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Texturen von Herrschaft im Mittelmeerraum

von Simela Delianidou (Band-Herausgeber:in) Eleni Georgopoulou (Band-Herausgeber:in) Jannis Pangalos (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 360 Seiten
Reihe: Hellenogermanica, Band 6

Zusammenfassung

Die Beiträge dieses Sammelbandes zielen darauf ab – in interdisziplinärer Annäherung und unter Rückgriff auf den vielschichtigen Begriff der «Textur» – die Spuren zu erforschen, die die um den Mittelmeerraum entstandenen komplexen Herrschaftsverhältnisse in den Gebilden der Kultur, der Kunst und der Literatur hinterlassen haben. Die historische Perspektive der Untersuchungen setzt bei der Antike an und erstreckt sich bis ins 21. Jahrhundert hinein, in dessen Kontext das aktuelle Problem der Flüchtlinge angesprochen wird. Methodologisch bedienen sich die aus Universitäten von diversen europäischen Ländern herkommenden Autor*innen Annäherungen aus den Bereichen der postcolonial-, memory-, und gender-studies sowie der Alteritätsforschung, der Philosophie und der Translationswissenschaft.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • Zur Einleitung
  • Texturen von Herrschaft im Mittelmeerraum (Simela Delianidou / Eleni Georgopoulou / Jannis Pangalos)
  • Als Auftakt
  • Gäste und Gastgeber. Leben in einem fremden Land (Petros Markaris)
  • Einführend
  • Österreich liegt am (Mittel-) Meer. Österreichische Selbst- und Fremdbilder des Mittelmeerraumes (Wolfgang Müller-Funk)
  • I Mittelmeer und Flüchtlingsdrama
  • Bodo Kirchhoffs Widerfahrnis (2016) als literarische Reflexion auf Machtverhältnisse im Mittelmeerraum (Katrin Dautel)
  • Lyrisches Wissen um Gewalt in Björn Kuhligks Die Sprache von Gibraltar (2016) und Nico Bleutges nachts leuchten die schiffe (2017) (Stefani Kugler)
  • Flüchtlinge und die Ohnmacht „Ueropas“ im zeitgenössischen Theater (Katerina Zachu)
  • II Der Blick von Norden nach Süden – und umgekehrt
  • Die Herrschaft im Blick: Gender, Exotik und hegemoniale Strukturen in den medialen Bearbeitungen von Prosper Mérimées Carmen (1845) (Christina Serafim)
  • Annemarie Schwarzenbachs Spanienbild in den 1930er Jahren (Guiomar Topf Monge)
  • Die Herrschaft über die Übersetzung: griechische Literatur in Deutschland (Anthi Wiedenmayer)
  • „Die Welt wird schwarz“. Petros Markaris’ ‚neoimperialer‘ Wirtschaftskrimi Zurück auf Start. Ein Fall für Kostas Charitos (2015) (Simela Delianidou)
  • Postkoloniale Ansätze am Beispiel von A. Abdourahman Waberis Roman In den Vereinigten Staaten von Afrika und Jonas Lüschers Novelle Frühling der Barbaren (Anastasios Ioannidis)
  • III Nationalsozialismus, Faschismus und Bürgerkrieg
  • Die italienisch-deutsche Besatzung Griechenlands und das Kino: Von Thomas Manns Filmprojekt Ulysses zu Mediterraneo von Gabriele Salvatores (Elisabeth Galvan)
  • Doing Rebetico. Die deutsche Okkupation Griechenlands in der griechischen Erinnerungskultur (Eleni Georgopoulou)
  • Terror erzählen, Gewalt rechtfertigen – Rekonstruktionen gewaltsamer Konflikte am Beispiel von narrativen Texten zum griechischen Bürgerkrieg der 1940er Jahre (Ulrich Moennig)
  • Griechenland als Krypto-Kolonie in der Repräsentation des literarischen Gedächtnisses am Beispiel des Romans Η χαμένη άνοιξη [Der verlorene Frühling] von Stratis Tsirkas (Roumpini Dafni)
  • Divide et impera: Bürgerkriege im Mittelmeerraum und die imperialen Bestrebungen der Großmächte im Spiegel der Literatur (Jannis Pangalos)
  • IV Brüchig-flüssige Identitäten
  • Freiheit und Herrschaft in Chamissos Lyrik und der Einfluss der mediterranen Revolutionen von 1820 (Ingrid Cáceres Würsig)
  • „Nur der Tod bringt uns fallweise zusammen.“ Jerusalem wird verkauft von Mosche Ya’akov Ben-Gavriêl (Georg Pichler)
  • Der Dorn im Herzen. Zur Relation von Erinnerung und Herrschaft in Rhea Galanakis Roman Das Leben des Ismail Ferik Pascha (1989) (Nikolas Immer)
  • Medea revisited. Formen von Zivilisationsherrschaft bei Christa Wolf und Elena Soriano (M. Loreto Vilar)
  • V Imperien – Spuren und Symbole
  • Barbaren zivilisieren die Welt, und Europa fantasiert allmächtig bis spaßig (Joachim Theisen)
  • Kulturmacht Mittelmeerraum: Macht und Herrschaft bei Rudolf Pannwitz (László V. Szabó)
  • Textur der Macht. Zeichen imperialer Herrschaft im öffentlichen Raum Maltas (Ralf Heimrath)
  • Reihenübersicht

Simela Delianidou, Eleni Georgopoulou, Jannis Pangalos

Texturen von Herrschaft im Mittelmeerraum

In einer vielbeachteten, interdisziplinären Studie, setzt sich Iain Chambers als Ziel, den instrumentalisierten Blick der westlichen Vernunft, die seit dem Beginn der Moderne die Welt zu beherrschen trachtet, „its subjective appropriation of the world and the subsequent possessive individualism that cultivates the colonial and imperial view“ (Chambers 2008: 19), wie er diese Einstellung treffend bezeichnet, anhand des Beispiels „Mittelmeer“ in Frage zu stellen. Das Denken in rigiden Grenzziehungen und Kategorisierungen – das den Ausschluss und das Unkenntlich Machen des „Anderen“ voraussetzt – zu dekonstruieren, gilt ihm als zentrales, mit den postcolonial studies koinzidierendes (ebd. 2008: 23–49), Anliegen: „It is to analyze, disturb, deviate, and deconstruct a language of disposition of powers which unilaterally manage the ‘world picture’, deciding who gets to be represented and who does not“ (ebd. 2008: 8). Die gängige Auffassung des Mittelmeers betrachtet der Verfasser als ein „Konstrukt“ eben dieses Diskurses:

The Mediterranean, as both a concept and a historical and cultural formation, is a ‘reality’ that is imaginatively constructed: the political and poetical articulation of a shifting, desired object and a perpetually repressed realization. (Ebd. 2008: 10)

Dabei widerstrebt der Mittelmeerraum mit seiner Diversität der Zuweisung in eine derartige Zwangsjacke; die Fluidität des Meeres steht als Symbol für eine „polyphonic […] and polycentric“ (ebd. 2008: 12) Auseinandersetzung mit diesem Raum, die die zentrifugalen Elemente nicht ausschließt:

It is the sea itself that promotes the adoption of a more fluid cartography in which the presumed stability of the historical archive, together with its associated facts and interpretations, is set to float: susceptible to drift, unplanned contacts, even shipwreck. (Ebd. 2008: 24)

So bringt Chambers seine Programmatik folgendermaßen auf den Punkt: „The Mediterranean becomes the site for an experiment in a different form of history writing“ (ebd. 2008: 27).

Für unsere Annäherung ist es von enormer Wichtigkeit, dass der Verfasser diese „experimentelle Form der Geschichtsschreibung“ mit dem „unexpected opening of a poetics“ (ebd. 2008: 27) assoziiert. Rationalitätskritik hat zwar eine lange und fruchtbare Tradition aufzuweisen, vor allem im deutschsprachigen ←13 | 14→Raum, man denke nur an Adorno, Horkheimer, Benjamin. Am kürzesten, bündigsten und mit Fokus auf die Literatur hat jedoch Heinrich Böll in seiner Nobelvorlesung, die 1973 vorgetragen, bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat, diese Problematik angesprochen: Die instrumentelle Vernunft setzt der renommierte Autor mit einer „abendländischen Arroganz“ gleich, „die wir dann noch via Kolonialismus oder Mission, oder in einer Mischung von Beidem als Unterwerfungsinstrument in die ganze Welt exportiert haben“ (Böll 1974: 11). Eliminierung des Differenten (ebd. 1974: 11) und die Kontrolle der Sexualität (ebd. 1974: 12) gehören auch zu deren Wesensmerkmalen. Dieser Mentalität stellt er die „Vernunft der Poesie“ entgegen, die in die Zwischenräume, die die entfremdete Ratio offenlässt, eindringt: „Und es gibt keine Form der Literatur, die ohne diese Zwischenräume auskommt“ (ebd. 1974: 9). Ihre Charakteristika sind einer nicht gewalttätigen Menschlichkeit angemessen: „Demut nach unten, nie Demut nach oben […] Respekt verbergen sich in ihr, Höflichkeit und Gerechtigkeit und der Wunsch zu erkennen und erkannt zu werden“ (ebd. 1974: 13). Dennoch ist für den friedliebenden Aktivisten Böll, die gesellschaftliche Komponente nicht wegzudenken: „Immer noch ist die Kunst ein gutes Versteck: nicht für Dynamit, sondern für geistigen Explosivstoff und gesellschaftliche Spätzünder“ (ebd. 1974: 15). In diesem Sinne ist der Literatur auch der Erkenntniswert keineswegs abzusprechen, wie es auch im gegenwärtigen Diskurs formuliert ist. „Seit einigen Jahren ist die Frage nach dem spezifischen Wissen der Literatur in den Brennpunkt aktueller literaturwissenschaftlicher Debatten gerückt“ (Ette 2012: 4), wie exemplarisch die Arbeiten von Jochen Hörisch (2007) und Ottmar Ette (2004) belegen; Ette geht sogar so weit die These aufzustellen, dass es

keinen komplexeren Zugang zu einer Gemeinschaft, zu einer Gesellschaft, zu einer Epoche und ihren Kulturen gibt als die Literatur. Denn über lange Jahrtausende hat sie in den unterschiedlichsten geokulturellen Areas ein Wissen vom Leben, vom Überleben und vom Zusammenleben gesammelt (Ette 2012: 4) [Hervorh. i.O.],

das es ihr ermöglicht, auch verdeckte Herrschaftsstrukturen offenzulegen. Da es aber „different worlds“ gibt, existiert auch ein differentes Wissen; das bedeutet, dass der eurozentrische, westliche Blick eingeengt ist, obwohl er seit nunmehr 500 Jahren dominiert (Castro-Gόmez 2010: 282).

Die Thematik des Bandes nun – wie auch des internationalen Kongresses (Thessaloniki, Mai/Juni 2018), auf dessen ausgewählten Vorträgen die hier veröffentlichten Beiträge basieren – befasst sich mit den Herrschaftsverhältnissen, die im vielgeplagten mare nostrum zu verzeichnen sind – in einer historischen Perspektive, die bei der Antike ansetzt, sich in den hellenistischen und römischen Imperien fortsetzt, im Habsburgischen Reich und im Osmanischen Imperium ←14 | 15→halt macht und sich bis zum 21. Jahrhundert erstreckt, mit Fokussierung auf die nationalsozialistische Besatzung und den Bürgerkriegen in Spanien und Griechenland und der Zentrierung auf die neoliberalen Strukturen der letzten Dekaden und ihren Krisen. Um nochmals an die oben genannten Denkfiguren anzuschließen, bezweckt unsere Publikation zum nicht-hegemonialen Diskurs über das Mittelmeer – im Sinne Chambers’ – einen Beitrag zu leisten, wobei die „Vernunft der Poesie“, wie sie Böll vorschwebt, in den Vordergrund gerückt wird. So kommt in den – vorwiegend, jedoch nicht ausschließlich – literaturwissenschaftlichen Beiträgen des Bandes die Verflechtung von Kunst bzw. Literatur, Kultur und Gesellschaft auf eine vielfältige, markante Art und Weise zum Tragen. Der Begriff der „Textur“, für den wir statt „Text“ optiert haben, unterstreicht die Kohärenz dieser Verbindung. Textur bedeutet eigentlich Gewebe, ein Terminus, der im ideengeschichtlichen Kontext der Theorie der Intertextualität entliehen ist, die in den 1960er Jahren von Kristeva und Barthes, in Anlehnung an das bachtinsche „Polyphonie“-Konzept entwickelt wurde. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang folgende Passage von Barthes:

Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur. […] Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen. (Barthes 2000: 190f.)

Diese Definition ist in zweifacher Hinsicht für unser Konzept relevant: Zum einen haben wir die Auffassung des Textes als Gewebe; zum anderen finden die Elemente, die hier ‚ortsneutral‘ beschrieben werden, wie z.B. die Nähe, die Diversität, der Dialog und der Streit der Kulturen, ihren adäquatesten Ausdruck im Mittelmeerraum.

Der Mittelmeerraum ist – wie vorliegende Beiträge anschaulich demonstrieren – dadurch geprägt, dass in ihm differente koloniale, postkoloniale und imperiale Strukturen der Herrschaft gewirkt haben und immer noch wirken. Die postkolonialen Studien reflektieren kulturelle Globalisierungsprozesse und „überwinden durch die Thematisierung von kultureller Differenz, Hybridität, Inter-, Multi- und Transkulturalität nationalphilologische Grenzen“, wobei es sich um ein Forschungsfeld handelt, „das sich durch theoretische und methodologische Vielfalt wie auch durch ein breites Themenspektrum auszeichnet“ (Dürbeck/Dunker 2014: 9). Auch wenn sich bis heute kein homogener Begriff von Postkolonialismus herausgebildet hat, da sich die postkolonialen Studien aus verschiedenartigen Traditionen speisen (Dürbeck 2014: 30), so lässt sich feststellen,

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dass der Begriff ‚postkolonial‘ eine im Wesentlichen diskurskritisch geprägte Analyseperspektive anzeigt, die sich auf den Kolonialismus, (prä-)koloniale Phantasien und die Ausläufer des kolonialen Diskurses richtet. (Ebd. 2014: 34)

Auch imperiale Herrschaftsstrukturen sind im Gebiet um das Mittelmeer noch nicht ad acta gelegt. Obwohl der „klassische Imperialismus“ von vielen Historikern zeitlich zwischen 1870 und 1914 angesetzt wird, präferieren einige die Erweiterung dieser Phase bis 1945, denn der „Faschismus deutscher und italienischer Provenienz wurde nicht zuletzt auch als eine besonders aggressive Variante imperialistischer Machtpolitik verstanden“ (Deppe/Salomon/Solty 2011: 41). „Der klassische Imperialismus schließt also die Periode der ‚rivalisierenden Imperialismen‘ (Cox), d.h. die Periode des ‚Dreißigjährigen Krieges‘ (Hobsbawm) zwischen 1914 und 1945 ein“ (ebd. 2011: 28), dem dann der „Imperialismus nach 1945“ folgt (ebd. 2011: 41–56), der wiederum ab 1989 mit der Auflösung der Sowjetunion und der globalen Durchsetzung des Neoliberalismus inklusive seiner Krise in eine neue Phase eintritt (ebd. 2011: 57–67), der vom US-Imperialismus – dem „American Empire“ (ebd. 2011: 68–85) – aber auch einem „Euroimperialismus“ (ebd. 2011: 85–103) mit Deutschlands Führungsrolle in Europa geprägt ist, wobei letztere vor allem seit der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 ins Auge springt (siehe dazu exemplarisch auch Beck 2012, Link 2016, Terkessidis 2019: 170ff.). So sind für die letzte Etappe die Machtsäulen dieses neuen Imperialismus in IWF, Weltbank, ICC (Internationale Strafgerichtshof/International Criminal Court) und die neuen Handelsregime der WTO (Welthandelsorganisation/World Trade Organization) auszumachen (Schumann 2016; Eckert/Randeria 2009), die nicht nur wirtschaftliche sondern auch politische Problemfelder eröffnen.

Wir werfen den Blick also auch auf „Kolonialphantasien“ (Zantop 1999: 12) im Binneneuropäischen Raum, spüren einem (nicht nur mentalen, sondern auch manifesten) „Binneneuropäischen Kolonialismus“ nach, wie dies bereits Iulia-Karin Patrut in einem anderen Zusammenhang geleistet hat (Patrut 2014a; Patrut 2014b) und stimmen ihr zu, wenn sie folgendes betont: „[…] we need an extended and at the same time more precise definition of colonialism in order to accommodate both its overseas and its intra-Europrean manifestations“ (Patrut 2014b: 304). Paulo de Medeiros spricht in diesem Zusammenhang vom „Post-Imperialen Europa“, das nicht nur seit 1945 dekolonialisiert worden ist, sondern zugleich selbst imperialistische Bestrebungen aufweist, sei es ökonomischer oder kultureller Form, und das nicht nur außerhalb Europas sondern auch innerhalb Europas als „internal European colonisation“ (de Medeiros 2014: 151). Von besonderem Interesse sind hier vor allem Strukturen des „Imperialismus ohne ←16 | 17→Kolonien“, wobei wir der Ansicht sind, dass diese nicht nur auf formal dekolonisierte nicht-europäische Staaten nach 1945 zutreffen, da das Ende neo-imperialer Herrschaft über sie nicht abzusehen ist (Eckert/Randeria 2009: 14), sondern auch für einige europäische Staaten gelten.

Dieser Problematik von kolonialen, postkolonialen bzw. imperialen, postimperialen Strukturen ist die Akzentuierung auf Machtverhältnisse zwischen den Nationen aber auch supranationalen Institutionen eingeschrieben – eine Schwerpunktsetzung, die für die Thematik des Bandes als Grundlage dient und sich aus dem Begriff der Herrschaft speist, den wir, im Gegensatz zum Begriff der Macht, präferieren. Seit Max Weber wird in der Soziologie unter den Begriff der Macht auch das individuelle Handeln innerhalb von sozialen Beziehungen gefasst. „Damit bestimmt er [Max Weber] die Machtausübung als individuelles Handeln, das zwar innerhalb einer sozialen Beziehung, jedoch nicht notwendigerweise innerhalb gesellschaftlicher Ordnungen stattfindet.“ (Neuenhaus 1998: 77) Dagegen setzt sich der Begriff der Herrschaft ab, dem eine „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1980: 28) zugesprochen wird, also in ein Verhältnis von institutionalisierter Herrschaft und Beherrschten gesetzt wird. „Während Macht dabei als wenig strukturierte Beziehung zwischen Individuen gefasst wird, erwächst für Herrschaft als stabilem Ordnungsprinzip stets ein Legitimationsproblem“ (Alberth 2013: 225). An diesen Rahmen von institutionalisierter Machtausübung (Nünning 2004: 414) knüpfen wir in diesem Band an, wobei wir uns der „Einsicht Walter Benjamins in die Herrschaftsgebundenheit jeglichen Ausdrucks von Kultur“ (Alberth 2013: 17) anschließen.

Diese Vorstellung von Macht erlaubt es, die Überlegungen Walter Benjamins in eine Diskursanalyse zu überführen, der ja Herrschaft und Kultur derart miteinander verbunden sah, dass im Namen der Kultur die heteronomen Bedingungen ihrer eigenen Fabrikation unsichtbar gemacht werden. (Ebd. 2013: 95)

Um diese nicht auf Anhieb sichtbaren Verstrickungen von Herrschaft geht es in diesem Band. Was viele Beiträge nun zu leisten beabsichtigen, lässt an das „contrapuntal reading“ im Sinne Edward Saids (1993) erinnern, oder die Suche nach „Polyphonie“ im Sinne Michail Bachtins, um einen neuen, kritischen Blick auf die Herrschaftsstrukturen im Mittelmeerraum zu eröffnen. Auch wird die Frage nach den Merkmalen einer „postkolonialen Ästhetik“ im Sinne Herbert Uerlings’ gestellt (Dürbeck 2014: 53–58). Unser Band erfüllt ein Desiderat, lässt er doch Lektüreperspektiven zu Wort kommen, die nicht unbedingt privilegiert sind, und zeigt einmal mehr die Notwendigkeit Texturen „gegen den Strich zu bürsten“ (Benjamin 1991: 697).

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Das Präfix „post-“ impliziert eine Vergangenheit, über die in der jeweiligen Gegenwart reflektiert wird. Derartige Reflexionen werden heute sehr oft unter dem weitgefassten Begriff „Erinnerungsdiskurs“ subsumiert. Von besonderem Belang ist in unserem Kontext das Konzept der „historical wounds“ (Chakrabartry 2007), da es von der nachträglichen Anerkennung der ‚Subalternen‘ handelt, deren mnemonische Spuren dermaßen verwischt worden sind, dass ihr Leben und Wirken im offiziellen Diskurs überhaupt nicht vorkommen; nicht nur im Sinne des bekannten Topos, dass ‚die Geschichte von den Siegern geschrieben wird‘, sondern auch weil keine Dokumente ihrer Existenz vorliegen. Dieser Lücke kann, laut Chakrabartry, nur durch einen „mix of history and memory“ Abhilfe geleistet werden – ein Theorem, das die herkömmliche Spannung von Geschichte und Erinnerung überwindet und die Synergie zwischen den Beiden betont (Assmann 2006a: 134–137; Assmann 2013: 151ff.; Assmann 2015: 268ff.; Confino 2011; Rothermund 2015: 11). Ausdrücklich oder stillschweigend von diesen Prämissen ausgehend, begeben sich unsere Beiträge nicht nur auf eine rückwärtsgewandte Spurensuche (wie z.B. im Falle der griechischen oder spanischen Widerstandskämpfer), sondern beziehen sich auch auf die Gegenwart, die in einiger Zeit Vergangenheit sein wird – aus heutiger Sicht geht es um eine Zukunft, deren ‚unbequeme Seiten‘ (z.B. Flüchtlingsdrama, Wirtschaftskrise) eventuell der öffentlichen Lethe anheimzufallen drohen.

Der Literatur, als privilegierter Domäne der Memoria, kommt die wichtige Aufgabe zu, dieser Lethe entgegenzuwirken, da sie bei der Gedächtnisbewahrung eine prominente Rolle innehat, wie Assmann und Erll in unterschiedlichen Zusammenhängen gezeigt haben (Assmann 2006b; Assmann 2011; Erll 2005a: 143–193; Erll 2005b). Dabei beschränkt sich eine ‚mnemonische Lektüre‘ – die der überwiegenden Mehrzahl der behandelten Texte als Potential eingeschrieben ist, auch wenn diese Dimension in den Beiträgen nicht immer im Vordergrund steht – keineswegs auf eine passive Rezeption von Inhalten vergangener Epochen (so beschwiegen oder verborgen sie auch sein mögen); das Gedächtnis ist immer in „soziale Rahmen“ eingebettet (Halbwachs 1992), von den Interessenlagen der jeweiligen Gegenwart abhängig, an bestimmte Träger gebunden („Erinnerungskollektive“ – Erll 2005a: 158). Gedächtnisinhalte – vor allem wenn sie durch literarische Werke publik gemacht werden – treten in ein Spannungsfeld konkurrierender Erinnerungen ein und werden zum gesellschaftlichen Verhandlungsgegenstand. Hier macht sich noch einmal die enge Verschränkung von Text, Kultur und Gesellschaft manifest, die der Begriff der Textur suggeriert.

Zuletzt möchten wir unsere Ausführungen zu den memory studies mit einem Hinweis auf die Theorie der „multidirectional memory“ im Sinne Rothbergs ←18 | 19→(2009) schließen: Da die in den Essays evozierten Erinnerungen verknüpfungstauglich sind (sowohl untereinander, als auch mit anderen marginalisierten Erinnerungen), zielt der Band darauf, die dem Mittelmeerraum innewohnende Diversität und Plurivokalität offenzulegen.

Unverkennbar ist, dass unser Anliegen – das die Bereiche der postcolonial studies, wie auch der memory studies stark in Anspruch nimmt, wie wir gesehen haben – einer interdisziplinären Annäherung bedarf. In diesem Sinne repräsentieren die Beiträger*innen ein weites Spektrum akademischer Disziplinen: Germanistik, Komparatistik, griechische Philologie, Literatur, Übersetzungswissenschaft, Theater, Mediävistik. Zahlreich sind auch die Länder, aus deren Universitäten die Autoren und Autorinnen des Bandes kommen: Deutschland, Österreich, Griechenland, Spanien, Italien, Malta und Ungarn.

Abgesehen von den ‚handfesten‘, materiellen Manifestationen von Herrschaft (die natürlich bei allen Untersuchungen als Basis fungieren) wird das Hauptgewicht auf die symbolischen Formen der Macht gelegt – zumal wir uns hauptsächlich auf dem Terrain der Literatur und Kunst bewegen. Sinnvoll ist es unseren Band mit unseren key note speeches zu beginnen: Wir lassen zuerst den in Deutschland sehr beliebten Schriftsteller Petros Markaris in seinem für ihn eigenen Sprachduktus zu Wort kommen, und dann den Literatur- und Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk, da beide den Rahmen abstecken, in dem die hier wichtigen – nicht nur theoretischen – Tendenzen zum Tragen kommen, die die Mehrzahl der Beiträge kennzeichnen.

Als Auftakt

Petros Markaris, sich auf autobiographische Erlebnisse seiner Kindheit in Istanbul stützend, stellt die interessante These auf, dass „die heutigen Gesellschaften keine ‚multikulturellen‘, sondern ‚multikommunale‘ Gesellschaften“ sind, also „Gesellschaften mit mehreren Gemeinden, die aber getrennt leben und ihre eigene Religion, ihre eigene Sprache und ihre eigenen Werte und Traditionen für sich behalten und eine Mischkultur oder Multikultur entschieden vermeiden.“ Er plädiert für eine „Integration des alltäglichen Zusammenlebens“ und geht auf die Voraussetzungen ein die, sowohl auf der Seite der Gäste wie auch der Gastgeber erforderlich sind, um dieses Ziel zu erreichen.

Einführend

Wolfgang Müller-Funk zeichnet wichtige historische Knotenpunkte im Selbstverständnis der Österreicher in Bezug auf den Mittelmeerraum nach und ←19 | 20→untersucht, wie sich diese ambivalente Einstellung, unter anderem, in Werken von Hermann Bahr, der Kaiserin Elisabeth und Ingeborg Bachmann literarisch äußert. Müller-Funk verschränkt in seinem Konzept den „geopolitischen Aspekt“ und den „symbolischen Haushalt“, die die Problematik der Relation zur mediterranen Region auszeichnen, und kommt zu dem Schluss, „dass das Mittelmeer einen symbolischen Raum verkörpert, von dem sich sehr private und persönliche Erfahrungen mit einer Form des Politischen verbinden, die von dieser – vermeintlichen – Natürlichkeit getragen ist. Das macht das Mittelmeer zu einer chronotopologischen Konstruktion einer gemeinsamen Welt, zu einer intensiven Kontaktzone, im Guten wie im Bösen“.

I Mittelmeer und Flüchtlingsdrama

Angesichts der tragischen Entwicklung der letzten Jahre auf dem Mittelmeer, in welchem Tausende von Menschen auf ihrer Flucht vor Gewalt, Krieg und Hunger ertrunken sind und auch immer noch ertrinken, widmen sich drei Studien der Literatur über das Flüchtlingsdrama. Die Autorinnen haben zeitgenössische Werke ausgewählt – einen Roman, Gedichte und mehrere Theaterstücke –, die ein kritisches und (auto-)reflexives Potential gegenüber der europäischen Politik zum Ausdruck bringen.

Katrin Dautel von der Universität Malta schreibt über „Bodo Kirchhoffs Widerfahrnis (2016) als literarische Reflexion auf Machtverhältnisse im Mittelmeerraum“. Auf der Reise eines deutschen älteren Paares nach Sizilien werden die Machtverhältnisse zwischen Nord- und Mitteleuropa und den Mittelmeerländern im Rahmen der aktuellen Flüchtlingskrise ausgelotet, die sich insbesondere in Kirchhoffs Doppel-Konstruktion über den Mittelmeerraum veräußerlichen. Zum einen wird das Mittelmeer als männlich konnotierter Fluchtraum inszeniert, indem das Schicksal der männlichen Flüchtlinge im Roman ein fixierendes Narrativ zugesprochen bekommt, den flüchtenden Frauen hingegen wird jegliches Narrativ vorenthalten, sie bleiben ‚flüchtig‘ – so flüchtig wie das Meer, von der die Inselmasse umspült wird. Zum anderen wird in einer vom personalen Erzähler erstrebten Formulierung über die herrschende Situation auf Sizilien und das die Insel umspülende Meer – er versucht eine potentielle Narration des Erlebten und Erfahrenen zu gestalten – eine selbstkritische Perspektive an der Sprache eines zum Establishment gehörenden Mittel-Europäers deutlich. Diese „doppelte ästhetische Konstruktion des Mittelmeerraums“ gestaltet das Meer zu einer Metapher über die aktuellen Herrschaftsverhältnisse.

Details

Seiten
360
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631819470
ISBN (ePUB)
9783631819487
ISBN (MOBI)
9783631819494
ISBN (Hardcover)
9783631784280
DOI
10.3726/b16844
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Nord-Süd Beziehungen Brüchige Identitäten Zweiter Weltkrieg Erinnerungsdiskurse Postkolonialismus Bürgerkriege Fremdbilder Imperien Flüchtlingskatastrophe
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 360 S., 25 s/w Abb.

Biographische Angaben

Simela Delianidou (Band-Herausgeber:in) Eleni Georgopoulou (Band-Herausgeber:in) Jannis Pangalos (Band-Herausgeber:in)

Simela Delianidou ist Assistant Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Abteilung für Deutsche Sprache und Philologie der Aristoteles Universität Thessaloniki. Eleni Georgopoulou ist Assistant Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Abteilung für Deutsche Sprache und Philologie der Aristoteles Universität Thessaloniki. Jannis Pagkalos ist Assistant Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Abteilung für Deutsche Sprache und Philologie der Aristoteles Universität Thessaloniki.

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Titel: Texturen von Herrschaft im Mittelmeerraum
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