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Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90

Band 3: Exil

von Yana Milev (Autor:in)
©2020 Monographie 594 Seiten

Zusammenfassung

Seit das „Ende des Kommunismus" auf 1990 festgeschrieben und der „Unrechtsstaat DDR" der Justiz übergeben wurde, inszenieren neue Institutionen, Stiftungen und Behörden auf Bundesebene den ökonomischen, kulturellen und moralischen Erfolg des Rechtsstaates. Dabei wird die Mehrheit der Neubürger mit Schockereignissen des krassen sozialen Wandels und der gesellschaftlichen Stigmatisierung konfrontiert. Konzepte wie „Transformation", „Modernisierung" und „Demokratisierung" treten als Euphemismen auf, die über eine neoliberale Annexion der „Neuländer" hinwegtäuschen. Das Investmentprojekt „Aufschwung Ost" ist ein Laborfall der Globalisierung. Über eine Aufarbeitung der DDR im Totalitarismus- und Diktaturenvergleich hinaus ist eine politische Soziologie der Landnahme, des Gesellschaftsumbaus und des strukturellen Kolonialismus in Ostdeutschland längst überfällig. Das Forschungsprogramm „Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90. Ein soziologisches Laboratorium" will im dreißigsten Jahr der „Einheit" diesem Thema mit einer mehrbändigen Publikation Rechnung tragen.
Der Band „Exil" belegt den Zusammenhang zwischen der Annexions-, Vertreibungs- und Assimilationspolitik der Bundesregierung im Beitrittsgebiet und dem rapiden Anstieg von Krankheit, Sterblichkeit, Substanzkonsum, Suizid, Abwanderung oder Kinderlosigkeit. Die Entkopplung der DDR-Bevölkerung aus soziokulturellen Gefügen und die institutionelle Diskriminierung ihrer Herkunft haben einen intergenerativen Ost-West-Kulturkonflikt und das Exil im eigenen Land zur Folge.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titelseite
  • Impressum
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Widmung
  • Inhalt
  • Anschluss, Umbau und Exil in Ostdeutschland seit 1989/90 (3)
  • Wer sind die (Exil-)Ostdeutschen? / 1
  • 1. Die Konstruktion der „Ostdeutschen“
  • 1.1.. Eine sogenannte „ostdeutsche Herkunft“ gibt es nicht
  • 1.2.. Die DDR-sozialisierten Ostdeutschen
  • 2. Konzeptualisierung der (Exil-)Ostdeutschen und Abgrenzung
  • 2.1.. Die (Quoten-)Ostdeutschen
  • 2.2.. Die (Transfer-)Ostdeutschen
  • 2.3.. Die (ATCK-)Ostdeutschen
  • 2.4.. Tabelle: Abgrenzung der (Exil-)Ostdeutschen von den (Quoten-)Ostdeutschen, den (Transfer-)Ostdeutschen und den (ATCK-)Ostdeutschen
  • 3. Vereinigungsbedingte soziale Tatbestände
  • 3.1.. Wer ist die 2/3-Mehrheit im Osten?
  • 3.2.. Die vereinigungsbedingte Kulturkatastrophe
  • 4. Kolonialismus und struktureller Rassismus im Beitrittsgebiet
  • 5. Die (Exil-)ostdeutsche Erfahrung
  • 5.1.. Exil: Begriffsbestimmung
  • 5.2.. Koloniale Doppelstandards für (Exil-)Ostdeutsche
  • 5.3.. Ergebnisse der Elitetagung „Ostdeutsche Eliten“ im Jahr 2017
  • 5.4.. Inferiorisierung und Diskriminierung der (Exil-)Ostdeutschen
  • 5.5.. Ethnisierung und „Rassisierung“ der (Exil-)Ostdeutschen
  • 5.6.. Ossibashing: „Sind Ossis zu doof für Demokratie?“ oder zu „rechts“?
  • 6. Das doppelte Trauma der „Einheit“: zwei Seiten einer kollektiven Erfahrung
  • 6.1.. Der doppelte Preis der „Einheit“: Liquidation und Nihilierung
  • 6.2.. Die kulturkoloniale Doppelstrategie der Bundesbehörden: Abrisspolitik und Assimilationspolitik
  • 7. Zusammenfassung
  • Teil 3: Exil
  • A / Vertreibung
  • 1. Vertreibung in Ostdeutschland ab 1990
  • 1.1. Aus dem Industriestaat ins Entwicklungsland: Die größte Massenexilierung in Friedenszeiten
  • 1.2. Vertreibung und Widerstand: Bischofferode war nur die Spitze des Eisbergs
  • 1.3. Die Alternativen aus der Gesellschaftsmitte der DDR-Bevölkerung und aus der Reformregierung wurden bewusst übergangen
  • 2. Chronik der Vertreibung
  • 2.1. Das Jahr 1989
  • 2.2. Das Jahr 1990
  • 2.3. Das Jahr 1991
  • 2.4. Das Jahr 1992
  • 2.5. Das Jahr 1993
  • 2.6. Das Jahr 1994
  • 3. Kampf- und Protestlosungen 1990 bis 1994
  • 4. Die geplante Operation X: Annexion „feindlicher Vermögen“ in den Ostländern
  • 4.1. Die Treuhandanstalt (THA/BvA) ist die Nachfolgerin des Forschungsbeirats für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands (FB), gegründet 1952, und nicht der Treuhandanstalt der Modrow-Regierung vom 1. März 1990
  • 4.2. Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands (FB), die Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen und der Tag X
  • 4.3. Die operativen Organe der THA: Vorstand, Verwaltungsrat, Direktorate
  • 4.4. Die externen Manager der THA: Leitungsausschuss und der Lobbyring beratender Politiker
  • 5. Vereinigungskriminalität
  • 5.1. Die Stabsstelle „Besondere Aufgaben“ der THA: Tarnung organisierter Kriminalität
  • 6. Vier kapitale Fälle der Vereinigungskriminalität
  • 6.1. Der Bremer Vulkan-Skandal („Hennemann-Affäre“)
  • 6.2. Die Schmiergeldaffäre Leuna/Minol („Schucht-Affäre“)
  • 6.3. Der Giftmüllskandal von Bischofferode („Stegers Gruben-Deal“)
  • 6.4. Der Boizenburger Werft-Skandal („Petram-Affäre“)
  • 7. Vertreibung und Exil als Folge geplanter und staatlich gedeckter Vereinigungskriminalität der THA
  • 7.1. „Eile“, Verkaufszwang, Schuldenbilanz und Verjährungsgesetze
  • 7.2. Die einkalkulierten Kollateralschäden der Verwerfung, Vertreibung und Exilierung
  • 8. Schlussbemerkung
  • 9. Auszug aus der Beschlußempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages
  • B / Trauma und Tabu
  • 10. Der doppelte Preis der „Einheit“: Liquidation und Nihilierung
  • Oder: Das exekutive Wirken der Stiftung Aufarbeitung und der BStU als Schwesterbehörden der Treuhand AG (THA) in Ostdeutschland seit 1990
  • 10.1..Die Komplizen der „Einheit“
  • 10.2. „Die Bundesdeutschen entdeckten in der ihnen plötzlich zugänglich gewordenen DDR ein Terrain, auf dem sich ein Stück versäumter Kolonialgeschichte nachholen lässt“
  • 10.3. Unrechtsstaat: Die Gleichsetzung der DDR mit dem NS-Staat
  • 10.4. Der ideologische Feldzug der Schwesterbehörden der Treuhandbehörde (THA) – Stiftung Aufarbeitung und BStU
  • 10.5. Das CDU-Regime in den neuen Ländern: Die Verharmlosung von neukolonialem Unrecht
  • 10.6. Verfassungsputsch, Marionetten und Liquidationspolitik
  • 10.7. Kopf oder Zahl: Nihilierung ist das Äquivalent zu Liquidation
  • 11. Die doppelte Demütigung der „Einheit“: Entmündigung und Ausgrenzung
  • Oder: Die Inferiorisierung des Politischen in Ostdeutschland seit 1990 am Beispiel der Arbeitskämpfe in DDR und Neuländern zwischen Frühjahr 1990 und Winter 1994
  • 11.1. Die Politik der Demütigung in Ostdeutschland seit 1990
  • 11.2. Subordination und Domination: Die „Wiedervereinigung“ als Akt der Unterwerfung des Ostens unter die bundesdeutsche Deutungs- und Auslegungsmacht
  • 11.2.1. Kausalnexus, Durchherrschung und Schlussstrich: Die „Wiedervereinigung“ als Renaissance der bundesdeutschen Historikerkonstrukte in Ostdeutschland
  • 11.3. Politik der Demütigung in Ostdeutschland am Beispiel der Arbeitskämpfe 1990 bis 1994
  • 11.4. Wendungen der Streiks, sozialen Proteste und Arbeitskämpfe in der DDR und den neuen Bundesländern zwischen 1990 und 1994
  • 11.4.1. Erste Protestwelle und erste Streikwendung: Zwischen 1989 und 1990
  • 11.4.2. Zweite Protestwelle und zweite Streikwendung: 1. und 2. Quartal 1990
  • 11.4.3. Dritte Protestwelle und dritte Streikwendung: 2. und 3. Quartal 1990
  • 11.5. Ethnisierung, Rassisierung und Inferiorisierung des Politischen in Ostdeutschland am Beispiel der Arbeitskämpfe 1990 bis 1994
  • 11.6. Die doppelte Demütigung der „Einheit“: Entmündigung und Ausgrenzung
  • 11.6.1. Die Demütigung der leeren „Wendeversprechen“
  • 11.6.2. „Das war die Abschlussfeier der Revolution“
  • 11.6.3. Wir waren das Volk
  • 12. Das doppelte Trauma der „Einheit“: Entkopplung und Entortung
  • Oder: Die katastrophensoziologischen und sozialräumlichen Folgen aus Verwerfung, Assimilationspolitik und kultureller Kolonisierung in Ostdeutschland seit 1990
  • 12.1. Prolegomenon
  • 12.1.1. Regierungsversagen als Tabu
  • 12.1.2. „Die Zone hier ist tot“
  • 12.2. Doppeltrauma der „Einheit“: Entkopplung und Entortung
  • 12.2.1. Entkoppelte Gesellschaft: Vereinigungstrauma in Ostdeutschland seit 1990
  • 12.2.2. Der Begriff der sozialen Entkopplung (Castel, Bourdieu, Schultheis, Dörre)
  • 12.2.3. Der Begriff der sozialen Entortung (Kulischer, Schechtman, Jacobmeyer, Arendt)
  • 12.3. Zone der Verwerfung (Entkopplung + Entortung)
  • 12.3.1. Verwerfung heißt Beschädigung: Der frakturierte Sozialraum
  • 12.3.2. .Zone der Verwerfung: Eine sozialgeologische Betrachtung
  • 12.3.3. Kulturelle Verwerfung: Plötzliches sozialräumliches Schadensereignis
  • 12.4. Politische Psychologie der Verwerfung in Ostdeutschland seit 1990
  • 12.4.1. Paradoxe Migration – paradoxe Assimilation: Die Herabsetzung der DDR-Bürger zur Minderheitenbevölkerung und ihre Subordination im eigenen Land
  • 12.4.2. „Diktaturaufarbeitung“ und „Demokratieerziehung“: Das Doppelaxiom der demokratischen Assimilationspolitik im Beitrittsgebiet
  • 12.4.2.1. Assimilationsschock
  • 12.4.2.2. Sprachregelungen
  • 12.4.3. Die Entwertung der DDR-Sozialisation: „Wiedervereinigung“ und „Demokratisierung“ als Kolonialpolitik der Dominanzkultur im Beitrittsgebiet
  • 12.4.3.1. Der koloniale Blick gen Osten: Orientalisierung der DDR-sozialisierten Ostdeutschen
  • 12.4.4. Die Perseveration, das sozialistische Erbe feindbildhaft abzuspalten […] Antisozialismus, Antikommunismus und Antiatheismus als Teil einer christlich-demokratischen Säuberung in Ostdeutschland seit 1990
  • 12.4.4.1. Übertragungszwang
  • 12.4.4.2. Deutungszwang
  • 12.4.4.3. Ausgrenzungszwang
  • 12.4.4.4. Die Perseveration, das sozialistische Erbe feindbildhaft abzuspalten […]
  • 12.4.5. Verwerfung des „Integrationsmodells Ostdeutschland“: Delegitimierung von Sozialstaatlichkeit und sozialistischer Innovation in der DDR seit 1990
  • 12.4.5.1. Demokratischer Sozialismus und sozialistischer Paternalismus
  • 12.4.5.2. Errungenschaften der Sozialstaatlichkeit (Sozialrecht und Sozialfürsorge)
  • 12.4.5.3. Konsultativer Autoritarismus
  • 12.4.5.4. „Wiedervereinigung“ als Akt der Verwerfung sozialistischer Errungenschaften und Erinnerungskultur
  • 12.5. Zusammenfassung
  • 12.5.1. Tatbestände vereinigungsbedingter Verwerfungen und Betroffenheiten (Liste)
  • 12.5.2. Gewaltformen vereinigungsbedingter Verwerfungen und Betroffenheiten (Liste)
  • 12.5.3. Zahlen vereinigungsbedingter Verwerfungen und Betroffenheiten (Liste)
  • 13. Das doppelte Tabu der „Einheit“: Krankheit und Suizid (Death of Despair)
  • Oder: Die demografischen, psychosozialen und gesundheitlichen (pathologischen) Folgen aus Verwerfung, Assimilationspolitik und kultureller Kolonisierung in Ostdeutschland seit 1990
  • 13.1. Traumatisierung und Tabuisierung in Ostdeutschland seit 1990
  • 13.1.1. „Vereinigung“ als kollektives Trauma und Vereinigungstrauma als gesellschaftliches Tabu
  • 13.1.1.1. Kollektives Trauma
  • 13.1.1.2. Trauma
  • 13.1.1.3. Tabu
  • 13.1.2. Phantomschmerz im abgetrennten „sozialistischen Vaterland“
  • 13.1.3. Das Ende vom „Wir“: Arbeitsvernichtung und Beschädigung der kollektiven Identität
  • 13.1.3.1. Die Beschädigung und Gefährdung der (kollektiven) Identität durch strukturelle und symbolische Gewalt
  • 13.1.3.2. Diskriminierung der DDR-Identität
  • 13.1.3.3. Vom Arbeitervolk zum Volk ohne Arbeit: Die Arbeitsvernichtung in den ostdeutschen Ländern zwischen 1990 und 1995
  • 13.1.3.4. Emotionale Obdachlosigkeit in der dritten und vierten Generation-Ost (3G- und 4G-Ost)
  • 13.2. Sozialer Niedergang durch Arbeitsvernichtung, Enteignung und Entvölkerung
  • 13.2.1. Zusammenbruch der Gruppenkohäsion
  • 13.2.2. Abwanderungsschock
  • 13.2.3. Geburtenschock und Kinderlosigkeit
  • 13.2.4. Sterbeüberschüsse
  • 13.3. Trauma, Krankheitsfolgen und Mortalität in Ostdeutschland seit 1990
  • 13.3.1. Krankheit und Sterblichkeit infolge traumatischer Ereignisse wie plötzliche und dauerhafte Arbeitslosigkeit, Armut, Exklusion und Überflüssigkeit
  • 13.3.1.1. Armut und Viktimisierung
  • 13.3.1.2. Armut und Krankheit
  • 13.3.1.3. Armut und Suizidalität
  • 13.3.2. Krankheit durch Kränkung: Posttraumatische Verbitterungsstörung (PTVS)
  • 13.3.3. Depression und Suchterkrankung: Traumafolgen und Komorbiditäten in Ostdeutschland seit 1990
  • 13.3.3.1. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als Traumafolge
  • 13.3.3.2. Depressive Störung und Suchterkrankung als komorbide Traumafolge
  • 13.3.3.3. Lückenhafte Forschung zu Substanzkonsum in Ostdeutschland seit 1990
  • 13.3.3.4. Komorbidität: Biologische und internistische Aspekte der Traumapathologie
  • 13.3.4. Risikogruppe „ostdeutscher Mann“: Wiedervereinigungsschock und plötzlicher Tod
  • 13.3.4.1. „Gebrochene Herzen“ (Hallenser Kardiologiestudie 1997)
  • 13.3.4.2. Männlich, arbeitslos, hohes Sterberisiko (Rostocker Demografiestudie 2019)
  • 13.3.4.3. Bei den Lebenserwartungen ist der Ost-Mann auf Albanien-Niveau
  • 13.4. Suizid in der DDR vor und nach der „Wiedervereinigung“
  • 13.4.1. DDR-Suizidstudie (Grashoff)
  • 13.4.2. Magdeburger Suizidstudie (Genz)
  • 13.4.3. Jenaer Suizidstudie (Straub)
  • 13.4.4. Vereinigungsbedingte Sinnzusammenbrüche und Suizide
  • 13.4.4.1. Emnid-Umfrage 1994
  • 13.4.4.2. Unverbindliche Welten (Heitmann-Studie)
  • 13.4.4.3. Verschlusssache vereinigungsbedingte Suizide
  • 13.5. Erscheinungswandel des anomischen Suizids seit der „Wiedervereinigung“: Vom klassischen Selbstmord zum verdeckten Selbstmord
  • 13.5.1. „Tod aus Verzweiflung“ / Death of Despair (Case, Deaton)
  • 13.5.2. Die Suizidstatistik nihiliert den „Tod aus Verzweiflung“
  • 13.5.3. Soziozid – Die Zukunft der Mortalität im Neoliberalismus
  • 13.6. Zusammenfassung
  • 13.6.1. Gesellschaftliche Tabuisierung vereinigungsbedingter Traumatisierungen, komorbider Erkrankungen und erhöhter Männersterblichkeit in Ostdeutschland seit 1990
  • 13.6.2. Appell gegen eine weitere Tabuisierung vereinigungsbedingter Beschädigungen mit Folge erhöhter Sterblichkeit in den ostdeutschen Ländern
  • C / Exil
  • Wer sind die (Exil-)Ostdeutschen? / 2
  • 14. Die neue Klasse Exil
  • 14.1. Othering: Begriffsbestimmung
  • 14.2. Othering: „Wir sind ein Volk! Und ihr seid ein anderes“. Kulturkonflikt und symbolische Gewalt
  • 14.3. Die (Exil-)Ostdeutschen – eine neue Klasse im Kernstaat
  • 15. Gibt es eine Zukunft der Gleichbehandlung und des Wohlstands für (Exil-)Ostdeutsche in Ostdeutschland?
  • Appendix
  • Public Lecture, Vortragstafeln
  • Der Vortrag wurde am 10. Januar 2020 im Rahmen des Podiums „Verordnetes Vergessen – Aporien nach 1989“ an der Sächsischen Akademie der Künste gehalten
  • Literatur
  • Personenregister
  • Edition E.G.

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Anschluss, Umbau und Exil in Ostdeutschland seit 1989/90 (3)

Wer sind die (Exil-)Ostdeutschen? / 1

„Unter allen Problemen der heutigen Zeit […] ist das Exil eines der ernstesten, denn es trennt einen wichtigen Teil der Bevölkerung vom nationalen Leben ab und zwingt Menschen in Situationen hinein, die sie sich nicht ausgesucht haben und die daher schmerzhaft und frustrierend sind.“15

Die Bevölkerungsgruppe der „Ostdeutschen“, die ab 1990 die DDR-Sozialisierten im vereinigten Deutschland bezeichnete, gab es vorher nicht.

Heute bezeichnen sich neben ehemaligen DDR-Bürgern auch BRD-sozialisierte Menschen und Aufbauhelfer aus den ABL (Alte Bundesländer), die mit Beginn der 1990er-Jahre in die NBL (Neue Bundesländer) gezogen sind, wie auch in der Wende- und Nachwendezeit Geborene, als Ostdeutsche. Um die „Wiedervereinigung“ und ihre bis heute nachwirkenden Folgen in den neuen Ländern besser zu verstehen, ist eine Differenzierung der Bevölkerungsgruppen unter den Aspekten der Herkunft, der Sozialisation, der Generation und des sozialen Wandels erforderlich.

In vorliegender Ausarbeitung werden daher die Kohorten der (Exil-)Ostdeutschen, der (Quoten-)Ostdeutschen, der (Transfer-)Ostdeutschen und der (ATCK-)Ostdeutschen (Adult Third Culture Kids) konzeptualisiert und unterschieden. (Exil-)Ostdeutsche haben nicht nur eine doppelte Systemerfahrung, sondern ab 1990 die Erfahrung von „krassem sozialem Wandel“, von Migration, Kulturkonflikt und Exil gemacht.

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1. Die Konstruktion der Ostdeutschen

Die ersten Sozialwissenschaftler, die das Konstrukt „ostdeutsch“ in den Diskurs einführten und in einen Webstuhl der großen sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Transformation spannten, waren die Soziologen Wolfgang Engler16, Rolf Reißig17, Raj Kollmorgen18 und Thomas Gensicke19 sowie der Wirtschaftswissenschaftler Ulrich Busch20. Auf westdeutscher Seite waren es die Soziologen Fritz Vilmar21, Wolfgang Zapf22, Heinrich Best23 und Franz Schultheis24. Alle hier genannten Protagonisten haben zumindest für ihre Zunft bereits in den 1990er-Jahren die Anschlussfähigkeit an eine so genannte Ostdeutschlandforschung auf der einen Seite gesucht, auf der anderen Seite die Nutzbarmachung der Umbrüche im Osten für eine Neuevaluierung der akademischen Märkte.

Inzwischen ist der Begriff der Ostdeutschen so allgemeingültig wie nichtssagend, sodass sogar darüber debattiert wird, das Mandat des Bundesbeauftragten für die neuen Länder nach 30 Jahren abzuschaffen. Das, obwohl selbst die Jahresberichte der Bundesregierung eine Ost-West-Ungleichheit, die sich auch nach 30 Jahren nicht verwachsen hat, nicht verbergen können.

Eine sogenannte „ostdeutsche Herkunft“ gibt es nicht. Es gilt unter den Ostdeutschen zu unterscheiden zwischen reichssozialisierten Ostdeutschen, DDR-←28 | 29→sozialisierten Ostdeutschen, wendesozialisierten Ostdeutschen, nachwendesozialisierten Ostdeutschen, BRD-sozialisierten Ostdeutschen, den Aufbauhelfern und Neusiedlern aus den ABL und deren Nachfahren, den jungen Ostdeutschen. Die vorliegende Ausarbeitung hat sich der Konzeptualisierung der (Exil-) Ostdeutschen und ihrer Abgrenzung verpflichtet, um ein Schlaglicht auf eine Bevölkerungsgruppe zu werfen, der mit der „Wiedervereinigung“ die Deutung über ihre Biografie und Geschichte entzogen wurde.

1.1. Eine sogenannte „ostdeutsche Herkunft“ gibt es nicht

DDR-sozialisierte Bürgerinnen und Bürger haben sich zu DDR-Zeiten nicht selbst als Ostdeutsche bezeichnet. Die Differenzierung zwischen Ost- und Westdeutschland hat sich erst nach der „Vereinigung“ auch in den neuen Ländern etabliert. Die Bezeichnungen Ostdeutschland, Ostdeutsche und „Ossi“ entwickelten sich nach 1989 mehr oder weniger zu Begriffen der Herabsetzung und Entwertung der Teilgesellschaft und ihrer Bevölkerung östlich der Elbe. Schon während der Zweistaatlichkeit war die Rede von Ostdeutschland, vom Osten und der Zone. Diese Bezeichnungen für die DDR waren hauptsächliche Begriffe der veröffentlichten Meinung und Medien der BRD. Umgangssprachlich wurde in der DDR eher vom „Westen“ und vom „Osten“ gesprochen, auch gern in den vom Westen übernommenen Medienbegriffen für die beiden Teilgesellschaften im Kalten Krieg. So waren die Wörter „Westpaket“ oder „Westfernsehen“ oder Redewendungen wie „in den Westen abhauen“ durchaus gängig. Als offizielle Bezeichnung gab es zu DDR-Zeiten jedoch weder den Begriff Ostdeutschland für das Land DDR, noch war die Bezeichnung Ostdeutsche für die DDR-Bevölkerung üblich, gebräuchlich oder identifikationsstiftend. Bezeichnungen wie Ostdeutsche, Ostdeutschland, Ostberlin, „Ossi“, die in den Westmedien gängig waren, wurden als Selbstbezeichnung nur zögerlich übernommen und haben bis heute keinen identifikationsstiftenden Wert.

Erst mit der „Vereinigung“ von 1989/90 hat sich der Begriff der Ostdeutschen allmählich herausgebildet und etabliert, zunächst im Zuge des Ländereinführungsgesetzes und der Einführung der „neuen Länder“ als Synonym für das DDR-Gebiet. Auch in den Gesellschafts- und Sozialwissenschaften des Westens haben sich die Begriffe Ostdeutschland, Ostdeutschlandforschung, Osten und Ostdeutsche festgeschrieben, jedoch ohne dass diese Festschreibungen identifikationsstiftenden Charakter für die Ostdeutschen hätten. Nur allmählich übernahmen auch DDR-sozialisierte Menschen den Begriff für sich, um ihre Herkunft anzuzeigen. Vergleichbar mit der Amnestie anderer Begriffe wie „DDR-Diktatur“, „SED-Diktatur“, „Zweite Diktatur“, „Unrechtsstaat“, „Kommandowirtschaft“, „Gewaltherrschaft“, „Totalitarismus“ etablierte sich auch der Begriff der Ostdeutschen.

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Wenn von „Neubürgern“ die Rede war, waren damit die Ostdeutschen gemeint, jene, die in der DDR sozialisiert wurden, also ehemalige DDR-Bürger, die mit der „Vereinigung“ die Staatsbürgerschaft der BRD erhielten und entsprechend ihres Wohnorts östlich der Elbe, in einem neuen Bundesland, dem „Neuland“, lebten. Erst später bezeichneten sich auch Westdeutsche, die mit der „Vereinigung“ als „Aufbauhelfer“ in den Osten kamen und dort blieben, als neue Ostdeutsche. Es wurde ab den 2000er-Jahren üblich, dass jene als Ostdeutsche galten, die dort lebten, nicht aber diejenigen, die dort herkamen.

Der Begriff bleibt bis heute umstritten und taugt nur wenig für die Kennzeichnung derjenigen, die in der DDR geboren und sozialisiert wurden und dort bis zur Wende lebten und arbeiteten. Vor allem, weil er sowohl eine DDR-Identität als auch eine Wendeerfahrung nicht zwingend einschließt oder hervorhebt. So sind viele ehemalige DDR-Bürger bis heute der Meinung, dass sie nicht willentlich die DDR-Staatsbürgerschaft ablegten, sondern ihnen aufgrund einer Annexion durch die BRD eine BRD-Staatsbürgerschaft zugetragen und zugleich die Staatsbürgerschaft der DDR zwingend aberkannt wurde. Viele, deren Identifikationen mit dem untergegangenen Land DDR und der dortigen Gesellschaft verbunden sind, können und wollen sich bis heute nicht in eine BRD-Staatsbürgerschaft fügen. Sie können aber auch nicht mehr sagen, dass sie DDR-Bürger seien, da das Land völkerrechtlich gelöscht wurde. Es ist ihnen auch verwehrt zu behaupten, dass sie eine DDR-Identität hätten. Der Psychiater und Psychoanalytiker Christoph Seidler fasst dieses neue Nihilierungsphänomen in einem Satz zusammen: „Die ‚herrschende Moral‘ nach der Wende war nicht dazu angetan, über diese Identifizierung zu reflektieren“25.

Die Löschung des Landes, des Staates und der Gesellschaft DDR hat für Millionen Menschen ein Vakuum erzeugt, zumal ihre Identifikationen mit Erinnerungskultur, Habitus und Biografie in der DDR im vereinigten Deutschland fortan unerwünscht waren. Millionen ehemalige DDR-Bürger machten mit der „Vereinigung“ die Erfahrungen der Herabsetzung und Diskriminierung sowie der Vertreibung und der Exilierung. Diese Menschen galten nunmehr offiziell als Ostdeutsche, „Ossis“ oder „Neubürger“, was mehr zu einem Ausdruck der Entfremdung von der Herkunft wurde als zum Ausdruck der Identifikation mit der Herkunft. Viele Ostdeutsche, „Neubürger“, „Neuländler“, „Ossis“, können eine Identität als „Deutsche“ oder „BRD-Bürger“ nicht wahrnehmen, weil diese ihnen fremd ist. Aufgrund der vereinigungsbedingten Aufhebung gesellschaftlicher Erfahrungen und vor allem aufgrund der Aufhebung der verbindlichen Lebensräume aus den Zeiten der geteilten Staaten ist für viele die Bezeichnung Bundesbürger ein Kompromiss, ein Assimilationsstatus oder sogar eine symbolische Gewalt. Andererseits konnte bisher keine bessere Neuerfindung und Neu←30 | 31→definierung der zu BRD-Bürgern umbenannten DDR-Bürger gefunden werden als die der Ostdeutschen.

Wie das Land verschwand, so sind auch die Begriffe verschwunden, die Sprache ihrer Einwohner, die Bezeichnungen ihrer Orte, ihrer Straßen, ihrer Berufe, ihrer Tätigkeiten, die Semantik ihrer Kultur, ihrer Erinnerungen. Seit der „Vereinigung“ fügen sie sich den neuen Verordnungen und adaptieren sich an deren Gebrauch, ohne dass die neuen Benennungen über Herkunft, Kapitalsorten, Habitus oder Umbruchserfahrungen ihrer neuen Nutzer je Auskunft geben würden. Der Grundstock des althergebrachten linguistischen Gebrauchs der Bundesrepublik sieht es nicht vor, die Sprache der DDR, der Menschen, die in ihr lebten, wenigstens ansatzweise in ihn einfließen zu lassen. So findet ihre Herabsetzung seit der „Vereinigung“ allein schon durch das Sprechenlernen statt, das Erlernen einer Sprache der Altbundesbürger, des Kapitals und der Dominanzkultur. Es begann schlicht eine „zweite Sozialisation“26, ob gewollt oder ungewollt – die der Ostdeutschen in Ostdeutschland.

1.2. Die DDR-sozialisierten Ostdeutschen

Die soziologische Figur der (Exil-)Ostdeutschen nimmt also ihren Ausgang in den DDR-sozialisierten Ostdeutschen. Der ostdeutsche Protagonist in dieser Analyse ist, wer zwischen 1945 und 1975 in der DDR geboren wurde, dort aufgewachsen ist und bis zur Wende dort verblieb. Aus soziologischer Sicht ist ein Minimum an Jahren der frühen Sozialisation entscheidend, um als ostdeutsch zu gelten27. Der Soziologe Raj Kollmorgen gibt erstmalig eine soziologische Definitionsgrundlage für die DDR-sozialisierten Ostdeutschen. Demnach wird für die Kategorie ostdeutsch zwar häufig als Kriterium genannt, vor 1976 in der DDR geboren worden zu sein, jedoch in Erhebungen nicht angewendet. Stattdessen wird die Geburtsregion ohne zeitliche Begrenzung zur Bestimmung herangezogen. „Die der zeitlichen Eingrenzung auf Personen, die in der DDR sozialisiert wurden, zugrunde liegende Idee ist, dass die Ost-Sozialisation selbst bei sozialer und räumlicher Mobilität auch später noch Einstellungen und Verhaltensweisen prägt.“28 Die von Kollmorgen vorgegebene Definition, gemäß der Ostdeutscher ist, wer vor dem 31. Dezember 1976 in der DDR geboren wur←31 | 32→de und dort bis 1989 oder kurz zuvor gelebt hat, ist in den Sozialwissenschaften für die Typologisierung der Ostdeutschen mittlerweile verbindlich. Die im Anschluss an Kollmorgen von Bluhm und Jacobs erweiterte Definition berücksichtigt zudem die Analysen der Sozialwissenschaftlerin Tanja Bürgel, die auch die Sozialisation der Eltern in der DDR als Definitionsmoment einschließt. „Mit den ‚Ostdeutschen‘ seien hier jene Menschen gemeint, die bis 1989 in der DDR geboren und aufgewachsen sind und dort den größeren Teil ihres Lebens verbracht haben. Dies gilt außerdem für junge Menschen, die nach 1975 in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern geboren wurden und durch ihr Umfeld [Eltern, d. A.] ‚ostdeutsch‘ sozialisiert wurden und demnach eine ‚ostdeutsche Herkunft‘ haben.“29 Auch Jacobs und Bluhm bestätigen, dass „diese frühe Sozialisierung in einem bestimmten Umfeld [Elternumfeld, d. A.] das Verhalten bis in die späteren Lebensjahre [prägt]. Demnach können auch Führungskräfte mit westdeutscher oder ausländischer Herkunft ihre soziale Prägung nicht so schnell ablegen, auch wenn sie seit 25 Jahren in den neuen Bundesländern leben und selbst sehr häufig die Meinung vertreten, die Herkunft spiele keine Rolle mehr.“30 Eine Mindesteinschränkung von sieben Lebensjahren nach der Geburt in der DDR, um als Ostdeutscher zu gelten, ist hier verbindlich, wie auch die Herkunft beider Eltern aus der DDR. Entsprechend der von Jacobs / Bluhm nach Bürgel erweiterten Definition bei Kollmorgen wird als letztes Geburtsjahr für einen Ostdeutschen der 31. Dezember 1981 festgelegt.

Darüber hinaus werden in der vorliegenden Auseinandersetzung die DDR-sozialisierten Ostdeutschen und jene, die für die Analyse eines Betroffenseins in Betracht kommen, in Kohorten unterteilt. Damit wird deutlich, dass die aus der „Wiedervereinigung“ seit 1989/90 wirkenden Krisen mehrere Generationen betreffen.

Tabelle 1 – Kohorte
Typologie der DDR-sozialisierten Ostdeutschen in Kohorten

1. Kohorte 15 Jahrgängein der Zeitspanne 1931 – 1945 geboren, während des KriegesKriegskinder, 1. DDR-Aufbau-Generation, keine frühe Sozialisation in der SBZ/DDR bzw. in der SBZ/DDR sozialisierte Kriegskinder
2. Kohorte 15 Jahrgängein der Zeitspanne 1945 – 1960 geboren, mit Kriegsende/ WiederaufbauKriegskinder/Nachkriegskinder, in der DDR sozialisierte Kriegskinder, 2. DDR-Aufbau-Generation
←32 | 33→3. Kohorte 15 Jahrgängein der Zeitspanne 1960 – 1975 geborenKriegsenkel, DDR-Kinder
4. Kohorte 15 Jahrgängein der Zeitspanne 1976 – 1989/90 geborenKriegsurenkel, DDR-Kinder, Wendekinder/ Mauerfallkinder, Kinder ostdeutscher Eltern, von denen beide Elternteile in der DDR geboren wurden und die bis 1989/90 bzw. kurz davor dort gelebt haben, mindestens 7 Jahre in der DDR sozialisiert
5. Kohorte keine direkte Sozialisation in der DDRab 1991 geborenKriegsururenkel, Wendekinder, Nachwendekinder, entweder von Eltern, die beide in der DDR geboren und dort sozialisiert wurden oder aus Ost-West-Mischehen, Bedingung: mindestens ein Elternteil ist in der DDR sozialisiert und hat bis 1989 oder kurz davor in der DDR gelebt

Tabelle: Yana Milev, 2020

2. Konzeptualisierung der (Exil-)Ostdeutschen und Abgrenzung

Die weitere Konzeptualisierung der DDR-sozialisierten Ostdeutschen als (Exil-)Ostdeutsche findet in vorliegender Ausarbeitung in Abgrenzung zu den (Quoten-)Ostdeutschen und den (Transfer-)Ostdeutschen oder Wahl-Ostdeutschen statt, also jenen, die ab 1990 als Aufbauhelfer aus den alten Bundesländern in die neuen Länder gezogen sind, um dort aufgrund von Stellenbesetzungen zu arbeiten und zu leben, sowie in Abgrenzung zur ersten Nachwende-Generation, den ab 1990 Geborenen, die biografisch keine direkte Sozialisation in der DDR nachweisen, sondern lediglich indirekt durch die Eltern oder einen Elternteil weitergegebene Sozialisationsmuster aufnehmen und sich heute ebenfalls als genuine Ostdeutsche verstehen. Sie werden hier in Bezug auf die ATCK-Konzeption (Adult Third Culture Kids) von David E. Pollock und Ruth van Reken31 als (ATCK-)Ostdeutsche konzeptualisiert. Ebenfalls als verbindlich und anschlussfähig für die Konzeptualisierung der (ATCK-)Ostdeutschen wird das migrationssoziologische Konzept von Oliver ←33 | 34→Hämmig „Zwischen zwei Kulturen“32 rezipiert, der die ATCK in der Schweiz analysierte und auswertete.

Die mit der „Wiedervereinigung“ im Beitrittsgebiet verbliebenen 80 % der Erwerbstätigen und erwerbsfähigen Jugendlichen entsprechen der Zahl der (Exil-) Ostdeutschen, da sie mit der Vereinigung die Exil-Erfahrung machen mussten. Das ist eine 2/3-Bevölkerungsmehrheit im Jahre 1990, die mit der „Vereinigung“ in eine partielle bis totale Betroffenheit geriet und diese noch bis heute nachwirkend wahrnimmt. Die (Exil-)Ostdeutschen waren nicht nur mit der „Vereinigung“ aus einer gesellschaftlichen Protektion ausgeschlossen, sie mussten aufgrund der neuen Gesetze auch mehrheitlich Unrecht in Kauf nehmen, wie Vertreibung, Diskriminierung oder Abschiebung und generelle Ungleichbehandlung vor dem Gesetz im Vergleich zu (Quoten-)Ostdeutschen oder Westdeutschen im Allgemeinen. (Exil-)Ostdeutsche sind also diejenigen Ostdeutschen, die eine Erfahrung der Exklusion (Ausschluss) und der Exilierung (Entheimatung) aufgrund von Verlust, Abstieg, Armut, Krankheit (plötzlich und chronisch) und Überflüssigkeit machen mussten. Insgesamt sind dies Erfahrungen der gesellschaftlichen Entkopplung und der mikrosoziologischen Exilierung.

Ostdeutsche mit dem doppelten Erfahrungshintergrund der DDR-Sozialisation bis 1989 und der mikrosoziologischen Exilierung ab 1989/90 sind (Exil-)Ostdeutsche, deren Symptome auch für die nächste Generation zutreffen können, sofern beide Eltern den Erfahrungshintergrund (Exil-)Ostdeutscher haben. Die dritte Generation Ostdeutschlands, auch als „Wendekinder“ (zwischen 1975 und 1985 geboren) bezeichnet, ist die nächste Generation der (Exil-)Ostdeutschen, sofern beide Eltern den Erfahrungshintergrund (Exil-)Ostdeutscher haben. Auf Kinder, deren Eltern beide aus Westdeutschland ab 1990 nach Ostdeutschland gekommen und die ab 1990 in Ostdeutschland geboren und aufgewachsen sind, trifft diese Definition nicht zu. Ebenso nicht auf Kinder, bei denen nur ein Elternteil den Erfahrungshintergrund (Exil-)Ostdeutscher mitbringt oder die mit ihren Eltern vor 1989 und vor ihrem siebten Lebensjahr aus der DDR ausgereist sind.

Eine aktuelle Serie in der Wochenzeitschrift Die Zeit lässt junge Leute, die in der DDR geboren worden sind und bis zum siebten Lebensjahr dort sozialisiert wurden, wie auch „Wendekinder“ zum Thema „Heimat Ostdeutschland“ zu Wort kommen. Die Serie „Der Osten ist mein Schicksal“33 bestätigt die Definitionsgrundlegung der Ostdeutschen bei Raj Kollmorgen wie auch deren Erweiterungen bei Tanja Bürgel, Olaf Jacobs und Michael Bluhm sowie die Definition der (Exil-)Ostdeutschen, wie sie in der vorliegenden Ausarbeitung konzeptualisiert wird.

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Definition der (Exil-)Ostdeutschen

(Exil-)Ostdeutsche (Ex-DDRler, Exil-DDRler) sind Ostdeutsche aus 31 Jahrgängen von 1945 bis 1976, die in der SBZ/DDR geboren, dort aufgewachsen/sozialisiert und bis zur Wende dort verblieben sind. Die Kohorte der (Exil-)Ostdeutschen umfasst drei Kohorten (Kriegskinder, Nachkriegskinder, DDR-Kinder), die zum Zeitpunkt der „Wende“ 14- bis 44-jährig waren. Das sind praktisch drei Generationen (1 G. = 15 Jahre) und entspricht der Mehrheit der erwerbsfähigen/erwerbstätigen DDR-Bürger von 1989/90, einschließlich der Jugendlichen, wie Lehrlinge, Azubis, Studenten oder Soldaten. Zu den (Exil-)Ostdeutschen zählt auch die Kohorte der „Wendekinder“, die bis zum 31.12.1981 in der DDR geboren sind. Charakteristisch für (Exil-)Ostdeutsche sind ihre Doppelerfahrungen: die gesellschaftlichen und biografischen Erfahrungen in der SBZ/ DDR mindestens bis zur Adoleszenz und die Exil-Erfahrungen seit der Wende 1989/90 bis heute. Bei den Wendekindern bestehen die Doppelerfahrungen aus einer Sozialisation in der DDR von mindesten sieben Jahren und den Exil-Erfahrungen ihrer DDR-sozialisierten Eltern in der „vereinigten“ deutschen Gesellschaft. Exil-Erfahrungen sind vorwiegend von Tatbeständen bestimmt, die in der Katastrophensoziologie als „krasser sozialer Wandel“ und als „entsetzliche soziale Prozesse“ bezeichnet werden. Hierzu zählen direkte Umbruchserfahrungen durch Abwicklung und Liquidation sowie Erfahrungen des Ausschlusses aus gesellschaftlicher Gleichbehandlung und Partizipation seit der „Vereinigung“, kollektive und individuelle Erfahrungen mit Verwerfung, Vertreibung und Verlust von Gemeinschaft wie auch mit gesellschaftlicher Herabsetzung, Stigmatisierung und Diskriminierung, mit sozialem Abstieg und verfestigter Armut. (Exil-)Ostdeutsche leiden an der Entkopplung/Entwurzelung aus dem sozialen Herkunfts- und Wertesystem und an der Nicht-Anerkennung ihrer doppelten Lebensleistung (ihrer Leistungen in der DDR und ihrer Adaptionsleistungen während der „Wiedervereinigung“), an der Amnesie von Erinnerungskultur als signifikantem Merkmal von Assimilationspolitik des Kernstaates im Beitrittsgebiet sowie an der Nicht-Anerkennung und Nihilierung ihrer kulturellen Identitäten, Herkunft und Biografien aus der DDR. Zusammengefasst zeigen die Folgen der (partiellen bis totalen) (exil-)ostdeutschen Erfahrung vielfältige Symptome eines in der Migrationssoziologie so bezeichneten „Assimilations-, Migrations- und Kulturkonflikts“. Dazu zählen Traumata, plötzliche und chronische Erkrankungen, vorzeitiger Tod oder „Tod aus Verzweiflung“ (Death of Despair) im Zusammenhang mit Drogen, Alkohol und Depressionen.

Die (Exil-)Ostdeutschen werden hier als eine aktive Transformations- und Identifikationsfigur thematisiert, die sich im Widerstand gegen Ausschluss, Missachtung und Stigmatisierung befindet. Die Wählerperformance vieler (Exil-)Ostdeutscher seit 2016 für die rechtspopulistische Partei AfD manifestiert diesen Widerstand als Form aktiver Segregation, als Othering.

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Dabei ist die soziale Charakteristik der (Exil-)Ostdeutschen Unsichtbarkeit als passive, auch submissive Form der Segregation infolge von Ausschluss oder das andere Extrem, die symbolische Performance des Othering als aktive Form der Segregation infolge von Ausschluss.

2.1. Die (Quoten-)Ostdeutschen

(Quoten-)Ostdeutsche sind ebenfalls ehemalige DDR-Bürger, die sich von (Exil-) Ostdeutschen darin unterscheiden, dass sie aufgrund von DDR-Dissidenz oder anderen Evaluierungen nach der „Vereinigung“ im neuen System als protektionswürdig galten und Aufstiegschancen erhielten. Die (Quoten-)Ostdeutschen repräsentieren den Kodex der liberalen Bürgergesellschaft, eine offensive DDR-Dissidenz (Antisozialismus, Antikommunismus usw.) und vertreten als prominente öffentliche Personen die Ostdeutschen (vgl. Protektionszirkel). Die (Quoten-)Ostdeutschen sind eine Compliance mit der „westlichen Wertegemeinschaft“ eingegangen.

Abbildung 1 – Protektionszirkel
Das Förderprinzip für ehemalige DDR-Bürger in der BRD nach 1990 (2,5 Mio)

Grafik: Yana Milev, 2020

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Im Rahmen der Erhebungen des Projektes „Entkoppelte Gesellschaft“ wurden die (Quoten-)Ostdeutschen als Kohorte mit insgesamt 41 Jahrgängen (1935 – 1976), die zum Zeitpunkt der „Wende“ 14- bis 55-jährig waren, auf etwa 2,5 Millionen geschätzt. Damit entsprechen die vom neuen System protegierten und aus der DDR übernommenen (Quoten-)Ostdeutschen etwa 25 % der Erwerbsbevölkerung in den neuen Ländern im Jahr 1990.

Aus dem Protektionszirkel lassen sich die (Quoten-)Ostdeutschen als Kohorte ableiten und definieren. Es sind ehemalige DDR-Bürger, die sich aufgrund folgender Kriterien in der BRD nach 1990 neu evaluieren konnten: DDR-Dissidenz, Opfer- oder Flüchtlingsstatus, Übersiedlung mit Ausreiseantrag oder Ausbürgerung, christlich-theologischer Hintergrund (Pastor, Priester, Vikar, Bischoff, Synodaler) oder christlich-parteilicher Hintergrund (CDU), Bürgerlichkeit („Bürgeradel“), „kulturelle Substanz“ (klassische Künste beispielsweise), privatwirtschaftliches Know-How, auch Wirtschaftscompliance genannt, meist von mittleren MfS-Chargen eingebracht, die als „Unterhändler“ und Komplizen der Einheit mit Standortvorteil auftraten, sowie eine Partei-Vergangenheit (NSDAP) und Wehrmachtsangehörigkeit für eine Berentung durch das BVG34. Diese Kohorte wurde aufgrund dieser und anderer Kriterien nach der „Wiedervereinigung“ protegiert (s. entsprechende Paragrafen des Einigungsvertrages und anderer Gesetze) und erhielten Aufstiegschancen. Zu den Protegierten gehören auch Personen, die eine Ehe mit einem Partner aus den ABL eingegangen sind. Die (Quoten-)Ostdeutschen sind nach der „Wiedervereinigung“ in keine existenziellen, zumindest in keine dauerhaften Betroffenheiten geraten. Hierbei erlebt ein großer Teil der Älteren (1931 – 1941), die im Deutschen Reich geboren wurden und keine frühe Sozialisation in der DDR aufweisen, die „Wiedervereinigung“ als lang ersehnte Amnestie. Sie identifizieren sich eindeutig mit der „deutschen Einheit“ („Wir sind ein Volk!“) und der Neubelebung des Geschichtsrevisionismus.

(Quoten-)Ostdeutsche sind eine Compliance mit der „westlichen Wertegemeinschaft“ eingegangen. Sie repräsentieren die Werte der liberalen Bürgergesellschaft („demokratische, freiheitliche, rechtsstaatliche Werteordnung“), eine offensive DDR-Dissidenz (Antisozialismus, Antikommunismus) sowie die Grundsätze der Assimilationspolitik der BRD II im Beitrittsgebiet („zweite deutsche Diktatur“, „Unrechtsstaat“, „SED-Regime“ usw.). Sie sind als Quoten-Personen in neue Funktionen, Positionen, Eliten, Vermögen u. a. m. hineinprotegiert worden (vgl. Abb. 1 Protektionszirkel) und stehen stellvertretend für eine „gelungene Vereinigung“.

Prominente (Quoten-)Ostdeutsche, die jeweils die Kriterien für eine gesellschaftliche Protektion nach 1990 mitbringen, sind: Joachim Gauck (geb. 1940, Pastor, CDU, Neffe des SA-Führers und Militärpfarrers der Reichskriegsmarine ←37 | 38→Gerhard Schmitt, Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen, Bundespräsident), Angela Merkel (geb. 1954, CDU, Tochter des Pastors Horst Kasner, Bundeskanzlerin), Lothar de Maizière (geb. 1940, CDU, Sohn des Rechtsanwalts, SA- und NSDAP-Mitglieds Clemens de Maizière, Neffe des Ersten Generalstabsoffiziers der Reichswehr und Generals des Heeres der Bundeswehr Ulrich de Maizière, letzter Ministerpräsident der DDR, Minister des Kabinetts Kohl III), Iris Geipel (geb. 1960, Dopingopfer, DDR-Dissidentin, Professorin), Marianne Birthler (geb. 1948, DDR-Dissidentin, Bündnis 90/Die Grünen, Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen), Roland Jahn (geb. 1953, DDR-Dissident, Journalist, Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen), Günther Krause (geb. 1953, CDU-Politiker, Kabinett Kohl III – Kabinett Kohl IV), unter den Jüngeren Durs Grünbein (geb. 1962, DDR-Dissident, seit 2005 Professor für Poetik und künstlerische Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf), Katrin Göring-Eckart (geb. 1966, Grünen-Politikerin, Theologin, in der DDR Mitglied Solidarische Kirche/AKSK, Gründungsmitglied DA, Synodale der EKD, unter Bundeskanzler Gerhard Schröder entschiedene Befürworterin der Hartz-Reformen und der Agenda 2010), Ilko-Sascha Kowalczuk (geb. 1967, DDR-Dissident, Historiker, ab 1995 Aufarbeitungsarbeit zum „SED-Regime“, wissenschaftlicher Referent der „Stiftung Aufarbeitung“, Projektleiter BStU), Christian Hirte (geb. 1976, CDU-Politiker, Bundesbeauftragter für die neuen Länder) und andere. (Quoten-)Ostdeutsche erhalten Reputation und Regierungsauszeichnungen, die sie immunisieren und gleichzeitig in die Regierungspolitik der Kabinette verpflichten, wie der Friedensorden für Joachim Gauck oder das Bundesverdienstkreuz für den Fotografen Harald Hauswald oder für die Sportlerin Iris Geipel.

Die (Quoten-)Ostdeutschen stellen aufgrund ihrer Evaluation nach dem Protektionszirkel eine selektive Ost-Prominenz in der Dominanzkultur und gehen mit dieser konform (Disposition zwischen dominant und adaptiv-dominant). Damit wird gesellschaftlich suggeriert, dass die Ostdeutschen mehrheitlich im Zuge der „Wiedervereinigung“ integriert wurden und Aufstiegschancen erhielten. Aufgrund ihrer Compliance mit dem „westlichen Wertesystem“ leugnen die meisten (Quoten-)Ostdeutschen den vereinigungsbedingten Ost-West-Kulturkonflikt in der deutschen Gesellschaft, obwohl nicht ausgeschlossen ist, dass sie darüber informiert sind.

2.2. Die (Transfer-)Ostdeutschen

(Transfer-)Ostdeutsche sind in den Altbundesländern (ABL) sozialisierte Deutsche (Westdeutsche), die als „Aufbauhelfer“ mit Westgehältern und „Buschzulage“ im Zuge der Transfers (Beamten- und Elitentransfers) ab 1990 in die NBL kamen, dort die zentralen Positionen in Behörden, Verwaltung, Wirtschaft, Medien, Kultur, Bildung, Wissenschaft/Forschung, Politik/Kulturpolitik, Justiz, Militär u. a. übernahmen und bis heute entfristete Stellen sowie Beamtenposten ←38 | 39→und Führungspositionen besetzen. (Transfer-)Ostdeutsche repräsentieren die typischen Austauscheliten in den NBL. Sie sind meist zwischen 1950 und 1970 geboren. Die Jüngeren werden noch bis etwa 2030 in entfristeten Positionen bleiben. (Transfer-)Ostdeutsche sind in der Regel in Westdeutschland geboren und dort sozialisiert und weisen keine Sozialisation in der DDR auf, weder eine frühe noch eine späte. Sie haben teils in den NBL geheiratet, Kinder und Enkel bekommen. Einige bezeichnen sich konsequent als Ostdeutsche. Die (Transfer-) Ostdeutschen waren maßgeblich an der Assimilationspolitik der BRD ab den 1990er-Jahren in den NBL beteiligt, d.h. an Vertreibung, Gentrifizierung, Verdrängung, Herabsetzung und Diskriminierung (Exil-)Ostdeutscher auf Märkten, in Institutionen und Eliten. Sie verstehen sich als die rechtmäßigen Erben und Ausführende der „Einheit“, die nach BRD-Gesetzen in den NBL vollzogen wurde.

Die (Transfer-)Ostdeutschen sind Protagonisten und Repräsentanten der Dominanzkultur im Beitrittsgebiet. Die Charakteristik der (Transfer-)Ostdeutschen ist partizipative Dominanz (Disposition dominant). (Transfer-)Ostdeutsche leugnen den vereinigungsbedingten Ost-West-Kulturkonflikt in der deutschen Gesellschaft.

2.3. Die (ATCK-)Ostdeutschen

(ATCK-)Ostdeutsche sind Ostdeutsche, die mit dem Ende der DDR ab 1990 (+/- 5 Jahre) oder in den NBL geboren wurden und keine Sozialisation in der DDR aufweisen. Sie sind die Ostdeutschen der Nachwendegeneration. Es sind Kinder von Eltern, die beide in der DDR geboren und dort sozialisiert wurden und bis zur „Wende“ oder kurz davor dort verblieben sind. (ATCK-)Ostdeutsche übernehmen die Exil-Erfahrungen der Eltern und werden von diesen geprägt, ohne diese direkt selbst erlebt zu haben (Übertragung), oder sie machten nach der „Wiedervereinigung“ eine andere Erfahrung als ihre Eltern und stehen in einem Übertragungskonflikt zur Exil-Erfahrung der Eltern. Zu den (ATCK-)Ostdeutschen zählen Kinder aus Ost-West-Mischehen, in denen mindestens ein Elternteil in der DDR geboren und sozialisiert wurde und dort bis 1989 oder kurz davor gelebt hat, und ein Elternteil ein (Transfer-)Ostdeutscher ist. Sie können ab 1990 in den NBL geboren sein, müssen aber nicht. Ebenfalls zu den (ATCK-)Ostdeutschen zählen Kinder, deren Eltern beide (Transfer-)Ostdeutsche sind, die im Zuge der Eliten- und Beamtentransfers aus den ABL in die NBL kamen, dort sozialisiert wurden und gleichzeitig im Sinne der westdeutschen Sozialisation beider Eltern aufgewachsen sind.

←39 | 40→

Analog zur Theorie Adult Third Culture Kids nach David Pollock und Ruth van Reken35 sind auch die (ATCK-)Ostdeutschen als drittes Sozialisationssubjekt in einem Konfliktfeld, aus dem sie völlig neue Lösungen und Individuationen generieren können oder auch müssen. Die Charakteristik der (ATCK-) Ostdeutschen ist Übertragungsoffenheit (Disposition zwischen dominant und submissiv). (ATCK-)Ostdeutsche nehmen gegenüber dem vereinigungsbedingten Ost-West-Kulturkonflikt in der deutschen Gesellschaft eine ambivalente Rolle ein. Dies reicht von Verleugnung oder Ablehnung bis hin zu einer Identifikation.

2.4. Tabelle – Abgrenzung der (Exil-)Ostdeutschen

Tabelle 2 – Abgrenzung
Abgrenzung der (Exil-)Ostdeutschen von den (Quoten-)Ostdeutschen,
(Transfer-)Ostdeutschen und (ATCK-)Ostdeutschen

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←41 |
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Tabelle: Yana Milev, 2020

3. Vereinigungsbedingte soziale Tatbestände

3.1. Wer ist die 2/3-Mehrheit im Osten?

Die (Exil-)Ostdeutschen hatten mit der „Vereinigung“ vorwiegend eine Erfahrung der Verwerfung, Vertreibung und/oder Deklassierung machen müssen, die sie entweder als kollektive Kränkung und/oder Stigmatisierung direkt an ←42 | 43→sich selbst erlebten, was einen sukzessiven Prozess des Kultur- und Migrationskonflikts, der Krankheit und des Exils zur Folge hat. Es handelte sich mit 6 Millionen partiell bis total ad-hoc-Betroffenen um eine 2/3-Mehrheit der Erwerbsbevölkerung des Beitrittsgebiets im Jahr 1990, zuzüglich 2,5 Millionen36 „Wendekindern“, die ihre Eltern in einer Zusammenbruchsgesellschaft erlebten.

Abbildung 2 – Exklusionszirkel (a)
Arbeitslosigkeit – Abstieg/Armut – Exklusion/Ungleichbehandlung

Grafik: Yana Milev, 2020

Mit dem Einzug des Einigungsvertrags (EV), des BGB, des HGB, des StGB und anderer Gesetzeserlasse sind ab 1990 von „Freisetzung“ und Verwerfung betroffen:

alle Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die unter die im EV Art. 20 verzeichneten Ermächtigungen fallen;

alle Angehörigen der DDR-Volkswirtschaft (VEB, VVB, Kombinate), die unter die im EV Art. 25/1 verzeichneten Ermächtigungen durch die Treuhandanstalt fallen, sowie alle Angehörigen der DDR-Landwirtschaft (LPG, VEG), die unter die im LwAnpG verzeichneten Ermächtigungen fallen;

alle Angehörigen der Deutschen Reichsbahn, die unter die im EV Art. 26 verzeichneten Ermächtigungen fallen;

←43 | 44→

alle Angehörigen der Deutschen Post, die unter die im EV Art. 27 verzeichneten Ermächtigungen fallen;

alle Angehörigen des Rundfunks der DDR, die unter die im EV Art. 14 verzeichneten Ermächtigungen fallen;

alle Angehörigen des Fernsehens der DDR, die unter die im EV Art. 14 verzeichneten Ermächtigungen fallen;

alle Angehörigen der Einrichtungen der Kultur, der Bildung, der Wissenschaft und Forschung sowie des Sports, die unter die im EV Art. 22/4 verzeichneten Ermächtigungen fallen;

alle Angehörigen der VE Wohnungswirtschaft, die unter die im EV Art. 14 verzeichneten Ermächtigungen fallen;

alle Angehörigen der Verlage, der Medien, der DEFA u.a.m.

Das betrifft die Mehrheit der erwerbstätigen DDR-sozialisierten Ostdeutschen. Wir sprechen von bis zu 8 Millionen partiell bis total Betroffenen zwischen 1990 und 1994.

Von etwa 9,5 Millionen Erwerbstätigen in der DDR 1989 und im Beitrittsgebiet 1990 (bei einer Gesamtbevölkerung von 17,5 Millionen), wurden etwa 4,5 Millionen Arbeitsplätze bis 1994 vernichtet. Das waren all diejenigen, die infolge von Abwicklung und Löschung durch die Treuhandbehörde (auf Basis des 1. Staatsvertrages und des Treuhandgesetzes sowie des Einigungsvertrages) ihren Beruf, wie Anerkennung ihrer bisherigen beruflichen Leistungen, weitere berufliche Perspektiven, wie auch eine angemessene Altersabsicherung einbüßten. Etwa 1,6 Millionen wurden in den „Wartestand“ (Teilzeitarbeit und Weiterbildung) versetzt.

Betroffen waren Arbeiter, Bergarbeiter, Industriearbeiter, Angehörige der Deutschen Post, Angehörige der Deutschen Reichsbahn, weiterhin Ingenieure, Kombinatsleiter (Generaldirektoren), Direktoren, Angehörige des Öffentlichen Dienstes wie Ärzte, leitende Ärzte, medizinisches Personal, Lehrer, Hochschullehrer, Personen in Funktion wie Parteimitglieder der SED, Abgeordnete, leitende Mitglieder in Verbänden und Organisationen (FDJ, FDGB, GST u.a.), Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, Wissenschaftler, Forscher, Mitglieder der Arbeiter- und Bauernfakultät sowie der Landwirtschaftsakademie, Sportler und Trainer, Juristen, Behörden, Gerichte, Mitglieder der Rechts- und Sicherheitsorgane wie Polizei, NVA, Angehörige des Rundfunks, des Fernsehens, des Staatszirkus, der Artistenschulen, der Landwirtschaftsbauern, Angehörige der Pflanzen- und Tierproduktion, der LPGs und VEGs und viele mehr. Die meisten der zwischen 1990 und 1994 freigesetzten Erwerbstätigen sind weder in ihren Beruf zurückgekehrt, noch konnten sie durch eine alternative Qualifikation ihr aktives Berufsleben angemessen fortsetzen. Die ab etwa 2000 bekannt gewordene Zahl von 4,5 Millionen Arbeitslosen für Deutschland errechnet sich aus diesen im Zuge der „Vereinigung“ ad hoc freigesetzten Werktätigen in der DDR und Post-DDR. Mit der Übernahme und infolge von Behörden- und Elitenaustausch wurde einerseits die schon seit ←44 | 45→den 1980er-Jahren in den ABL bestehende und überhängige Arbeitslosigkeit behoben, jedoch in den neuen Ländern auf dramatische Weise erst hergestellt. Bis heute haben sich diese mit der Übernahme erst hergestellten Arbeitslosenquoten zwischen 4 und 5 Millionen festgeschrieben.

Die Zahl der zwischen 1990 und 1994 partiell bis total freigesetzten ehemaligen berufstätigen DDR-Bürger entspricht mit etwa 6 – 8 Millionen 75 % der erwerbstätigen Bevölkerung, die im Jahr 1990 mit 9,5 Millionen berechnet wurde, also einer 2/3-Mehrheit der damaligen DDR-Erwerbsbevölkerung.

Details

Seiten
594
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631835180
ISBN (ePUB)
9783631835197
ISBN (MOBI)
9783631835203
ISBN (Hardcover)
9783631819906
DOI
10.3726/b17573
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Gesellschaftliche Verwerfung Sozialer Niedergang DDR-Bürger Herabsetzung Death of Despair
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 594 S., 74 farb. Abb., 20 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Yana Milev (Autor:in)

Yana Milev ist Soziologin, Ethnografin und Kuratorin. Im Anschluss an ethnografische Studien in Japan promovierte sie zur Dr.phil. Seit 2009 ist Milev Research Associate am Seminar für Soziologie der Universität St. Gallen (SfS-HSG). 2014 habilitierte sie sich und wurde zur Privatdozentin für Kultursoziologie der Universität St. Gallen (HSG) ernannt. Sie ist Initiatorin und Leiterin der Forschung „Entkoppelte Gesellschaft" sowie seit 2017 Founder und CEO des Think Tank AGIO Gesellschaftsanalyse + Politische Bildung mit Sitz in St. Gallen und Berlin.

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Titel: Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90
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