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Die Vorversichereranfrage

Wirtschaftliche Bedeutung und kartellrechtliche Bewertung

von Sarah Vogel (Autor:in)
©2019 Dissertation 340 Seiten

Zusammenfassung

Bei einer Vorversichereranfrage handelt es sich um einen Informationsaustausch zwischen Versicherern und damit zwischen Wettbewerbern. Vorversichereranfragen finden insbesondere statt, wenn ein Versicherungsnehmer einen Wechsel zu einem anderen Versicherer anstrebt. Die im Rahmen der Anfrage erhaltenen Angaben legt der neue Versicherer seinem Vertragsangebot gegenüber dem betreffenden Versicherungsnehmer und seiner Prämienberechnung zu Grunde. Die Autorin untersucht die wirtschaftlichen Hintergründe dieses Informationsaustauschs sowie seine kartellrechtliche Zulässigkeit. Dabei geht sie insbesondere auf die im Rahmen von Art. 101 Abs. 1 AEUV geltenden Maßstäbe für die kartellrechtliche Zulässigkeit eines Informationsaustauschs ein.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Teil 1: Der wettbewerbstheoretische Ansatz und die Ziele der Wettbewerbspolitik
  • A. Das Integrationsziel
  • B. Ergebnisoffene Wettbewerbskonzepte
  • C. Ergebnisorientierte Wettbewerbskonzepte
  • I. Funktionsfähiger Wettbewerb
  • II. Chicago School
  • D. Der Effizienzbegriff im Wettbewerbsrecht
  • I. Allokative Effizienz
  • 1. Vollkommener Wettbewerbsmarkt
  • a. Das Pareto-Kriterium
  • b. Produzentenrente, Konsumentenrente und sozialer Überschuss
  • c. Das allgemeine Gleichgewicht auf einem vollkommenen Wettbewerbsmarkt
  • 2. Monopol
  • II. Produktive Effizienz
  • III. Dynamische Effizienz
  • IV. Marktversagen
  • E. Folgerungen aus einer wohlfahrtsorientierten Wettbewerbspolitik
  • I. Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung anhand ihrer Marktauswirkungen
  • II. Rechtfertigung wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen im Sinne einer rule of reason
  • F. Das ergebnisoffene Wettbewerbskonzept der Rechtsprechung als Ausgangspunkt
  • G. Der more economic approach der Europäischen Kommission
  • H. Die Rechtsprechung der europäischen Gerichte zur Berücksichtigung des rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmens einer Verhaltensweise bei der Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung
  • I. Die Markterschließungsdoktrin
  • II. Die Nebenabredendoktrin (ancillary restraints)
  • III. Rechtfertigung durch legitime außerwettbewerbliche Ziele
  • IV. Keine Abwendung vom ergebnisoffenen Wettbewerbskonzept
  • V. Fazit
  • Teil 2: Die Bedeutung des einzelfallbezogenen Informationsaustauschs im Rahmen der Vorversichereranfrage
  • A. Der einzelfallbezogene Informationsaustausch über Versicherungsnehmer
  • I. Das Hinweis- und Informationssystem der deutschen Versicherer (HIS)
  • II. Die Vorversichereranfrage
  • B. Gang der Untersuchung
  • C. Kartellrechtliche Relevanz von Informationen
  • I. Der ambivalente Charakter von Informationen
  • II. Selbständiger und unselbständiger Informationsaustausch
  • 1. Terminologie
  • 2. Wettbewerbsbeschränkung durch einen konnexen Informationsaustausch
  • 3. Wettbewerbsbeschränkung durch einen selbständigen Informationsaustausch
  • D. Die Bedeutung von Informationen in der Versicherungswirtschaft
  • I. Die Relevanz statistischer Daten für die Versicherungstechnik
  • 1. Das Äquivalenzprinzip in Bezug auf die reine Risikoprämie
  • 2. Übrige Bestandteile der Bruttoprämie
  • 3. Erfordernis gemeinsamer Schadenstatistiken
  • II. Die Relevanz spezifischer Daten über einzelne Versicherungsnehmer – Informationsasymmetrie auf Versicherungsmärkten
  • 1. Adverse Selektion als Folge asymmetrischer Information
  • a. Market for lemons
  • b. Adverse Selektion auf den Versicherungsmärkten
  • 2. Moralisches Risiko durch risikoerhöhendes Verhalten des Versicherungsnehmers
  • 3. Marktinterne Maßnahmen gegen adverse Selektion und moral hazard
  • a. Screening
  • b. Signaling
  • aa. Selbstbehalte
  • bb. Erfahrungstarifierung durch Bonus-Malus-Systeme
  • c. Scoring
  • 4. Regelungen des VVG zum Schutz gegen die Folgen asymmetrischer Information
  • a. Das Freiwerden des Versicherers von seiner Leistungspflicht nach § 81 VVG
  • aa. Geschichtliche Entwicklung des Leistungsausschlusses bei Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Versicherungsnehmer
  • bb. Der Schutzzweck des § 81 VVG
  • b. Die Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers (§§ 19–22 VVG)
  • aa. Der Umfang der Anzeigepflicht
  • bb. Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Anzeigepflicht
  • c. Die Regeln zur Gefahrerhöhung (§§ 23–27 VVG)
  • d. Grenzen der Wirksamkeit der Regelungen des VVG
  • Teil 3: Kartellrechtliche Untersuchung der Vorversichereranfrage
  • A. Art. 101 AEUV
  • I. Adressaten des Kartellverbots
  • 1. Unternehmen
  • 2. Unternehmensvereinigung
  • II. Mittel der Wettbewerbsbeschränkung
  • 1. Einwilligungserklärung der Antragsteller
  • 2. Versicherungsverträge
  • a. Beschluss einer Unternehmensvereinigung
  • b. Zurechnung eines Beschlusses als Tathandlung der einzelnen Versicherungsunternehmen
  • c. Vereinbarung zwischen Unternehmen
  • d. Abgestimmte Verhaltensweise
  • III. Zwischenstaatlichkeit
  • 1. Eignung zur Handelsbeeinträchtigung
  • 2. Spürbarkeit der Handelsbeeinträchtigung
  • IV. Wettbewerbsbeschränkung
  • 1. Marktabgrenzung
  • a. Sachlich relevanter Markt
  • aa. Terminologie
  • bb. Marktabgrenzung unter Berücksichtigung besonderer versicherungsrechtlicher Regelungen
  • (1) Die Gruppenfreistellungsverordnungen
  • (2) Die Solvency II-Richtlinie
  • (3) Anlage A zum VAG
  • (4) Anlage 1 Abschnitt C zur Verordnung über die Berichterstattung von Versicherungsunternehmen gegenüber der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
  • cc. Marktabgrenzung nach den allgemeinen Kriterien
  • (1) Bedarfsmarktkonzept
  • (2) SSNIP-Test
  • (3) Kritik am SSNIP-Test
  • (a) Cellophane fallacy
  • (b) Umgekehrte cellophane fallacy
  • (c) Datenerhebung
  • (4) Einzelaspekte der Marktabgrenzung
  • (a) Nachfragesubstituierung
  • (b) Angebotsumstellungsflexibilität
  • (aa) Quantitative Umsetzung
  • (bb) Besonderheiten der Versicherungsmärkte
  • b. Räumlich relevanter Markt
  • aa. Die rechtlichen Rahmenbedingungen
  • (1) Die Auswirkungen von Liberalisierung und Deregulierung der Versicherungsmärkte auf die räumliche Marktabgrenzung
  • (2) Internationales Privatrecht
  • (3) Die Anpassung von Versicherungsprodukten an die mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen
  • bb. Vertriebsstrukturen
  • cc. Sprachunterschiede
  • dd. Die Art der Nachfrager
  • ee. Das Übereinkommen der Parteien
  • ff. Ergebnis der räumlichen Marktabgrenzung
  • 2. Bezwecken oder Bewirken einer Wettbewerbsbeschränkung
  • a. Geschützter Wettbewerb
  • b. Bezwecken einer Wettbewerbsbeschränkung
  • aa. Allgemeine Bewertungskriterien
  • bb. Bezweckte Wettbewerbsbeschränkung durch einen Informationsaustausch
  • c. Bewirken einer Wettbewerbsbeschränkung
  • aa. Allgemeine Bewertungskriterien
  • bb. Bewirkte Wettbewerbsbeschränkung durch einen Informationsaustausch
  • cc. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Informationsaustausch zwischen Finanzinstituten bezüglich der Zahlungsfähigkeit von Kreditnehmern
  • dd. Marktstruktur
  • ee. Marktabdeckung
  • ff. Zugang zum Informationsaustausch / Marktzutrittsschranke
  • gg. Art der ausgetauschten Informationen
  • (1) Risikoinformationen
  • (a) Schadenverlauf, Schadenaufwand und Schadenquote
  • (b) Versicherungszeitraum und Kündigungsgrund
  • (c) Unregelmäßigkeiten bei der Prämienzahlung
  • (2) Vertragsinformationen
  • (a) Versicherungssumme
  • (b) Selbstbehalt
  • (c) Versicherte Gefahren
  • (d) Schadenfreiheitsrabatt
  • (3) Zwischenergebnis zur Art der ausgetauschten Informationen
  • hh. Alter der ausgetauschten Daten
  • ii. Identifizierbarkeit und Aggregation
  • (1) Terminologie
  • (2) Identifizierbarkeit der Unternehmen
  • (3) Aggregation der Daten
  • jj. Zugang der Marktgegenseite zum Informationsaustausch
  • kk. Einzelfallbezogenheit des Informationsaustauschs
  • ll. Rückschlüsse auf den Bestand an Versicherungsverträgen
  • mm. Die Ermöglichung kartellrechtswidriger Maßnahmen durch den identifizierenden Informationsaustausch zwischen Versicherungsunternehmen
  • (1) Marktaufteilung
  • (2) Marktabschottung und Verdrängungswettbewerb
  • (a) Marktabschottung
  • (b) Verdrängungswettbewerb
  • (c) Auswirkungen auf den Wettbewerb
  • nn. Zwischenergebnis
  • 3. Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung
  • 4. Fazit
  • V. Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV
  • 1. Die außer Kraft getretene Gruppenfreistellungsverordnung für die Versicherungswirtschaft (VO 267/2010)
  • 2. Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV i.V.m. Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003
  • a. Effizienzen und Verbraucherbeteiligung
  • b. Unerlässlichkeit
  • VI. Ergebnis zu Art. 101 AEUV
  • B. Art. 102 AEUV
  • C. Fazit
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

Der Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern ist in den letzten fünfzehn Jahren mehr und mehr in den Blickpunkt kartellrechtlicher Literatur1 gerückt. Hierzu trug auf europäischer Ebene, neben einigen gerichtlichen Entscheidungen2, insbesondere der in den neuen Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit aus dem Jahr 2011 enthaltene Abschnitt zum Informationsaustausch bei.3 In ihm stellte die Europäische Kommission erstmals allgemeine, vom Geschäftsbereich, auf dem die betreffenden Unternehmen tätig sind, unabhängige Kriterien für die Bewertung eines Informationsaustauschs auf.4 Dabei fällt auf, dass in keinem Bereich die von der Europäischen Kommission unter dem Stichwort des more economic approach propagierte, an den Folgen einer Verhaltensweise ausgerichtete kartellrechtliche Beurteilung sich so sehr durchgesetzt hat, wie bei der Beurteilung des Informationsaustauschs.5

Diskutierte man früher die kartellrechtliche Relevanz eines Informationsaustauschs überwiegend in solchen Fällen, in denen es um einen Austausch von Preis- oder allenfalls noch Mengen- oder Kostendaten zwischen Wettbewerbern ging, rückten zunehmend auch Sonderformen des Informationsaustauschs in ←17 | 18→den kartellrechtlichen Fokus.6 Einen derartigen Sonderfall bildet auch die Vorversichereranfrage, die Gegenstand dieser Arbeit ist. Erhält ein Versicherer einen Antrag eines potentiellen Versicherungsnehmers auf Abschluss eines Versicherungsvertrags, so ist für die Erstellung eines entsprechenden Angebots und insbesondere für die Festlegung der Prämie durch den Versicherer die Größe des zu versichernden Risikos ausschlaggebend. Dieses Risiko kann von vielen Faktoren beeinflusst werden. Neben den offensichtlichen, wie dem Wert des zu versichernden Gegenstands, spielen auch individuelle, schwerer erkennbare Faktoren eine Rolle. Für den Versicherer ist in diesem Zusammenhang insbesondere die bisherige Schadenhistorie von Bedeutung, weil sich aus der Zahl der Vorschäden Rückschlüsse auf die Höhe des zu erwartenden künftigen Risikos ziehen lassen. Aus diesem Grund sind in den §§ 19 ff. VVG Anzeigepflichten des Antragstellers bei Abschluss eines Versicherungsvertrags normiert. Um die vom Antragsteller gemachten Angaben auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, stellen Versicherer eine Anfrage an den Vorversicherer und erbitten entsprechende Auskünfte, die der Vorversicherer auch erteilt. Zu diesem Zweck lassen sich die Versicherer von den Antragstellern bereits im Antrag den Vorversicherer benennen und holen das Einverständnis des Antragstellers in die entsprechende Anfrage beim Vorversicherer sowie in die Informationserteilung an etwaige Nachversicherer ein.7

Gerade im Bereich der Versicherungswirtschaft steht den kartellrechtlichen Bedenken gegen einen Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern ein besonderes, in dem Produkt Versicherung und seiner Funktionsweise begründetes Informationsbedürfnis der Versicherungsunternehmen gegenüber, das mit den kartellrechtlichen Anforderungen in Ausgleich zu bringen ist. Die vorliegende Arbeit untersucht zunächst dieses Informationsbedürfnis in Bezug auf die im Rahmen der Vorversichereranfrage ausgetauschten Informationen über einzelne Versicherungsnehmer und bewertetet den Informationsaustausch anschließend unter Berücksichtigung der maßgeblichen kartellrechtlichen Praxis der Gemeinschaftsorgane.


1 Wagner-von Papp, Marktinformationsverfahren (2004); Tugendreich, Die kartellrechtliche Zulässigkeit von Marktinformationsverfahren (2004); Blattmann, Der Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern (2012); Dreher/Hoffmann, WuW 2011, 1181; Pischel/Hausner, EuZW 2013, 498; Karenfort, WuW 2008, 1154; Schroeder, WuW 2009, 718.

2 EuGH, Urt. v. 23.11.2006, Rs. C-238/05 (Asnef-Equifax), Slg. 2006, I-11125; EuGH, Urt. v. 04.06.2009, Rs. C-8/08 (T-Mobile Netherlands), Slg. 2009, I-4529.

3 Europäische Kommission, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit (2011/C 11/01) (im Folgenden: Horizontalleitlinien), ABl. Nr. C 11 v. 14.01.2011, S. 1, Rn. 55 ff.

4 Zuvor war lediglich in den Leitlinien zu Sehverkehrsdienstleistungen ein entsprechender Abschnitt zum Informationsaustausch enthalten. Siehe Europäische Kommission, Leitlinien für die Anwendung von Artikel 81 des EG-Vertrags auf Seeverkehrsdienstleistungen (im Folgenden: Seeverkehrsleitlinien), ABl. Nr. C 245 v. 26.09.2008, S. 2, Rn. 38 ff.

5 Bechtold, GRUR 2012, 107, 108 f. Zum more economic approach siehe sogleich S. 50 ff.

6 Vgl. etwa Stöcker, WuW 2012, 935; Dreher/Körner, WuW 2012, 104; Lüdemann/Lüdemann, WuW 2012, 917.

7 Zum Ablauf siehe im Einzelnen unten S. 72 ff.

←18 | 19→

Teil 1: Der wettbewerbstheoretische Ansatz und die Ziele der Wettbewerbspolitik

Im Rahmen dieser Arbeit soll geprüft werden, ob der einzelfallbezogene Informationsaustausch zwischen Versicherern im Rahmen der Vorversichereranfrage gegen das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV verstößt. Bei dieser Untersuchung stehen die möglichen sowohl positiven als auch negativen Auswirkungen dieses Informationsaustauschs auf den Wettbewerb im Vordergrund. Gemäß Art. 101 Abs. 1 AEUV verboten sind solche Verhaltensweisen, die den Wettbewerb beschränken. Der Schutz des Wettbewerbs durch das europäische Kartellrecht ist jedoch kein Selbstzweck. Er dient vielmehr der Verwirklichung anderer Ziele und ist nur um ihretwillen schützenswert. Die Frage, welche Ziele das sind, wird jedoch nicht einheitlich beantwortet. Es existiert keine allgemeingültige Definition des (schützenswerten) Wettbewerbs.8 So entwickelten sich über die Zeit eine Reihe verschiedener Wettbewerbskonzepte, die sich in einer ersten Annäherung in ergebnisoffene bzw. systemtheoretische und ergebnisorientierte bzw. wohlfahrtsökonomische Wettbewerbskonzepte einteilen lassen.9 Während die Vertreter ergebnisoffener Konzepte davon ausgehen, dass der Wettbewerb und seine grundlegenden Voraussetzungen stets und als solches zu schützen sind, fordern die ergebnisorientierten Konzepte, den Schutz des Wettbewerbs an den durch ihn erzielten Marktergebnissen zu orientieren. Dabei ist es jedoch nicht so, dass die ergebnisoffenen Konzepte den Wirkungen des Wettbewerbs und den Marktergebnissen gleichgültig gegenüber stünden. Vielmehr ist auch nach diesen der Wettbewerb deswegen schützenswert, weil er in aller Regel zu Effizienz und damit zu einer Wohlfahrtssteigerung im Vergleich zu anderen Marktformen führt.10

←19 | 20→

Dass der Wettbewerb überhaupt geschützt werden muss, liegt an der bei nahezu allen Unternehmen am Markt zu beobachtenden Tendenz, Wettbewerb wo immer es geht zu vermeiden und nach Marktmacht zu streben. Es zeigt sich ein „tiefer Trieb zur Beseitigung von Konkurrenz und zur Erwerbung von Monopolstellungen“11. Dieses Bestreben beruht darauf, dass für jedes Unternehmen eine solche Situation wirtschaftlich ideal wäre, in der es sich dem Wettbewerbsdruck durch Mitbewerber entziehen und gleichzeitig vom Wettbewerb auf anderen Märkten profitieren kann.12

Die Frage des zugrunde liegenden Wettbewerbskonzepts ist für die Auslegung und Anwendung der kartellrechtlichen Vorschriften von entscheidender Bedeutung. Die Relevanz wird besonders deutlich bei der Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV, denn das Verständnis vom Begriff des Wettbewerbs gibt vor, wann dieser beschränkt sein kann. Beschränkt werden kann nur, was zuvor als anzustrebender Zustand und damit als schützenswert festgelegt wurde.13 Die Frage, wann man Wettbewerb als gegeben oder gar als „ausreichend“ ansieht, ist gleichbedeutend mit der Frage danach, welche Ziele mit Wettbewerb erreicht werden sollen. Eine Definition des Wettbewerbs enthält somit immer zumindest implizit eine Zielvorstellung.14

Bevor jedoch im Folgenden die wichtigsten Konzepte und der wettbewerbstheoretische Ansatz der europäischen Gemeinschaftsorgane näher erläutert werden, soll zuvor das dem europäischen Wettbewerbsrecht einzigartige Ziel der Marktintegration dargestellt werden.

A. Das Integrationsziel

Nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV sollen die Regeln des Vertrags dazu dienen, einen gemeinsamen Binnenmarkt im Raum der Europäischen Union zu errichten. Das Integrationsziel ist weder durch die ergebnisoffenen noch durch die ergebnisorientierten Konzepte der Wettbewerbspolitik vorgegeben, sondern stellt ein dem Wettbewerbsrecht der Europäischen Union eigenes Sonderziel dar.15 Dennoch steht es nicht selbständig neben den übrigen Zielen der Wettbewerbspolitik. ←20 | 21→Vielmehr befördert die Integration der Märkte den Wettbewerb16, denn durch die Öffnung der Märkte im Rahmen der Zollunion und durch den Abbau staatlicher und privater Handelshemmnisse zwischen den Mitgliedstaaten drängen Unternehmen aus den übrigen EU-Mitgliedstaaten auf den heimischen Markt und erhöhen so den Wettbewerbsdruck auf die bereits vorhandenen Anbieter.

Die früher in der Literatur umstrittene Frage, in welchem Verhältnis die im Rahmen des EGV nebeneinander verwendeten Begriffe des „Binnenmarktes“ und des „Gemeinsamen Marktes“ zueinander stehen17, ist seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bedeutungslos geworden. Denn innerhalb der neuen Verträge wurde der Begriff des „Gemeinsamen Marktes“ vollständig durch den jüngeren Begriff des „Binnenmarktes“ ersetzt. Insofern sei nur auf Art. 101 Abs. 1 AEUV im Vergleich zu dem ansonsten wortgleichen Art. 81 Abs. 1 EGV hingewiesen.18 Inhaltliche Änderungen ergeben sich hieraus nicht. Die ausschließliche Verwendung des Binnenmarktbegriffs dient vielmehr nur der Vereinheitlichung der Verträge und stellt keine Erweiterung des Begriffs dar.19

Der Vertrag von Lissabon hat aber durch eine andere Änderung zu Unsicherheit über die Bedeutung des Wettbewerbs für die Europäische Union geführt. So wurde auf Drängen des französischen Staatspräsidenten Sarkozy das vormals in Art. 3 Abs. 1 lit. g EGV unter den „Tätigkeiten der Gemeinschaft“ angeführte System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt, aus dem unmittelbaren Vertragstext gestrichen.20 Die Wendung findet ←21 | 22→sich nunmehr nur noch im Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb (Protokoll Nr. 27).21

Doch auch die Streichung des Begriffs des unverfälschten Wettbewerbs aus der Tätigkeitsbeschreibung führt nicht zu einer geänderten Bedeutung des Wettbewerbs für die Zielsetzung der europäischen Verträge.

Schon formal macht es keinen Unterschied, ob eine Regelung im eigentlichen Vertragstext oder „nur“ im Zusatzprotokoll enthalten ist. Gemäß Art. 51 EUV sind die Protokolle und Anhänge der Verträge Bestandteil der Verträge. Die in ihnen enthaltenen Regelungen stellen somit primäres Europarecht dar, sodass sich am Rang des Systems des unverfälschten Wettbewerbs durch die Neuverortung im Zusatzprotokoll nichts geändert hat.22 Dies wird durch die europäische Rechtsprechung bestätigt, denn auch der Europäische Gerichtshof hat zur Begründung des Systems des unverfälschten Wettbewerbs als Bestandteil des Binnenmarktbegriffs ausdrücklich auf das Protokoll Nr. 27 verwiesen.23

Auch inhaltlich hat sich durch die Neufassung keine Änderung ergeben. Der unverfälschte Wettbewerb stellt vielmehr auch im Vertrag von Lissabon ein Mittel dar, mit dessen Hilfe die Ziele des gemeinsamen Binnenmarktes aus Art. 3 Abs. 2 EUV und der Förderung des Wohlergehens der Völker gemäß Art. 3 Abs. 1 EUV erreicht werden sollen. Zwar steht das System des unverfälschten Wettbewerbs in der neuen Fassung nicht mehr unter dem Begriff „Tätigkeitsbeschreibung“, sodass die für die vorherige Fassung kennzeichnende Zweck-Mittel-Relation zwischen dem System des unverfälschten Wettbewerbs und dem Binnenmarktbegriff nicht mehr so evident ist. An dem Verhältnis der beiden Begriffe zueinander hat sich jedoch nichts geändert.24 Das Binnenmarktziel, dessen wesentlicher Bestandteil auch nach der neuen Regelung in Protokoll Nr. 27 ein System unverfälschten Wettbewerbs ist, bleibt auch weiterhin ←22 | 23→bestehen.25 Das gilt umso mehr, als sich das System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt, ohne weiteres auch aus den Wettbewerbsregeln der Artt. 101, 102 und 106 AEUV26 ergibt; diese bilden den „Kernbestandteil“ eines solchen Systems unverfälschten Wettbewerbs.27

Obwohl das Ziel der Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes auf staatlicher Ebene heute weitgehend verwirklicht ist, hat das Integrationsziel nicht an Bedeutung verloren. Dies gilt zum einen in Bezug auf die Erweiterung der Europäischen Union durch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten.28 Zum anderen handelt es sich bei der Marktintegration um eine Daueraufgabe, die eine eigene Dynamik hat und die fortwährende Anpassung an neue Entwicklungen erfordert.29 Darüber hinaus soll nach dem Abbau staatlicher Handelshemmnisse durch die Vorschriften der Artt. 101 und 102 AEUV verhindert werden, dass private Handelshemmnisse an deren Stelle treten und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen.30 Das Integrationsziel behält somit Bedeutung bei der Auslegung und Anwendung der europäischen Kartellrechtsvorschriften.

←23 | 24→

B. Ergebnisoffene Wettbewerbskonzepte

Die Vertreter ergebnisoffener Wettbewerbskonzepte definieren den (schützenswerten) Wettbewerb nicht anhand seiner Folgen, sondern seiner Voraussetzungen und legen dabei besonderes Augenmerk auf die Handlungsfreiheit als Wettbewerbsvoraussetzung.31 Wie bereits dargestellt, liegt jedoch auch diesen Konzepten die Grundannahme zugrunde, dass durch den freien Wettbewerb der Wohlstand aller Wirtschaftsteilnehmer gefördert wird.32 Der Schutz von Wettbewerb auf einem Markt durch die Regeln des Kartellrechts findet seine Grundlage in der These, dass Wettbewerb im Sinne eines freien Spiels der Kräfte auf einem Markt zur Steuerung von Angebot und Nachfrage, zur effizienten Ressourcenallokation und zur Förderung von Innovation und Fortschritt führt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass auf einem freien Wettbewerbsmarkt jeder Einzelne seine Wirtschaftsfaktoren dort einsetzt, wo sie den größten Gewinn bringen. Damit maximiert er nicht nur seinen eigenen Gewinn, sondern trägt (unbewusst) dazu bei, dass Produktionsmittel dort eingesetzt werden, wo sie den größten Nutzen stiften.33 Die Wohlfahrt wird so zum Vorteil aller Wirtschaftssubjekte maximiert. Dieser Selbststeuerungsprozess wird auch als „unsichtbare Hand“34 des Marktes oder als „spontane Ordnung“35 bezeichnet. Auch die ergebnisoffenen Wettbewerbskonzepte verfolgen somit im weiteren Sinne das Ziel der Wohlfahrtssteigerung, das durch ein möglichst hohes Maß an Wettbewerb auf den Märkten erreicht werden soll.

Die Wettbewerbspolitik in Deutschland wurde in den 1950er Jahren entscheidend durch das Wettbewerbskonzept des Ordoliberalismus geprägt. Seinen Ursprung hat der Ordoliberalismus in der sogenannten Freiburger Schule, die durch den Wirtschaftswissenschaftler Eucken sowie die Juristen Böhm und Grossman-Doerth begründet wurde.36 Dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule lag die Ansicht zugrunde, dass eine Konzentration von (Markt-)Macht bei einzelnen Marktteilnehmern schädlich sei und durch ein entsprechendes ←24 | 25→Ordnungssystem verhindert werden müsse.37 Dem Kartellrecht komme daher die Aufgabe zu, die Bedingungen für ein Florieren des Wettbewerbs zu erhalten, indem es die Konzentration von Marktmacht bei einzelnen Marktteilnehmern verhindert.38 Ein zentraler Begriff des Ordoliberalismus ist die wirtschaftliche Freiheit der Wirtschaftsteilnehmer als Bestandteil der allgemeinen Freiheit.39 Das Wettbewerbsrecht soll demnach die Handlungsfreiheit des Einzelnen sowohl gegenüber staatlichen Beschränkungen als auch gegenüber dem Einfluss (markt-)mächtiger privater Wirtschaftsteilnehmer schützen.40 Letzteres erklärt sich damit, dass Freiheit in der Regel die Tendenz aufweist, sich selbst zu beschränken, denn die Freiheit der einen Marktteilnehmer, private Macht aufzubauen, ermöglicht es den dann Mächtigen, die Freiheit der übrigen Marktteilnehmer einzuschränken.41 Da eine „gerechte“ Ordnung nicht von selbst entstehe, müsse der Staat gewisse Regeln vorgeben, die der Freiheit der Wirtschaftssubjekte Grenzen setzen.42 Die Vertreter der ordoliberalen Wirtschaftspolitik stellen zwar die Freiheit des einzelnen Wirtschaftssubjektes in den Vordergrund, sind aber der Ansicht, dass diese nur in einem entsprechenden rechtlichen und ordnungspolitischen Rahmen umgesetzt werden kann.43 Durch diese Ordnungspolitik sollen die Rahmenbedingungen für den angestrebten vollständigen Wettbewerb geschaffen werden. Dabei ist dieser vollständige Wettbewerb nicht mit dem Modell des vollkommenen Wettbewerbs gleichzusetzen. Das Modell des vollkommenen Wettbewerbs beschreibt einen statischen Zustand, für den im Wesentlichen kennzeichnend ist, dass es sehr viele, atomistisch kleine Anbieter wie auch Nachfrager gibt, homogene Güter gehandelt werden und auf beiden Marktseiten vollkommene Transparenz herrscht44. Dagegen versteht die Freiburger Schule unter vollkommenem Wettbewerb lediglich einen „Zustand, bei ←25 | 26→dem kein Unternehmen im Markt über die Macht verfügt, andere Marktbeteiligte zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen“45.

Dem Ordoliberalismus im weiteren Sinne wird auch das Werk von Hayeks zugeordnet, für den der Begriff der Freiheit ebenfalls eine zentrale Rolle spielte.46 Er prägte den Begriff des „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren“, wonach es sich beim Wettbewerb um einen dynamischen Prozess handelt, dessen Aufgabe es ist, das auf die einzelnen Wirtschaftsteilnehmer verteilte Wissen zu mobilisieren und zu nutzen.47 Konsequenz dieses Verständnisses des Wettbewerbs als trial and error-Prozesses, bei dem die Marktteilnehmer in einem dynamischen Prozess durch das Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten diejenige finden, die ihre Bedürfnisse am besten befriedigt, ist es, dass die Ergebnisse dieses Prozesses nicht vorausgesehen werden können. Hierin lag für von Hayek die grundlegende Schwäche der traditionellen Mikroökonomie.48

Ein weiteres ergebnisoffenes Wettbewerbskonzept ist das von Hoppmann maßgeblich geprägte Konzept der Neoklassik.49 Auch hier stand die Freiheit der Wettbewerbsteilnehmer im Vordergrund. Darunter verstand Hoppmann zum einen die Freiheit der Wettbewerber beim Einsatz ihrer Wettbewerbsparameter etwa in Form von Wettbewerbsvorstößen (Freiheit im Parallelprozess); zum anderen sollte jedoch auch die Freiheit der Auswahl der Marktpartner auf der Marktgegenseite geschützt werden (Freiheit im Austauschprozess).50

Auch heute wird vielfach die Handlungsfreiheit als Schutzziel des Kartellrechts in den Vordergrund gerückt.51 Eine Wettbewerbsbeschränkung soll ←26 | 27→demnach schon dann vorliegen, wenn die Handlungsfreiheit eines Marktteilnehmers eingeschränkt ist.52

C. Ergebnisorientierte Wettbewerbskonzepte

Dem stehen die ergebnisorientierten Wettbewerbskonzepte gegenüber, die ihre Anfänge in den USA nahmen.

I. Funktionsfähiger Wettbewerb

So entwickelten sich aus der Unzufriedenheit mit den Unzulänglichkeiten des Modells vollkommenen Wettbewerbs zunächst die Industrieökonomik und das Struktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigma, das sich der Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnis widmete.53 Relevante Faktoren für die Marktstruktur seien die Anzahl und Größe der Marktteilnehmer auf beiden Seiten sowie darüber hinaus Marktzutritts- und Marktaustrittsschranken, der Grad der Markttransparenz, die Heterogenität der Produkte sowie die Existenz von Größen- und Verbundvorteilen.54 Das Marktverhalten beschreibe den Einsatz aller im Wettbewerb wichtigen Aktionsparameter durch die Marktteilnehmer.55 Das Marktergebnis werde schließlich durch die am Markt herrschenden Preise und Angebotsmengen, die Höhe der Gewinne, Innovation, Qualität und Produktvielfalt sowie durch die produktive Effizienz bestimmt.56

Anschließend daran entwickelte Clark das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs (workable competition), das eine Abkehr vom Modell eines idealtypischen, in der Realität jedoch kaum anzutreffenden vollkommenen Wettbewerbs und eine Hinwendung zur Untersuchung der Bedingungen eines ←27 | 28→funktionsfähigen Wettbewerbs einleitete.57 Aus der daran anschließenden Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Marktstruktur und Marktergebnis ging in den 1950er und 1960er Jahren in den USA die sog. Harvard School hervor. Ihre Vertreter gingen davon aus, die Wettbewerbspolitik könne verschiedene Ziele wie etwa Allokationseffizienz oder Innovationsförderung aber beispielsweise auch die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen verfolgen, über deren Gewichtung eine politische Entscheidung zu treffen sei (Multi Goal Approach).58 Als Folge forderte sie eine marktstrukturorientierte Wettbewerbspolitik.59

In Deutschland entwickelte Kantzenbach anknüpfend an die Arbeit von Clark ein an den Funktionen des Wettbewerbs orientiertes Konzept.60 Die wesentlichen Funktionen des Wettbewerbs seien die Freiheitsfunktion, die Entdeckungs- bzw. Fortschrittsfunktion, die Anpassungs- bzw. Allokationsfunktion sowie die Verteilungsfunktion.61 Kantzenbach untersuchte insbesondere den Zusammenhang zwischen der Marktstruktur und dem Marktergebnis und kam zu dem Schluss, der optimale Ausgleich zwischen den Wettbewerbsfunktionen werde in der Struktur eines weiten Oligopols erreicht.62

II. Chicago School

Als Gegenpol zur Harvard School entwickelte sich in den 1970er und 1980er Jahren ebenfalls in den USA die sog. Chicago School, zu deren bekanntesten Vertreter Posner und Bork gehören, und die erstmals forderte, die ökonomische Effizienz zum alleinigen Ziel der Wettbewerbspolitik zu machen.63 Allein nach der Effizienz wäre demnach zu beurteilen, ob eine Fusion oder eine bestimmte Verhaltensweise am Markt zulässig sein soll oder nicht. Eine Verhaltensweise stelle demzufolge nur dann einen Verstoß gegen die Wettbewerbsgesetze dar, wenn durch sie ein gesamtwirtschaftlicher Schaden in Form eines Wohlfahrtsverlusts ←28 | 29→verursacht werde. Dabei betrachtete die Chicago School Umverteilungen zwischen den Marktteilnehmern, zum Beispiel eine Steigerung der Produzentenrente auf Kosten der Konsumentenrente, als wettbewerbsrechtlich neutral. Maßgeblich sei vielmehr allein der Gesamtwohlfahrtsstandard.64

Die Effizienz zum alleinigen Maßstab des Kartellrechts zu machen, begründete die Chicago School damit, dass das dem Kartellrecht übergeordnete Ziel ebenfalls wirtschaftliche Effizienz sei. Ein Wettbewerbsmarkt sei gegenüber einem monopolistischen Markt nur deshalb vorzugswürdig, weil er – ökonomisch nachgewiesen – in aller Regel effizienter ist, also ein höheres Maß an Wohlstand bietet.65 Da ökonomische Effizienz unbestreitbar ein gesellschaftlicher Wert und die Rechtfertigung für die Etablierung des Kartellrechts sei, müsse sie zugleich auch die Grenzen des Kartellrechts bestimmen.66 Wenn der Wettbewerb deshalb schützenswert sei, weil er zu Effizienzen führe, so verbiete sich folglich sein Schutz in den Fällen, in denen Wettbewerb – aus welchen Gründen auch immer – nicht effizienzsteigernd ist.

D. Der Effizienzbegriff im Wettbewerbsrecht

Im Folgenden sollen die ökonomischen Grundlagen, die zur Begründung der Effizienzorientierung des Kartellrechts herangezogen werden, kurz dargestellt werden. Effizienz meint in diesem Zusammenhang nicht die Erreichung eines vorgegebenen Ziels mit möglichst geringem Aufwand, sondern die Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstands (sog. ökonomischer Effizienzbegriff).67 Eine solche Wohlfahrtssteigerung kann sich dabei aus verschiedenen Aspekten ergeben. Sie kann zunächst – im Sinne einer statischen Effizienz – dadurch eintreten, dass die vorhandenen Ressourcen und Produktionsmittel dort eingesetzt werden, wo sie den größten wirtschaftlichen Nutzten bringen (Allokations- und Produktionseffizienz).68 Sie kann aber auch in Form einer dynamischen Effizienz entstehen, indem das Know-how verbessert, der technische Fortschritt ←29 | 30→vorangetrieben und neue Güter entwickelt werden.69 Anhand dieser Effizienzbegriffe lassen sich verschiedene Marktformen miteinander vergleichen.

I. Allokative Effizienz

Allokative Effizienz setzt voraus, dass die in einer Volkswirtschaft vorhandenen Ressourcen – bei gegebenen Produkten und Produktionsfaktoren – dort eingesetzt werden, wo sie den größten wirtschaftlichen Nutzen stiften.70 Ein monopolistischer Markt zeichnet sich im Vergleich zu einem Wettbewerbsmarkt in aller Regel durch höhere Preise und durch ein geringeres Warenangebot aus. Dies führt zu einer Unterversorgung der Konsumenten und damit auch dazu, dass die Ressourcen eines Marktes nicht ausgenutzt und nicht alle Tauschgewinne realisiert werden. Es kommt zu Allokationsineffizienz und somit zu einem wirtschaftlich nachteiligen Marktergebnis.71

1. Vollkommener Wettbewerbsmarkt

Um dies zu verdeutlichen, wird im Folgenden zunächst die Allokation auf einem vollkommenen Wettbewerbsmarkt erläutert. Ein solcher setzt einen Markt für ein homogenes Gut voraus, auf dem es so viele Anbieter und Nachfrager gibt, dass beide Seiten davon ausgehen, durch ihr jeweiliges Verhalten keinen Einfluss auf den Preis des angebotenen Gutes nehmen zu können.72 Sowohl Anbieter als auch Nachfrager sind demnach Preisnehmer. Darüber hinaus soll auf dem Markt vollständige Information herrschen und es darf keine Transaktionskosten, öffentliche Güter73 oder externe Effekte in Form von zunehmenden ←30 | 31→Skalenerträgen oder Verbundvorteilen geben.74 Obwohl das statische Konzept des vollkommenen Wettbewerbs mit seinen sehr restriktiven Voraussetzungen insoweit nachteilig ist, dass diese Voraussetzungen zum einen in der Realität kaum je erfüllt sein werden und dass zum anderen keine innovativen Veränderungen berücksichtigt werden können75, dient es auch weiterhin als Bezugspunkt der Wohlfahrtsökonomik.76

a. Das Pareto-Kriterium

Unter den Bedingungen vollkommenen Wettbewerbs stellt sich ein vollständiges Gleichgewicht ein, in dem die Allokation Pareto-optimal ist.77 Nach dem Pareto-Kriterium ist ein Zustand A einem Zustand B vorzuziehen, wenn mindestens ein Individuum A vorzieht und keines B vorzieht. Eine Güterverteilung ist also dann Pareto-optimal, wenn es keinen anderen Zustand gibt, durch den mindestens ein Individuum besser gestellt wird, ohne dass ein anderes dadurch schlechter gestellt wird.78 Dabei bleibt die Verteilungsgerechtigkeit der Güter jedoch außer Acht. Eine Umverteilung von Gütern ist nach dem Maßstab des Pareto-Kriteriums nicht möglich, denn sie bedeutet immer eine Schlechterstellung mindestens eines Individuums, das durch die Umverteilung benachteiligt wird.79 Demnach ist die Endverteilung der Güter in einem Pareto-optimalen Zustand immer stark von ihrer Anfangsverteilung abhängig. Auch eine „extrem ungleiche und daher als ungerecht empfundene Verteilung“80 kann unter dem Maßstab des Pareto-Kriteriums effizient sein. Dennoch ist es gerechtfertigt, das Pareto-Kriterium zum Maßstab der Allokationseffizienz zu machen, denn hier wird lediglich nach der Effizienz der Ressourcenverteilung und nicht nach der ←31 | 32→Verteilungsgerechtigkeit gefragt.81 Hierin liegt gerade der Vorteil des Pareto-Kriteriums, denn es „ermöglicht die getrennte theoretische Behandlung von Allokation und Verteilung“82. Es kann also, abhängig von einer unterschiedlichen Ausgangsverteilung der Güter, unterschiedliche Pareto-optimale Verteilungen geben. Zwischen ihnen kann anhand des Pareto-Kriteriums keine Wertung vorgenommen werden.83 Das Pareto-Kriterium geht vielmehr von der Unmöglichkeit eines interpersonellen Nutzenvergleichs aus.84

b. Produzentenrente, Konsumentenrente und sozialer Überschuss

Von dem Pareto-Kriterium zu unterscheiden sind die Begriffe der Konsumentenrente, der Produzentenrente und des sozialen Überschusses. Die Konsumentenrente ist die Differenz zwischen dem Wert, den ein Konsument einem Gut zumisst, also dem Preis, den er maximal zu zahlen bereit wäre (Reservationspreis), und dem tatsächlich gezahlten Preis.85 Die Produzentenrente ist dagegen der Gewinn, den ein Unternehmen durch den Verkauf eines Gutes erzielt, also die Differenz zwischen Preis und Kosten.86 Der soziale Überschuss ist die Summe aus Konsumenten- und Produzentenrente und beschreibt die Wohlfahrtssteigerung, die in einer Gesellschaft insgesamt durch die Bereitstellung des betreffenden Gutes erzielt wird.87

Eng damit verknüpft sind die Begriffe des Gesamtwohlfahrtsstandards (total welfare standard) und des Konsumentenwohlfahrtsstandards (consumer welfare standard). Sie betreffen die Frage, welches Ziel mit der effizienzorientierten Wettbewerbspolitik verfolgt werden soll.88. Die Gesamtwohlfahrt beurteilt die ←32 | 33→Summe von Produzenten- und Konsumentenrente auf einem einzelnen Markt.89 Eine bloße Umverteilung eines Teils der Rente von den Konsumenten zu den Produzenten oder umgekehrt wird hierbei als neutral angesehen und wirkt sich somit nicht auf die Bewertung aus. Der Maßstab des Gesamtwohlfahrtsstandards wird teilweise mit dem in Abwendung von dem Pareto-Kriterium entwickelten Kaldor-Hicks-Kriterium gleichgesetzt.90 Danach ist ein Zustand A einem Zustand B vorzuziehen, wenn die Vorteile, die durch den Zustand A gegenüber B erzielt werden, größer sind als die entsprechenden Nachteile. Entgegen dem Pareto-Kriterium kann danach auch ein Zustand effizienter sein, durch den einige Wirtschaftsteilnehmer schlechter gestellt werden, solange nur die Gewinne insgesamt größer sind als die Verluste, die Gewinner also die Verlierer theoretisch kompensieren können.91 Eine tatsächliche Kompensation der Verlierer durch die Gewinner ist jedoch nicht erforderlich. Für die Superiorität ausreichend ist vielmehr, dass sie möglich wäre.92

Nach dem Konsumentenwohlfahrtsstandard wird dagegen eine derartige, durch Marktmacht begründete Umverteilung zu Lasten der Konsumenten für wettbewerbspolitisch nicht wünschenswert erachtet. Unter Maßgabe des Konsumentenwohlfahrtsstandards kommt es daher für die Beurteilung der Effizienz allein auf deren Auswirkungen auf die Konsumentenrente an.93 Ein Verhalten kann also nur durch eine Wohlfahrtssteigerung gerechtfertigt werden, wenn nicht nur die Unternehmen, sondern (auch) die Konsumenten davon profitieren.94 Dies ist dann der Fall, wenn entweder bei gleichbleibender Qualität die Preise fallen oder die Qualität der Produkte verbessert wird.95

←33 | 34→
c. Das allgemeine Gleichgewicht auf einem vollkommenen Wettbewerbsmarkt

Der Gewinn eines Unternehmens ergibt sich aus dem Erlös eines Produkts abzüglich der Kosten. Sowohl Erlös als auch Kosten können in Kurven dargestellt werden, die jeweils von Preis und Menge abhängen. Der Gewinn eines Unternehmens wird dabei durch den Abstand zwischen beiden Kurven dargestellt. Er ist am größten, wenn die Steigung der Kurven gleich ist. Die Steigung der Erlöskurve gibt den Grenzerlös (GE) an. Das ist der Erlös, der aus einer zusätzlich produzierten Einheit des Gutes resultiert. Die Steigung der Kostenkurve bemisst die Grenzkosten (GK), also die Kosten einer zusätzlich produzierten Einheit. Wenn beide gleich groß sind, ist die Differenz zwischen Erlös und Kosten eines Produkts bei gegebenem Preis (P) maximal. Das Unternehmen macht also den unter den herrschenden Bedingungen größten Gewinn. Daher wählt ein Unternehmen mit dem Ziel der Gewinnmaximierung den Preis bzw. die Outputmenge so, dass der Grenzerlös den Grenzkosten entspricht. Dies gilt unabhängig davon, ob es auf einem Wettbewerbsmarkt oder auf einem Monopolmarkt agiert.

Während üblicherweise Nachfragekurven fallend verlaufen, bei einem höheren Preis also eine geringere Menge des Gutes nachgefragt wird, ist dies auf einem vollkommenen Wettbewerbsmarkt für ein einzelnes Unternehmen betrachtet nicht der Fall. Hier sieht es sich einer horizontalen Nachfragekurve gegenüber. Die von ihm produzierte Menge hat hier, auf den ganzen Markt bezogen, keine Auswirkungen auf den Preis des Produkts. Das Unternehmen kann also beispielsweise statt 1000 Einheiten zum Preis von je 10 €, 2000 Einheiten verkaufen und erhält dafür immer noch einen Preis von 10 € pro Wareneinheit. Durch den Verkauf einer zusätzlichen Einheit steigt also der Erlös des Unternehmens jeweils um 10 €. Das führt dazu, dass auf einem solchen Markt der Grenzerlös gleich dem Preis ist. Wenn das Unternehmen nun gewinnmaximierend agiert, also eine Outputmenge wählt, bei der die Grenzkosten dem Grenzerlös entsprechen, so ist auf einem vollkommenen Wettbewerbsmarkt auch gleichzeitig der Grenzerlös gleich dem Preis. Es gilt

Details

Seiten
340
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631785263
ISBN (ePUB)
9783631785270
ISBN (MOBI)
9783631785287
ISBN (Paperback)
9783631784143
DOI
10.3726/b15420
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
Informationsaustausch Kartellverbot Informationsasymmetrie Risikoinformationen Marktabgrenzung Adverse Selektion Moralisches Risiko
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 340 S.

Biographische Angaben

Sarah Vogel (Autor:in)

Sarah Vogel studierte Rechtswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, wo sie auch promoviert wurde. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf.

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Titel: Die Vorversichereranfrage
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