis an der Universität Trier. Wesentliche Passagen zur Logik (Polarität), zu Erläuterungen der Beispiele und ihrer symbolischen Bezeichnung sind später hinzugetreten.

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Vorbemerkung I

Vor der Einführung in die Vorlesung stellt sich die Frage nach dem Thema. Warum hat die Philosophie Grund, das Gruppenbewusstsein zu reflektieren, sodann insbesondere im Gegensatz zum Individual- oder Einzelbewusstsein, und wie vermag sie selbiges aus eigenen Mitteln zu analysieren? Wie stets bieten sich zwei Hauptzugänge. Der eine wendet sich der Empirie zu, der andere sucht die Grundbedingungen des menschlichen Bewusstseins, gleichgültig ob sie idealistisch, transzendental oder analytisch heißen, um das Problem, den Gegensatz, seine Implikationen und Folgerungen aus den vorausgesetzten Theoremen abzuleiten oder zu lösen. In der Vorbemerkung sei der erste Weg gewählt, da es sich, wie gleichfalls oft, anbietet, der Empirie zu öffnen, um die tatsächliche Komplexion und eventuellen Untiefen zu erfahren, die mit dem Thema verknüpft sind. Also vier Beispiele mitsamt erster Erläuterung, sie sei die Implementierung des Themas:

(1) Aus einem Nachrichtenartikel:

Von der Verhaftungswelle die seit dem Putschversuch im Gange ist, wird auch die Justiz erfasst. Mehr als 2700 Richter sind suspendiert worden; unter den mehreren Dutzend Verhafteten ist auch ein Verfassungsrichter. Viele dürften bezichtigt werden, mit den XXX [gemeint sind die Anstifter, sie seien hier nicht genannt] unter einer Decke zu stecken. Der türkische Justizminister YY sagte am Sonntag, im Zusammenhang mit dem Putsch seien über 6000 Personen festgenommen worden. Diese Zahl werde noch weiter ansteigen.

Meint dieses Unter-einer-Decke-Stecken ein Gruppenbewusstsein? Wenn ja, welche Bedingungen setzt es? Wäre es richtig, diese Bedingung nur der besonderen Situation, einem versuchten Staatsumbruch beziehungsweise dem Sturz einer Regierung mit militärischen Mitteln zuzuschreiben, oder eröffnet das Bewusstsein Bedingungen, die auch unter friedlichen Umständen angewendet werden können, so dass kein Grund besteht, die Metapher, die wie so oft Wesentliches bezeichnen muss, an das die Alltags- oder sogar wissenschaftliche Prosa nur schwer heranreicht, zu entkräften bzw. auf eine völliges Spezifikum einzuschränken. Gewiss, für den Begriff Unter-einer-Decke-Stecken benötigt man den Begriff der Verschwörung, auch des Schwurs, insoweit es sich aus dem politischen Handeln und Umständen erklärt. Die Verschwörung wiederum benötigt eine stille, nicht kommunizierte Wach- und Aufmerksamkeit, um die Verabredung und das gemeinsame Ziel festzuhalten. Nun stellt sich aber insbesondere die Frage, liegt ← 17 | 18 → dieses kollektive Vermögen nur an den negativen Umständen, der politischen Gewalt, die umgangen und eventuell gestürzt werden soll, oder gehört die Bedingung zum Bewusstsein schlechthin, und auch das gewöhnliche, ‚sagen wir‘ das positive Leben, das jedenfalls nicht an eine negative Bedingung geknüpft ist, eröffnet selbige Form des Austausches und der Unterhaltung gemeinsamer Ziele und Abmachungen unter verschiedenen/mehreren/abzählbaren oder nicht Subjekten. Bedenkt man, dass die Verschwörung und insbesondere der Schwur ein positives Pendant besitzt, nämlich den Eid und die Vereidigung, dann beginnt man zu erkennen, dass tatsächlich das Vermögen, ein Bewusstsein unmittelbar unter mehreren zu teilen und aufrechtzuerhalten, in diesem Sinne allgemein ist (vgl. Leibniz und die Charakterisierung des Eids).3 Dies dürfte auch, um in Kürze eine andere sprichwortartige, allerdings vernakulare Formel aufzugreifen, nämlich »die Köpfe zusammenstecken«, deutlich darauf hinweisen, dass im unvermittelten oder Alltagsbewusstsein hinreichend Indiz und Praxis vorhanden ist, um das Bewusstsein keineswegs auf die methodische Enge des Individualbewusstseins einzuschränken. Um aber nicht sofort alle Schlüsse zu ziehen oder die wesentlichen Behauptungen aufzustellen, helfen vermutlich Zwischenbeispiele, die das Phänomen, gesetzt, man darf es so wissenschaftlich-generalisierend bezeichnen, umreißen oder annähern.

(2) In der Stellenbeschreibung eines Analytikers heißt es:

Sie führen alle Recherchen, Analysen und Auswertungen gemäß den Richtlinien durch, die von der entsprechenden wissenschaftlichen Gemeinschaft festgelegt wurden.

Ist wiederum diese Gemeinschaft bzw. ‚scientific community‘, wie es im Original heißt und wie sich der Ausdruck eingebürgert hat, Beleg für ein Gruppenbewusstsein? Wäre sie es nicht, dann wäre es zunächst unmöglich, dass sich ein Analytiker nach den Richtlinien einer bestimmten Wissenschaft richtet, um Recherchen und Analysen durchzuführen, und deren insbesondere Auswertung nach den Richtlinien nun nicht nur dieser Wissenschaft, sondern der wissenschaftlichen Gemeinschaft auszurichten. Offensichtlich ergibt sich hier ein Gegensatz oder sogar eine Kluft, da die Gemeinschaft freilich eine Gewohnheit, einen Ritus oder auch einen Regelkanon festlegen kann, nach dem sich der Umgang mit den Phänomenen und Daten, die unter diese betroffene Wissenschaft ← 18 | 19 → fallen, richtet. Die Wissenschaft mag mithin einen beständigen Unterschied zur Praxis und zum Selbstverständnis dieser Gemeinschaft unterhalten. Oder wenn es einen Gemeinverstand oder Alltagsverstand gibt, dann ist diese ‚scientific community‘ nach ihrem wohlgemerkt kollektiven Selbstverständnis dafür verantwortlich, den Gegensatz des Gemeinverstands zum wissenschaftlichen Verstand aufrecht zu erhalten. Diese Gemeinschaft ist aber ausdrücklich nicht versatzt, was bedeutet, wenn sie eine Gemeinschaft unterhält, dann nicht aufgrund festgelegter, nachprüfbarer und eventuell berufungsfähiger Klauseln, sondern wiederum nur aufgrund eines verbleibenden Bewusstseins, das sie zusammenhält und zusammenführt, und in diesem Sinne konstitutiv heiße. Es sind jedenfalls nicht Kongresse, Rundschreiben oder Workshops, nicht Aufforderungen zu Gutachten oder ähnlichem, das sie zusammenführt, nicht Gespräche, Korrespondenzen oder einzelne Repliken auf Veröffentlichung oder Ähnlichem, allesamt Handlungen, die diese wissenschaftliche Gemeinschaft vielmehr schon voraussetzen. Sie geht damit einher und ist jedenfalls nur in einem sehr simplifizierenden Sinne deren Produkt. Diese Gemeinschaft ist daher, charakteristisch, nicht einfach – natürlich und unvermittelt würde man sie ohnehin nicht bezeichnen wollen – und keineswegs nur oder insbesondere die Summe aller Einzelhandlungen oder Einzelvollzüge (die notorische Frage oder Problem, wenn irgend kollektiver Belang, Größe oder Funktion geprüft werden soll, u.a. auch in Zusammenhang mit der sog. ›kollektiven Intentionalität‹ und dem ›collective belief‹). Nun ist das Bewusstsein, das diese Handlungen voraussetzen, zunächst vage – dieserart zumindest die allgemeine Einschätzung –, und so erfolgt leichthin ein Geringschätzen oder Abtun. Ist aber das Bewusstsein dieser sog. wissenschaftlichen Gemeinschaft zunächst vage, so ist es vor allem unklar. Bei näheren Hinsehen neigt sie zu zerfallen, sich als Illusion kundzugeben, oder sogar als ein bestimmtes Ideal, wie es der amerikanische Philosoph und Semiotiker Charles S. Peirce formuliert hat, der behauptete, die wissenschaftliche Gemeinschaft vertrete einen bestimmten Wahrheitsbegriff, eben denjenigen, den nur sie, nicht der einzelne vertreten könnte, in dem sich die Abfolge der wissenschaftlichen Theorien zunehmend diesem als Differenzial aufgefassten Ideal zu nähern sucht. Auf diese Weise landet die Untersuchung bzw. Überlegung in der Wissenschaftstheorie oder einem Zweig der Wahrheitstheorie, übrigens dem pragmatischen zuzurechnen, und so ist oder war die ‚scientific community‘ nicht gemeint. Sie besitzt durchaus eine bestimmte instantane Auffassung und Geltung, ein Bewusstsein, der sich eine Vielzahl von Personen, sei es von innen oder von außen, zuschreiben, um sich zu orientieren. Orientierungen sind aber nicht vage bzw. eine Orientierung, um echt zu sein ← 19 | 20 → und ihre Funktion zu erfüllen, muss gerade die Möglichkeit eröffnen, sich der Vagheit zu entledigen. Das geforderte Bewusstsein mag somit, fürs Erste, einen Dreh- oder Angelpunkt enthalten (der weiterer Definition bedarf), distinkt gefühlte Wendepunkte (und „gefühlt“ meint unter Einsatz aller Bewusstseinskräfte wahrgenommen und erkannt), er sollte aber nicht in die Abstraktion eingerückt werden, noch weniger, und insb., nur dem Einzelbewusstsein als Träger überlassen bleiben. Darum mag eine Zwischenüberlegung eintreten, bevor das letzte Beispiel auf den Plan tritt und eine erste Konklusion folgen wird. – Wenn man sich diese wissenschaftliche Gemeinschaft vor Augen hält, sodann an die Forderung des Beispiels gebunden, der Analytiker müsse sich bei seinen Forschungen und Auswertungen an irgend Stelle, sei es in einem Unternehmen, einem Institut oder einer staatlichen Behörde, an deren Richtlinien halten, dann entsteht eine durchaus komplexe Vorstellung, die um keine, bzw. nicht nur die namhaften Personen und Institutionen zentriert und, im Bilde, einer Energie- oder Wasserfläche gleicht, zumindest sei dies an dieser Stelle die Vorgabe, welche an und für sich das eigentümliche Energiefeld des Bewusstseins meint (das in dieser Vorlesung bzw. Abhandlung an mehreren Stellen wiederkehrt, eingesetzt, begründet und veranlagt wird). Sie besitzt sodann eine bestimmte signifikante Spannung, die sofort zu platzen resp. zu implodieren droht, sobald man sich ihr nähert und sie berührt: sie zerfällt – wie es das Urteil will, dass sie nur vage ist –, oder sie fällt, um die Implosion aufzuhalten, auf die Seite der insbesondere soziologischen Erklärung. Bestimmte Riten und Gebräuche, die Inhabe und Verteilung der Stellen und Lehrstühle, die Gepflogenheiten der Versammlung und Kommunikation, das wie schon erwähnt gegenseitige Lesen und Zitieren von Veröffentlichungen, Aufsätzen und Vorträgen, die Versuche der internen Rangfolge oder Schuldbildung etc., überhaupt die stillschweigenden Abmachungen untereinander sind dann die Kriterien, nach denen sich die soziologisch, als eine soziologische Gruppe verstandene Gemeinschaft bildet. Offenbar ist dies aber nicht nötig und nicht sofort gemeint, wenn man davon spricht, dass in der Öffentlichkeit stets auch eine bestimmte ‚scientific community‘ wirksam ist bzw. das jeder, der sich mit bestimmten Themen auseinandersetzt, damit rechnen muss, sei es aus beruflichen Gründen oder nicht, dass sie von einer ‚scientific community‘ vertreten werden. Wenn man diese Vorstellung nun nicht einfach als einen allgemeinen Begriff bezeichnen will, der von einem Einzelwissenschaftler auf deren (indefinite, keineswegs grenzwertige) Summe als Allgemeinheit abstrahiert – was freilich jederzeit möglich, aber nur ein Missverständnis begründet –, dann existiert diese scientific community oder wissenschaftliche Gemeinschaft tatsächlich zunächst und insbesondere dadurch, dass man ihr ein ← 20 | 21 → mehr oder weniger originäres und damit eigenschaftliches Bewusstsein zuschreibt. Sie implodiert nicht und zerfällt nicht, wenn man jedem Einzelnen zurechnet, sei es auf aktiver, sei es auf passiver Seite, daran teilzuhaben (was davon zu unterscheiden, selbiges zu verinnerlichen oder zu reflektieren). Diese Gemeinschaft ist existent dann, und nur dann, infolge der Tatsache, dass beständige Impulse von innen sie er- und die Spannung unterhalten. Sie mag zerklüftet und in einem bestimmten Sinne unstet sein, i.e. sie oszilliert, und es braucht durchaus nicht jeder Impuls zwischen zweien oder mehreren, wodurch sich die Vorstellung dieser Gemeinschaft unterhält, auch an jeder anderen Stelle, an jedem anderen Ort ihrer Ausbreitung wahrgenommen – und positiv oder negativ beschieden – werden (so jedenfalls arbeitet die Bewusstseinsmembran, sobald sie von ihrer realen Basis der Gehirnströme her erschlossen wird). Gerade diese Möglichkeit, dass (i) ein gegenseitiges Gewärtigen des inneren Verkehrs erfolgt; (ii) sich die Teilnehmer gegenseitig über örtliche und zeitliche Distanzen hinweg wahrnehmen und wahrgenommen haben; und (iii) dieser zeitliche Absatz oder das Übergehen in die instantane Erinnerung (zu einem späteren Zeitpunkt das überzeitliche Geschehen und Gedächtnis) dann ein Bewusstsein benötigt, macht den Begriff der wissenschaftlichen Gemeinschaft aus, der sodann nicht einfach unter den, wie erläutert, abstrakten Begriff fällt. Der abstrakte und allgemeine Begriff der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der Begriff des Gruppenbewusstseins, der mit der ‚scientific community‘ verbunden ist, treten somit auseinander und sind auf keinen Fall miteinander zu verwechseln.

Hiermit sei die erste, etwas eingehendere Analyse für einen Fall von Gruppenbewusstsein abgeschlossen, in diesem Falls der sogenannten ‚scientific community‘, der dieses nicht abgesprochen wird. Es bleibt anzufügen, das nicht die gebildete oder insbesondere gemeinverständliche Form des Bewusstseins dafür verantwortlich ist, dieses Gruppenbewusstsein zu respektieren und als existent anzusehen, abgesehen davon, dass mit diesem Merkmal, wenn es als konstitutiv behauptet wird, selbstredend der Zirkel begangen würde. Wenn das Bewusstsein der ‚scientific community‘ nur dadurch entsteht und zu erklären ist, dass es nicht der Gemeinverstand ist, der sich in ihm niederschlägt, dann muss, sobald es sich als selbstständig behaupten will, die Erklärung auf den Gemeinverstand zurückfallen, in dem es ihm unterstellt, nicht über die Konvention und Standards der Ausbildung und ihrer Folgen zu verfügen, und Bewusstsein versus Bewusstsein, gesetzt es gilt auch für den Gemeinverstand, schlägt um von der einen Seite auf die andere. Das Bewusstsein der wissenschaftlichen Gemeinschaft als ein Gruppenbewusstsein ist damit nicht allein und vollständig bedingt durch den Gegensatz oder das Gegenteil zum Gemeinverstand oder das nichtwissenschaftliche ← 21 | 22 → Bewusstsein, und es ergibt sich eine Parteiung, die eine bestimmte autochthone oder originäre Geltung hat, in der Form, dass jeder Seite ein ursprünglicher Zugang und Zugriff zu widmen ist, und nicht etwa eine stete Ableitung der einen aus der anderen, so dass der Ursprung nur einfach wäre. Gruppenbewusstsein, um es wenigstens als Postulat oder als quasi allgemeinen Lehrsatz, den ersten, zu fordern,

muss demnach über einen eigenständigen Ursprung verfügen, der es, als insbesondere Bewusstsein und nicht etwa nur Begriff oder synthetisierte Vorstellung, vom wiederum Individual- oder Einzelbewusstsein unterscheidet.

Darum in dieser ersten Voreinführung und Vorbemerkung ein drittes Beispiel:

(3)  Aus einem Vertrag:

Wie darf, muss, sollte man dieses Bewusstsein der Parteien charakterisieren? Offensichtlich muss es zunächst, an erster Stelle, hierarchisieren: die Disjunktion geht vor und bestimmt die Alternative, derzufolge (i) keine Partei für eine andere eintreten oder gar in einer möglichen Geschäftsbeziehung fusionieren darf (als eine Partei auftreten, welche die andere Partei des Vertrags einverleibt). Gleichwohl ist (ii) keine Partei nur für sich, als ob sie nur ihren eigenen Belang und Interesse(n) vertritt. Dies wäre glatter Widerspruch, da in diesem Fall die geforderte Negation, eben nicht als Vertreter der anderen Partei aufzutreten, gar nicht einlösbar wäre. Ganz im Gegenteil, (iii) jede Partei weiß nicht nur das Gegeninteresse, als solches könnte es stehen bleiben, sondern sie hat es in der Beweglichkeit der Vertragsverhältnisse beständig zu berücksichtigen, im Kern der eigenen Beweglichkeit mitzubedenken. Also bezeichnet (iv) die überschriftliche Unabhängigkeit der Parteien zugleich eine bestimmte Abhängigkeit. Wenn nun aber die Abhängigkeit und die Unabhängigkeit, wie erläutert, zugleich gelten, aber keinen Widerspruch, sondern ganz im Gegenteil eine einsichtige (gleichermaßen konsistente wie plausible) und logisch ← 22 | 23 → einwandfreie Beziehung bedingen, welcher Art ist diese?4 Analytisch darf man aus (i) bis (iv) folgern, im Begriff ›Partei‹ liegt das direkte Umkehrmoment, nämlich Nicht-Partei zu sein, und zwar exakt in dem Sinne, in dem der einen Partei die andere (möglicherweise mehrere) entgegensteht. Würde man diese Komplementarität nur als Ausschluss interpretieren, verliert der Begriff das zugleich inkludierende Moment am Gegenteil, auf das es ankommt. Hier liegen demnach Ursprünge oder die Wurzeln von Gruppenbewusstsein (und es wundert nicht, dass der Begriff ›Partei‹, dem eine wesentliche Beziehung zur Topik nachgesagt werden kann, dennoch kein antiker, sondern neuzeitlicher Begriff ist. Der Begriff ›Partei‹ ist auf keinen Fall bloße Folge einer reflexiven Bezugnahme, eines obliquen locus inventionis, sondern er besitzt seine logische – und juristische, oder gemeinrechtliche – Geltung geradehin, aus dem Stand, auf Anhieb oder d’emblée, wie man im Französischen sagt). Nun ist klar, dass in der Beziehung kein Kontrast vorliegt, denn dieser würde gleichfalls die Entscheidung, dabei aber ein mittleres Ausweichen ermöglichen. Beides liegt nicht vor, denn jede Partei soll sich in der Komplementarität gerade nicht exklusiv nur für sich ausführen, noch im Sinne einer Partei, die durchgehend sich als die andere schlechthin inkludierend begreift, noch freilich derart, dass sie sich etwa einer Drittpartei anschließt und dieser die Vertragsauslegung auferlegt oder überlässt; oder einen Zweit- oder Andervertrag abschließt, in dem sie sich diese Vertretung offenhält. Ergo bezeichnet die logische Beziehung, die zugleich die Unabhängigkeit und Abhängigkeit verlangt oder einschließt, eine Polarität, und sie gilt im alten aristotelischen Sinne unter der Bedingung des zugleich Zusprechens und Absprechens (sogar, und darum wiederum neuzeitlich, ohne die Klauseln der Situation oder des Zugleich, i.e. das Zu- und Absprechen braucht hierauf keine Rücksicht zu nehmen). Freilich schließt diese Beziehung sodann nicht aus, dass die eine Seite stärker ist als die andere oder dass es Hinsichten gibt, in der das eine Moment, die Unabhängigkeit, vor dem anderen, der Abhängigkeit, überwiegt, zunimmt oder abnimmt (und deutliche Anzeichen der Kompatibilität mit letzterer Beziehung, wie sich noch mehrfach ← 23 | 24 → zeigen wird). Worauf es jedenfalls ankommt, ist, dass die Parteien unabhängig sind gegeneinander in der Form, dass sie jeweils für sich ihren wirtschaftlichen oder anderen Interessen nachgehen dürfen, dabei aber abhängig, dass sie die andere dabei nicht vertreten, hintergehen oder in einer Weise inkludieren dürfen, die deren Interesse zuwiderläuft oder einfach deren prinzipielle Unabhängigkeit missachtet; abgesehen davon, dass jede Partei freilich überall die sonstigen Klauseln des Vertrags einhalten und ausführen muss, womit die Stetigkeit der gegenseitigen Reflexion angesetzt und gefordert ist. Das Vertragsverhältnis begleitet damit alle differenten Handlungen der Parteien, und es umschließt sie als ihr – vertragsgemäß konstituiertes – Ganzes, das, wie erläutert, in logisch polare und nicht schlechthin disjunkte Teile zerfällt. (Probleme der Vagheit,5 der Häufung6 und/oder der Nullbewertung7 fallen demnach, ohne sie hier zu erläutern, nicht im Sinne der außerpolaren, neutralen oder widerspruchsgebundenen Erörterung an, die bislang noch weitgehend das Feld beherrscht, als ob es die Antonyme nicht gäbe. Außerdem müsste man sich öfters fragen, ob Argumentationen, die sich auf ein ›unabhängig von‹ (›independent of‹) berufen, tatsächlich nicht das Antonym meinen resp. rundheraus oder endgültig ausgeschlossen haben, in welchem Fall selbstredend die Situation oben eintritt). Wenn dies die logische Basis darstellt, müssen die geläufigen Auffassungen der Partei, die sie der Neutralisierung, der Indifferenzierung oder Immunisierung überweisen – als ob keine wesentliche Negation beteiligt –, als sekundär charakterisiert werden (freilich der Gefahr ausgesetzt, wegen der mangelnden Fundierung oder Absicherung zu implodieren und/oder zu dilutieren, die sog. ›Mitte‹ zu überreizen, etwa im Politischen).

Wenn nun das Einhalten dieser vertraglichen Forderung auch ein stetes Bewusstsein verlangt – und Bewusstsein ist rechtens besehen kein Werkzeug, 8 sondern, in summa, die quasi natürliche Linse, die nicht etwa nur das Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen reguliert, sondern selbstredend auch das ebenso ← 24 | 25 → instantane, öfters überwiegende Ausblenden oder Blindstellen –, und wie anders sollte die Forderung durchzuhalten sein, dann muss auch diese Form des rechtlichen Vertragsverhältnisses ein bestimmtes Gruppenbewusstsein verkörpern. Es mag (aus pragmatischer Sicht) lässlich sein oder überflüssig erscheinen, aus Sicht der Philosophie ist es existent und zu fordern, sobald die logische Beziehung der Parteien ihre Einhaltung verlangt und diese nur durch zunächst ein Bewusstsein zu konstituieren und weiterhin zu erklären ist. Umso mehr, als ja mit der Partei, hier der gewöhnlichen rechtlichen Partei, ein bestimmtes Bewusstsein für sich konstituiert ist. Jede Partei bedingt gerade, dass sie ab dem Schritt der Verhandlungsvorbereitung bis zur Unterzeichnung, sodann innerhalb der gesamten Spanne der Ausführung und Einhaltung bis zum Auslaufen, Kündigung oder Verlängerung ein spezifisches (manchmal überaus elitäres) Bewusstsein einbringt. Da nun jede Partei so verfährt – es können gewiss, insbesondere bei sog. multilateralen Staatsverträgen mehr als zwei Parteien auftreten –, gerät das Bewusstsein in eine bestimmte Schleife, eben genau jene, die jeder Partei auferlegt, zugleich unabhängig und abhängig zu sein (dies meint, um der Schleife definitorisch gerecht zu werden, die Bindung und Trennung zugleich, sie sei, gekürzt, die Funktion ›≅‹,9 von Plus- und Minuspol um eine gemeinsame Achse). Oder, um sich nicht an die Klausel des Beispiels zu halten beziehungsweise selbige nicht direkt zu verallgemeinern, jeder Partei auferlegt, ein Bewusstsein für sich und nicht für sich zu manifestieren, beides jedoch innerhalb der Verpflichtung des Vertrags. Wenn nun diese Komplementarität der Parteien im strengen Sinne ein Gruppenbewusstsein fordert und ausdrückt (instantiiert), und wenn wiederum die Komplementarität eine Form ist, in der sich Polarität äußern kann, dann muss dem Gruppenbewusstsein auch die Möglichkeit zukommen, die Polarität oder polares Bewusstsein auszudrücken. Es sei (wie in Zusammenhang mit der Erwähnung der Topik bereits angedeutet) ausdrücklich von jeder dialektischen Interpretation abgehalten und unterschieden, die hier aufkommt oder sich anbietet. Der Grund besteht im Umgang mit der Negation, der ohne Anschluss an die klassischen Begriffe und logischen Beziehungen der sog. neuen Logik (im Sinne Carnaps) verlangt, die Negativität der Parteien ausschließlich dialektisch – anstatt und vor allem polar – zu interpretieren. Womöglich, dies sei an dieser Stelle nur erst eine Hypothese oder Ausblick zum Fazit dieser Vorlesung, ist das Gruppenbewusstsein selbst nur ein Gegenpol oder in diesem Sinne bestimmter ← 25 | 26 → Antipode zum geläufigen, wohlbekannten und vielfach vertretenen Individualbewusstsein (was sogleich eingehend erläutert wird). Um aber auf das erste Beispiel zurückzukommen, das ›Unter-einer-Decke-stecken‹ und damit verknüpfte Bewusstsein ist gewiss ein hochgradig polarisiertes Bewusstsein, da es ja beständig darauf achten muss, die Konvention einzuhalten bzw. nicht aufzufallen oder aufgedeckt zu werden (absichtlich und konzentriert abzublenden), so dass es diese Hypothese des polarisierten oder polar verankerten Bewusstseins unterstützt. Politisch manifest und (dem Exempel gemäß) bereits Aktualhistorie, hat die Hypothese somit auch hinreichenden empirischen Rückhalt, nicht zuletzt seit der Antike (mit der der Agent, Spion, Verschwörer, Partisan, überhaupt der Bot- oder Kundschafter einrücken). So dass sich die Theorie, wie noch zu sehen, darauf konzentrieren kann, die Bedingungen zu durchleuchten, inwieweit Gruppenbewusstsein generell mit der Möglichkeit polarisierten Bewusstseins zusammenhängt und wie dieses die Möglichkeit verschafft, zwischen Individualbewusstsein und Gruppenbewusstsein ohne Widerspruch, ohne endgültigen Bruch und ohne differenten Existenzbeweis, als ob es das eine gebe und das andere nicht, zu wechseln.

Details

Seiten
494
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631792728
ISBN (ePUB)
9783631792735
ISBN (MOBI)
9783631792742
ISBN (Hardcover)
9783631792698
DOI
10.3726/b15744
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Polares Bewusstsein Wir-Subjekt Historisches Subjekt Distanz Zeitbewusstsein Negationsbeziehungen Relativität Dis-/Kontinuität Sprung oder Hiatus
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 494 S.

Biographische Angaben

Sander Wilkens (Autor:in)

Sander Wilkens hat sich an der TU Berlin als Privatdozent für theoretische Philosophie habilitiert, sodann nach Trier umhabilitiert.

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Titel: Ichbewusstsein – Gruppenbewusstsein
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