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Repression, Reform und Neuordnung im Zeitalter der Revolutionen

Die Folgen des Wiener Kongresses für Westeuropa

von Andreas Fickers (Band-Herausgeber:in) Norbert Franz (Band-Herausgeber:in) Stephan Laux (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 430 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band reflektiert die Folgen des Wiener Kongresses für Westeuropa, insbesondere aus der Perspektive der europäischen Großregion Saarland-Lothringen-Luxemburg-Rheinland-Pfalz-Wallonie. Die territoriale und politische Neuordnung Europas wird aus regionalhistorischer Perspektive untersucht, ohne die transnationalen Dimensionen dieses komplexen Prozesses aus den Augen zu verlieren. Besonders die verfassungs-, verwaltungs- und sozialgeschichtlichen Dynamiken, die bei der Herausbildung der modernen Staatlichkeit im Zeitalter der Revolutionen freigesetzt werden, stehen im Zentrum des Interesses.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • I. Grundlagen
  • Die Folgen des Wiener Kongresses für Westeuropa – eine Einleitung (Andreas Fickers / Norbert Franz / Stephan Laux)
  • Le Congrès de Vienne et la fondation du droit international moderne (Thierry Lentz)
  • Die „Wiener Ordnung“ und die Welt „jenseits von Wien“ (Heinz Duchhardt)
  • Ordnungsmuster der Moderne zwischen sozialer Dynamik und restaurativen Blockaden. Gesellschaftspolitische Handlungsfelder in Süddeutschland bis 1830 (Christof Dipper)
  • II. Die Auswirkungen des Wiener Kongresses in der Region zwischen Maas und Rhein
  • 1815 – Wie das Großherzogtum Luxemburg entstand (Guy Thewes)
  • Niedergerissene Scheidewand? Die Bedeutung der Religionspolitik Wilhelms I. für die jüdische Minderheit in Luxemburg (Renée Wagener)
  • Der Wiener Kongress zwischen Arkanpolitik und Öffentlichkeit. Zur Bedeutung von Publizistik und Pressepolitik in Bezug auf die „Rheinlandfrage“ (Nina Schweisthal)
  • Neue Staaten – neue Grenzen. Die Rhein-Maas-Mosel-Region zwischen den Grenzbereinigungen des Ancien Régime und der Neuordnung durch den Wiener Kongress (1779–1816) (Martin Uhrmacher)
  • Die Luxemburger Eisenindustrie am Vorabend der industriellen Revolution. Der Überlebenskampf der Luxemburger Unternehmer unter niederländischem Regime (1815–1830) (Marc Birchen)
  • III. Staatlichkeit
  • Kontinuität oder Erneuerung? Die grundlegenden Typen und Kennzeichen der Verfassungsentwicklung in der europäischen Staatenwelt 1815–1850 (Werner Daum)
  • Föderative Traditionen und nationale Hoffnungen: Deutscher Bund (Hans-Werner Hahn)
  • Entre vassalisation du pays et « Révolution libérale » : les conséquences du Congrès de Vienne pour le royaume du Portugal (Cécile Gonçalves)
  • Die Ausweitung der Staatstätigkeit zwischen Revolution und Reaktion – Mittel- und Westeuropa 1780 bis 1850 (Norbert Franz)
  • IV. Revolution, Restauration, neue Ordnung
  • Konservative Revolutionäre – der lombardische Adel in der Sattelzeit (Gabriele B. Clemens)
  • Le pari de la « Barrière des Pays-Bas » : chronique d’un échec politique et culturel annoncé (Catherine Lanneau)
  • Die erste Bewährungsprobe der Wiener Ordnung: Die südeuropäischen Revolutionen der 1820er Jahre (Jens Späth)
  • „Das in dem verdorbenen Geiste der Zeit liegende Revolutionsprinzip“. Die Habsburger Rezeption und Kontrolle des Revolutionstransfers zu Beginn der 1820er Jahre (Michal Chvojka)
  • Der Wiener Kongress und die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden: Die Föderalisierung von Minderheitenrechten im Zeitalter der Restauration (Stephan Laux)
  • Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren
  • Dank
  • Orts- und Personenregister
  • Reihenübersicht

Andreas Fickers / Norbert Franz / Stephan Laux (Hrsg.)

Repression, Reform
und Neuordnung
im Zeitalter der Revolutionen

Die Folgen des Wiener Kongresses für Westeuropa

Herausgeberangaben

Andreas Fickers ist Professor für Zeitgeschichte und digitale Geschichtswissenschaft und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und digitale Geschichtswissenschaft an der Universität Luxemburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Technik-, Medien-, Zeit- und digitale Geschichte.

Norbert Franz ist außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier und lehrte bis 2017 an der Universität Luxemburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Städtegeschichte der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts, Geschichte ländlicher Gesellschaften und kommunaler Verwaltungen, Finanzgeschichte sowie Sozial-, Konsum- und Umweltgeschichte.

Stephan Laux ist Professor für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Trier. Dort wirkt er auch im Direktorium des Arye Maimon-Instituts für Geschichte der Juden mit. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Frühen Neuzeit, insbesondere der rheinischen Reformationsgeschichte, der vergleichenden Städtegeschichte, der Geschichte der Juden in ständisch geprägten Gebieten des „Heiligen Römischen Reiches“ und der allgemeinen Geschichte Mitteleuropas in den Jahrzehnten um 1800.

Über das Buch

Dieser Band reflektiert die Folgen des Wiener Kongresses für Westeuropa, insbesondere aus der Perspektive der europäischen Großregion Saarland-Lothringen-Luxemburg-Rheinland-Pfalz-Wallonie. Die territoriale und politische Neuordnung Europas wird aus regionalhistorischer Perspektive untersucht, ohne die transnationalen Dimensionen dieses komplexen Prozesses aus den Augen zu verlieren. Besonders die verfassungs-, verwaltungs- und sozialgeschichtlichen Dynamiken, die bei der Herausbildung der modernen Staatlichkeit im Zeitalter der Revolutionen freigesetzt werden, stehen im Zentrum des Interesses.

Zitierfähigkeit des eBooks

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Inhalt

I. Grundlagen

Andreas Fickers, Norbert Franz, Stephan Laux

Die Folgen des Wiener Kongresses für Westeuropa – eine Einleitung

Thierry Lentz

Le Congrès de Vienne et la fondation du droit international moderne

Heinz Duchhardt

Die „Wiener Ordnung“ und die Welt „jenseits von Wien“

Christof Dipper

Ordnungsmuster der Moderne zwischen sozialer Dynamik und restaurativen Blockaden. Gesellschaftspolitische Handlungsfelder in Süddeutschland bis 1830

II. Die Auswirkungen des Wiener Kongresses in der Region zwischen Maas und Rhein

Guy Thewes

1815 – Wie das Großherzogtum Luxemburg entstand

Renée Wagener

Niedergerissene Scheidewand? Die Bedeutung der Religionspolitik Wilhelms I. für die jüdische Minderheit in Luxemburg

Nina Schweisthal

Der Wiener Kongress zwischen Arkanpolitik und Öffentlichkeit. Zur Bedeutung von Publizistik und Pressepolitik in Bezug auf die „Rheinlandfrage“

Martin Uhrmacher

Neue Staaten – neue Grenzen. Die Rhein-Maas-Mosel-Region zwischen den Grenzbereinigungen des Ancien Régime und der Neuordnung durch den Wiener Kongress (1779–1816) ←5 | 6→

Marc Birchen

Die Luxemburger Eisenindustrie am Vorabend der industriellen Revolution. Der Überlebenskampf der Luxemburger Unternehmer unter niederländischem Regime (1815–1830)

III. Staatlichkeit

Werner Daum

Kontinuität oder Erneuerung? Die grundlegenden Typen und Kennzeichen der Verfassungsentwicklung in der europäischen Staatenwelt 1815–1850

Hans-Werner Hahn

Föderative Traditionen und nationale Hoffnungen: Deutscher Bund

Cécile Gonçalves

Entre vassalisation du pays et « Révolution libérale » : les conséquences du Congrès de Vienne pour le royaume du Portugal

Norbert Franz

Die Ausweitung der Staatstätigkeit zwischen Revolution und Reaktion – Mittel- und Westeuropa 1780 bis 1850

IV. Revolution, Restauration, neue Ordnung

Gabriele B. Clemens

Konservative Revolutionäre – der lombardische Adel in der Sattelzeit

Catherine Lanneau

Le pari de la « Barrière des Pays-Bas » : chronique d’un échec politique et culturel annoncé

Jens Späth

Die erste Bewährungsprobe der Wiener Ordnung: Die südeuropäischen Revolutionen der 1820er Jahre ←6 | 7→

Michal Chvojka

„Das in dem verdorbenen Geiste der Zeit liegende Revolutionsprinzip“. Die Habsburger Rezeption und Kontrolle des Revolutionstransfers zu Beginn der 1820er Jahre

Stephan Laux

Der Wiener Kongress und die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden: Die Föderalisierung von Minderheitenrechten im Zeitalter der Restauration

Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren

Dank

Orts- und Personenregister ←7 | 8→ ←8 | 9→

Andreas Fickers, Norbert Franz, Stephan Laux

Die Folgen des Wiener Kongresses für Westeuropa – eine Einleitung

Nicht nur im Zusammenhang mit dem 200. Jahrestag seiner Eröffnung, sondern auch wegen seiner konfliktbegrenzenden Rolle wird die Bedeutung des Wiener Kongresses in den letzten Jahren erneut diskutiert. Im Raum der heutigen europäischen „Großregion“1, die aus dem Großherzogtum Luxemburg und den angrenzenden Regionen seiner Nachbarländer besteht, waren die Folgen des Wiener Kongresses besonders gravierend. Seine Beschlüsse lösten diesen Raum aus dem Staatsterritorium Frankreichs, dem er seit zwei Jahrzehnten angehört hatte, heraus. Und sie zogen hier neue Grenzen Preußens und des Königreiches der Niederlande.2 Viele Territorien wechselten dabei ihre Herrschaftszugehörigkeit und bekamen neue Verwaltungsstrukturen, andere wiederum bewegten sich auch weiter sehr stark in der Tradition der französischen Gesetzgebung und Verwaltung. Ähnliche Entwicklungen nahmen auch Teile Europas, die nur mittelbar dem Einfluss des revolutionären und napoleonischen Frankreich unterlagen.3

Im deutschsprachigen Raum, aber auch in anderen kulturellen Segmenten der internationalen historischen Forschung wurden der Wiener Kongress und seine Folgen über viele Jahrzehnte hinweg kaum zum Gegenstand intensiver empirischer Forschungstätigkeit. Lange blieb Peter Burgs knappe Darstellung,←11 | 12→ die sich überdies vor allem mit der Rolle des Deutschen Bundes im europäischen Staatensystem, den Folgen des Kongresses für Mitteleuropa und der deutschen Nationalbewegung befasste, die aktuellste Forschungssynthese dieses Themenbereichs.4 Noch von dieser Konzentration auf Mitteleuropa geprägt ist eine Studie von Michael Hundt, der das Agieren der Vertreter der mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress in den Blick nahm.5 Eine ebenfalls prinzipiell nationalhistorische Perspektive nimmt die Studie Alexandra von Ilsemanns über die Positionen der Vertreter Frankreichs auf dem Wiener Kongress ein.6 Bereits 1986 hatte Henry A. Kissinger das Prinzip des Gleichgewichts der Großmächte, von dem sich Großbritannien und Österreich leiten ließen, in den Blick genommen.7 Das Hauptergebnis der „Wiener Ordnung“, die Vermeidung eines umfassenden Krieges aller europäischen Großmächte durch das Wirken des „europäischen Mächtekonzerts“, betonten die Monographie Anselm Doering-Manteuffels und ein von Wolfram Pyta herausgegebener Tagungsband.8 Ansonsten wurden der Wiener Kongress und seine Folgen in der Lehr- und Handbuchliteratur zumeist recht knapp behandelt.9

Erst die zweifachen Jahrestage der Eröffnung und des Abschlusses des Wiener Kongresses 2014 und 2015 belebten die Forschungen über den Kongress und seine Folgen. Dabei wird deutlich, dass die restaurativen Elemente der Wiener Ordnung erheblich gegenüber den modernisierenden und friedenssichernden zurücktreten und die Neuordnung der politischen Landschaft Europas gewürdigt wird. Gleich←12 | 13→zeitig werden die repressiven Aspekte der Wiener Ordnung keineswegs geleugnet.10 Inzwischen liegt auch eine Darstellung der Vorgeschichte, des Verlaufs und der Folgen des Wiener Kongresses vor, die Schlüsselwörter der „Wiener Ordnung“, wie Restauration, Legitimität, Recht, Gleichgewicht, Ordnung, Monarchie oder Konstitution, kritisch beleuchtet und ihre Brauchbarkeit als wissenschaftliche Fachtermini einschätzt. Darüber hinaus beleuchtet sie auch Teilaspekte des Themas, wie die Neuordnung der Schweiz oder Skandinaviens, die in der Forschung häufig ausgeblendet werden, und sie entwickelt eine Typologie politischer Festkultur am Beispiel der Feste und Feiern im Verlauf des Kongresses.11

Die Motive, Ziele und Wirkungen der Hauptakteure des Wiener Kongresses wurden jüngst durch Lothar Galls „Humboldt“ und Wolfram Siemanns „Metternich“ aus breiten Quellencorpora herausgearbeitet und in den Zusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit gestellt.12 Auch die übrigen wichtigen Teilnehmer des Kongresses wurden biographisch erforscht.13 Siemanns revisionistischer Darstellung Metternichs und der von diesem maßgeblich mitgestalteten inner- und zwischenstaatlichen Ordnung Europas steht eine weitere neue Untersuchung des „Systems Metternich“ von Andrea Bleyer entgegen.14 Schlaglichter auf kirchenpolitische Aspekte des Wiener Kongresses warf ein von Heinz Duchhardt und Johannes Wischmeyer herausgegeber Sammelband aus←13 | 14→ dem Jahr 2013.15 Mit einem Schwerpunkt auf Lateinamerika haben Christian Cwik und Michael Zeuske ausgewählte Beiträge versammelt, die einem globalhistorischen Ansatz folgen. Diesem Ansatz war bereits eine große Tagung in Wien zum 200. Jahrestag der Eröffnung des Kongresses gefolgt.16 Aus dem gleichen Forschungsumfeld kommt ein weiterer Sammelband, der von Thomas Just, Wolfgang Maderthaner und Helene Maimann herausgegeben wurde.17

Einem europa- und regionalhistorischen Ansatz folgte dagegen eine Tagung, die von der Universität Luxemburg zum 200. Jahrestag des Abschlusses des Wiener Kongresses am 11. und 12. Juni 2015 im Kulturzentrum Neumünster in der Stadt Luxemburg veranstaltet wurde.18 Dabei leiteten sie und den vorliegenden Band, der ausgewählte Beiträge der Tagung präsentiert, folgende Fragen: Welche Aspekte der Wiener Ordnung erwiesen sich als Instrumente der Konfliktvermeidung innerhalb des europäischen Mächtesystems, welche dienten der Unterdrückung emanzipatorischer Bewegungen? Welche Reformen der Revolutionszeit wirkten trotz der restaurativen Grundhaltung der auf dem Wiener Kongress versammelten Mächte nach dem Ende des Grand Empire weiter? In welchen Konstellationen wurde der Wiener Kongress dagegen gesetzgeberisch nicht tätig, so dass sich in Folge ausgebliebener oder zumindest unverbindlich gebliebener Vorgaben Handlungsspielräume für die betroffenen Staaten gewissermaßen ex negativo eröffneten?

Die Konferenz fragte auch nach den außenpolitischen Zielen der beteiligten Mächte im Westen Europas und nach den Gründen für eine vergleichsweise lange Periode des Friedens zwischen den europäischen Großmächten. Sie diskutierte Ausmaß und Form der restaurativen Elemente der „Wiener Ordnung“ und fragte umgekehrt danach, in welchem Maße die Entwicklungen des inneren Staatsausbaus seit der Französischen Revolution bewahrt wurden. Sie fragte weiter nach Wahrnehmungen und Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Verhandlungen des←14 | 15→ Kongresses und seiner Folgekongresse. Dabei analysierte sie insbesondere die Auseinandersetzungen um Grundrechte und politische Partizipation im Zeichen erstarkender nationalistischer Bewegungen. Und schließlich untersuchte sie die Entwicklung der Staatsaufgaben im Zeichen der Wiener Ordnung und fragt nach den Gründen für eine im Vergleich zur Verkehrs- und Kulturpolitik wenig entwickelte Sozialpolitik in Westeuropa.

Einige Beiträge des vorliegenden Bandes sind aus einem Workshop des Historischen Museums der Stadt Luxemburg hervorgegangen, der im Vorfeld der Tagung lokale und regionale Aspekte der Thematik behandelte. Hier wurden die Auswirkungen der Beschlüsse des Wiener Kongresses auf regionaler Ebene diskutiert. Untersuchungsgebiet war die heutige europäische „Großregion“, in der das Saarland, Rheinland-Pfalz, Lothringen, das Großherzogtum Luxemburg und Wallonien zusammenarbeiten. Der Workshop ging der Frage nach, welche Folgen die Neuordnung des politischen Raumes nicht nur auf politisch-administrativer, sondern auch auf wirtschaftlicher und kultureller Ebene für die Menschen in dieser Region hatte.

Diese Fragen richten sich auf drei Basisprozesse des gesellschaftlichen Wandels im 19. Jahrhundert – die Entwicklung des Staatensystems, die innere Staatsbildung und die emanzipatorischen Bewegungen. Aus der Sicht einer kulturhistorisch sensibilisierten Politik-, Verfassungs-, Verwaltungs-, Diplomatie- und Sozialgeschichte untersucht sie die Dynamiken des europäischen Mächtesystems und die Entwicklung der Staatsaufgaben angesichts massenhafter Armut. Schließlich analysiert sie den Zusammenhang von politischer Partizipation und Nationsbildungsprozessen.

Der zeitliche Fokus der Analysen des vorliegenden Bandes liegt zunächst auf dem Wiener Kongress selbst bis zur Verabschiedung aller wichtigen Beschlüsse, bezieht aber auch seine Vorgeschichte von der Französischen Revolution bis zum Zusammenbruch des ersten französischen Kaiserreichs mit ein. Vor allem aber verfolgen sie die Konjunkturen von europäischen Revolutions- und Reaktionswellen bis zum Zusammenbruch der Wiener Ordnung kurz nach der Jahrhundertmitte. Räumlich konzentrieren sich die Beiträge in einer transstaatlichen und transnationalen Perspektive auf die Territorien der heutigen Großregion sowie auf die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich und den Deutschen Bund. Die Schweiz, Italien, Spanien und Großbritannien werden im Rahmen einer gesamteuropäischen und globalhistorischen Kontextualisierung des eigentlichen Untersuchungsraums berücksichtigt.

Der vorliegende Band gliedert sich in vier Teile: Der erste Teil „Grundlagen“ gibt zunächst erste Orientierungen über die Konzeption des Bandes und eröffnet←15 | 16→ drei Perspektiven der Forschung auf den Wiener Kongress und seine Folgen, aber auch auf Kontinuitäten des ersten französischen Kaiserreichs. Der zweite Teil nimmt aus regional- und landesgeschichtlicher Perspektive die „Großregion“ des Raums zwischen Maas und Rhein in den Blick. Im dritten Teil wird ebenfalls mit exemplarischen Themen die Herausbildung moderner Staatlichkeit im sogenannten „Zeitalter der Revolutionen“ herausgearbeitet – zwischen der großen Französischen Revolution und der Revolutionswelle, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts weite Teile Europas erfasste. Der letzte Teil des Bandes schließlich untersucht exemplarische Aspekte des Zusammen- und Gegeneinander-Wirkens revolutionärer und restaurativer Elemente bei der Herausbildung einer neuen zwischen- und innerstaatlichen Ordnung in Europa.

Im ersten Teil folgt im Anschluss an diese Einleitung ein Beitrag von Thierry Lentz über die Langzeitfolgen des Kongresses im Spektrum des Völkerrechts. Er zeigt, dass das Wiener System das Hauptergebnis des Kongresses war. Es sollte Modernisierung zulassen, aber unter der Führung der legitimen Monarchen. Die Großmächte behielten sich Interventionsrechte vor für den Fall, dass ein Monarch mit inneren Problemen – Aufständen und Revolutionen – nicht mehr fertig würde. Territoriale Veränderungen auf der Grundlage von Eroberung akzeptierte der Kongress nicht, wohl aber jene, die auf Abmachungen legitimer Monarchen zurückgingen. Frankreich blieb als Großmacht erhalten und seine Vertreter nahmen aktiv an den Wiener Verhandlungen teil – ganz anders als ein Jahrhundert später die Vertreter des Kriegsverlierers Deutschland an den Versailler Friedensvertragsverhandlungen. Das wichtigste Ergebnis des Kongresses aber, so Lentz, sei gewesen, dass er ein öffentliches Völkerrecht weiterentwickelte, das zur Grundlage des europäischen Mächtekonzerts wurde. Insbesondere einigte man sich auf die Abschaffung des Sklavenhandels, auf die Freiheit der Flussschifffahrt und einen besonderen Rechtsstatus der Diplomaten. Grundlage dieser Bemühungen, das „Völker“-Recht weiter zu entwickeln war der gemeinsame Wunsch, das Gleichgewicht der europäischen Mächte zu bewahren. Zugleich waren die Monarchen gehalten, ihren Staaten formelle Verfassungen zu gewähren – prinzipiell in allen Ländern, vor allem aber in Deutschland, Polen und Sardinien-Piemont.

In komplementärer Ausrichtung zu Thierry Lentz’ Aufsatz eröffnet der Beitrag von Heinz Duchhardt eine Perspektive, die über Europa hinausgeht. Er verweist zunächst auf den langen Weg von der Kriegswende 1812 über die Treffen der Monarchen in Paris und London nach Wien. Dann skizziert er den Weg zurück in den Kreis der vollgültigen Großmächte, den die Diplomatie des erneut bourbonischen Frankreichs unter Talleyrand fand – trotz des Intermezzos der Einhunderttageherrschaft des zurückgekehrten Bonaparte. Duchhardt zeigt←16 | 17→ weiter, dass der Wiener Kongress nicht nur ein Friedenskongress war, sondern auch die „Grundlage einer neuen langfristigen politischen Ordnung“ legte. Vor allem aber befasst er sich mit jenen Aspekten der Wiener Ordnung, die in der Forschung zumeist nicht beachtet wurden, weil sie die außereuropäische Welt betrafen. Hier ging es zunächst um die Abschaffung des Sklavenhandels. Unter dem Druck freikirchlicher und humanitärer Organisationen hatte Großbritannien bereits 1807 ein Sklavenhandelsverbot erlassen und in mehreren bilateralen Verträgen mit anderen europäischen Staaten erweitert. Auf Drängen der britischen Diplomatie und mit Unterstützung vor allem der französischen Vertreter wurde dieses Verbot durchgesetzt – gegen den heftigen Widerstand Spaniens und Portugals, die sich gegen diesen vermeintlichen Eingriff in ihre „innere Politik“ heftig zur Wehr setzten. Auch die Fragen der nordafrikanischen Sklavenjäger und die Abtretung Louisianas an die USA verweisen auf die Ausstrahlung der Wirkungen des Kongresses über Europa hinaus.

Mit Christof Dippers Beitrag schließt der „Grundlagen“-Teil des Bandes. Der Autor arbeitet Ordnungsmuster der Moderne heraus, die sich zwischen dem Wiener Kongress und der Revolutionswelle der Jahrhundertmitte herausbildeten. Ausgehend von Diagnosen der Zeitgenossen, die sich an den Mustern Revolution, Restauration und Evolutionismus bewegten, skizziert Dipper zunächst politische Antworten auf die Zeitprobleme. In einem dritten Schritt stellt er Antworten auf die zentralen Fragen der von ihm selbst so bezeichneten „Übergangsgesellschaft“ vor – Forderungen nach Freiheiten und den Umgang mit dem Pauperismus. Anders als die historische Forschung, die auf die verbesserte Hygiene verweist, sahen die Zeitgenossen frühe Heiraten und ungehemmtes Fortpflanzungsverhalten als Hauptursachen der Bevölkerungsexplosion an. Hier sieht Dipper auch einen Zusammenhang mit den Durchstaatlichungsprozessen. Die Integration der Gemeinden in den Staatsapparat sei als Modernisierung zu betrachten. Sie passe nicht in das Muster einer „Restauration“. Zentrale Streitfragen waren auch die Folgen der Einführung der Gewerbefreiheit und des preußisch geführten Zollvereins. Dipper resümiert, dass die so genannte „Restaurationszeit“ von großer gesellschaftlicher und politischer Unruhe gekennzeichnet war. Abschließend relativiert Dipper das Wehlersche Diktum von der „defensiven Modernisierung“: Wegen der Reformen seit 1806 habe es in Deutschland keine revolutionäre Situation gegeben, und die Eliten empfanden ihre Stellung offenbar nicht als „defensiv“.

Den zweiten Teil des vorliegenden Bandes, bei dem es um die Auswirkungen des Wiener Kongresses in den Regionen zwischen Maas und Rhein geht, eröffnet ein Beitrag von Guy Thewes über die Anfänge des Großherzogtums Luxemburg. Er beginnt mit dem Ende des Grand Empire Napoleons und der←17 | 18→ Eroberung des „Wälderdepartements“ durch kurhessische Truppen. Thewes´ Aufsatz folgt der Frage, wie es zu der territorialen Neugliederung der Region kam und er fragt nach Motiven und Akteuren der Gründung des Großherzogtums. Insbesondere greift der Autor ein altes Narrativ der luxemburgischen Geschichtsschreibung auf, indem er danach fragt, ob dieses Land bereits ein Staat war – oder sogar ein souveräner Staat. Der Autor stellt zunächst fest, dass die Neugestaltung des Luxemburger Raumes weder restaurativen noch restitutiven Charakter hatte. Da Kaiser Franz I. von Österreich kein Interesse an einer Wiederherstellung der habsburgischen Herrschaft im heutigen Belgien und im vormaligen Herzogtum Luxemburg zeigte, wurde das Gebiet schließlich dem neu gebildeten Königreich der Vereinigten Niederlande unter der Dynastie Oranien-Nassau zugesprochen. Thewes zeichnet sehr detailliert den langen Weg nach, bis es zu dieser Lösung kam. Dabei macht er auch die Traditionen deutlich, in denen sich diese Vorschläge bewegten. Im Zuge dessen erhellt der Autor die Debatte um Eigenstaatlichkeit und Souveränität Luxemburgs schon zu diesem Zeitpunkt mit der wohlbegründeten These, dass das Großherzogtum lediglich eine Provinz des Königreichs der Niederlande gewesen sei, deren Territorium zugleich zum Deutschen Bund gehörte.

Renée Wageners Untersuchung ergänzt diesen staatspolitischen Aufriss mit der Frage nach der Bedeutung der Religionspolitik König Wilhelms I. der Niederlande für die jüdische Minderheit in Luxemburg. Im Vordergrund steht das Interesse an Kontinuitäten und Brüchen dieser Politik im Verhältnis zur Toleranzpolitik Josephs II. und der Gleichheitspolitik in der Tradition der Französischen Revolution. Wagener fragt weiter nach der Position der katholischen Mehrheitsgesellschaft Luxemburgs und der jüdischen Minderheit gegenüber dem religiösen Liberalismus und nach den Folgen des Wandels der katholischen Kirche Luxemburgs vom Staatskirchentum zum Ultramontanismus für die jüdische Minderheit. Die Autorin erklärt die relative Besserstellung der jüdischen Minderheit in der Zeit Wilhelms I. mit dem Impuls des Wiener Kongresses, der egalitären niederländischen Tradition und der Haltung des Monarchen. Sie verweist auf ein Interesse der Großmächte an der Befriedung der Verhältnisse zwischen den Religionen und zeigt auf, dass dies in Europa die Voraussetzungen für einen religiösen Pluralismus schuf, von dem auch die jüdische Minderheit profitierte. Hinzu kam, dass die Niederlande in einer langen Tradition religiöser Toleranz standen. Und schließlich macht die Autorin deutlich, dass es eines Monarchen bedurfte, der ein Interesse an der Stabilisierung dieser Religionsfreiheit hatte. Diese Politik endete im Religionskonflikt Wilhelms I. mit den belgischen Provinzen und der Durchsetzung des ultramontanen Katholizismus in Luxemburg.←18 | 19→

Die Bedeutung von Publizistik und Pressepolitik im Zusammenhang mit der „Rheinlandfrage“ untersucht der Beitrag von Nina Schweisthal. Sie fragt nach der Bedeutung von Publizistik und Pressepolitik auf Wiener Verhandlungen über die politisch-territoriale Neuordnung der Rheinlande. Sie kommt zum einen zu dem Ergebnis, dass die öffentlich artikulierten Forderungen nach einer Fortdauer der konstitutiven und administrativen Einheit der linksrheinischen Gebiete bei diesen Verhandlungen keine Rolle spielten. Dennoch bedeute das spätestens seit 1814/1815 sichtbare enge Zusammengehen von publizistischer Tätigkeit und staatlicher Pressepolitik im Spannungsgefüge des Wiener Kongresses und seiner Akteure eine Kehrtwende in der Handhabe und Bewertung politischer Herrschaft. Zum anderen wurde die traditionelle überwiegend geheime Kabinettspolitik von einer staatlichen Öffentlichkeitsarbeit und Pressepolitik abgelöst. Und die Öffentlichkeit wurde zu einem Faktor politischer Entscheidungsprozesse. Zunehmend versuchten breitere Bevölkerungsteile auf die politische Entscheidungsfindung einzuwirken, indem sie öffentlich ihre Weltanschauungen und politischen Forderungen artikulierten. Dies führte dazu, dass die Regierungen ausgewählte Informationen an die interessierte Öffentlichkeit herantrugen und die eigene Position argumentativ untermauerten, damit sie innerhalb der Bevölkerung verbreitet und dauerhaft akzeptiert würde. In diesem Sinne schuf der Wiener Kongress einen erweiterten Rahmen für die öffentliche politische Debatte.

Details

Seiten
430
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631786857
ISBN (ePUB)
9783631786864
ISBN (MOBI)
9783631786871
ISBN (Hardcover)
9783631772621
DOI
10.3726/b15488
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Französische Revolution Europäisches Konzert Regionalgeschichte Staatlichkeit Transnationale Geschichte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 430 S., 10 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Andreas Fickers (Band-Herausgeber:in) Norbert Franz (Band-Herausgeber:in) Stephan Laux (Band-Herausgeber:in)

Andreas Fickers ist Professor für Zeitgeschichte und digitale Geschichtswissenschaft und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und digitale Geschichtswissenschaft an der Universität Luxemburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Technik-, Medien-, Zeit- und digitale Geschichte. Norbert Franz ist außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier und lehrte bis 2017 an der Universität Luxemburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Städtegeschichte der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts, Geschichte ländlicher Gesellschaften und kommunaler Verwaltungen, Finanzgeschichte sowie Sozial-, Konsum- und Umweltgeschichte. Stephan Laux ist Professor für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Trier. Dort wirkt er auch im Direktorium des Arye Maimon-Instituts für Geschichte der Juden mit. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Frühen Neuzeit, insbesondere der rheinischen Reformationsgeschichte, der vergleichenden Städtegeschichte, der Geschichte der Juden in ständisch geprägten Gebieten des «Heiligen Römischen Reiches» und der allgemeinen Geschichte Mitteleuropas in den Jahrzehnten um 1800.

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