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Betreuung und Prozessrecht

Die Auswirkungen der Betreuerbestellung im Zivilprozess, im Strafverfahren sowie im Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess

von Franziska Gesche (Autor:in)
©2019 Dissertation 240 Seiten

Zusammenfassung

Die Betreuung als Rechtsinstitut lässt sich als staatlich geordnete Fürsorge für Erwachsene charakterisieren, die im Bereich der eigenständigen und eigenverantwortlichen Erledigung ihrer Angelegenheiten Defizite aufweisen. Eine Anordnung von Betreuung führt vielfach dazu, dass sich die Komplexität des Verfahrensrechtsverhältnisses erhöht und die Betreuerbestellung die bestehenden prozessualen Handlungsbefugnisse modifiziert. Schwerpunkte der vorliegenden Publikation sind die prozessualen Folgen der Betreuung, die Verortung des Instituts im Verfassungsgefüge, die Auswirkungen der Betreuerbestellung im Kontext unterschiedlicher Prozess- und Verfahrensarten, sowie insbesondere die Rechte und Pflichten des Betreuers in der jeweiligen Verfahrungsordnung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Gliederung
  • A. Einleitung
  • B. Grundlinien des Rechtsinstituts der Betreuung
  • I. Die Vorgängerinstitute: Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft
  • 1. Die Vormundschaft
  • 2. Die Gebrechlichkeitspflegschaft
  • II. Rechtsinstitut der Betreuung
  • 1. Grundgedanken des Betreuungsgesetzes
  • 2. Grundzüge des geltenden Betreuungsrechts
  • a. Materiell-rechtliche Voraussetzungen der Betreuerbestellung
  • aa. Medizinische Voraussetzungen
  • bb. Betreuungsbedürftigkeit
  • cc. Erforderlichkeit der Betreuung
  • i. Bestehen eines konkreten Betreuungsbedarfs
  • ii. Fehlen hilfsbereiter Dritter: Subsidiaritätsgrundsatz
  • dd. Kein entgegenstehender freier Wille
  • b. Rechtsfolge: Der Betreuer als gesetzlicher Vertreter des Betreuten
  • aa. Beginn, Ende und Umfang der gesetzlichen Vertretung
  • bb. Abgrenzung zum Innenverhältnis
  • c. Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen eines Einwilligungsvorbehaltes
  • d. Die formell-rechtlichen Voraussetzungen der Betreuungsanordnung
  • e. Die Betreuungsentscheidung
  • aa. Auswahl des Betreuers
  • bb. Bezeichnung der Aufgabenkreise (§ 286 Abs. 1 Nr. 1 FamFG)
  • C. Die verfassungsrechtlichen Determinanten des Betreuungsrechtsverhältnisses
  • I. Fürsorgeauftrag des Staates
  • II. Betreuung als Eingriff in die Freiheitsgrundrechte des Betroffenen
  • 1. Betreuungsrechtliche Maßnahmen als Grundrechtseingriff
  • a. Die Grundrechtsfähigkeit der Betroffenen
  • b. Die Grundrechtsmündigkeit der Betroffenen
  • aa. Die Grundrechtsmündigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
  • bb. Die Grundrechtsmündigkeit in der Literatur
  • cc. Eigene Position
  • c. Elaborierte betreuungsrechtliche Position von Lipp
  • 2. Die gerichtliche Anordnung der Betreuung als Grundrechtseingriff
  • a. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)
  • b. Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)
  • c. Sonstige Grundrechte
  • 3. Schutz vor sich selbst als legitimer Zweck eines Grundrechtseingriffs
  • 4. Grundrechtsbindung des Betreuers
  • 5. Die Einwilligung des Betroffenen
  • D. Die Betreuung im Zivilprozess
  • I. Die Prozessfähigkeit des Betreuten
  • 1. Prüfung der Prozessfähigkeit im Verfahren
  • 2. Geschäftsfähigkeit als Voraussetzung der Prozessfähigkeit
  • 3. Folgen der Prozessunfähigkeit
  • 4. Betreuungsanordnung und Geschäftsfähigkeit
  • a. Geschäftsfähigkeit bei Betreuung ohne Einwilligungsvorbehalt
  • b. Geschäftsfähigkeit bei Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt
  • 5. Betreuungsanordnung und Prozessfähigkeit
  • a. Prozessfähigkeit des nicht unter Einwilligungsvorbehalt stehenden Betreuten
  • b. Prozessfähigkeit des unter Einwilligungsvorbehalt stehenden Betreuten
  • aa. Prozessfähigkeit bei nicht einwilligungspflichtigem Aufgabenkreis
  • bb. Prozessfähigkeit bei einwilligungspflichtigem Aufgabenkreis
  • i. Prozessfähigkeit bei Einwilligungsfreiheit nach § 1903 Abs. 3 S. 1 BGB: lediglich rechtlich vorteilhafte Willenserklärungen
  • ii. Prozessfähigkeit bei Einwilligungsfreiheit nach § 1903 Abs. 3 S. 2 BGB: geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens
  • iii. Prozessfähigkeit bei Ermächtigungen nach §§ 112, 113 BGB
  • iv. Prozessfähigkeit bei Einwilligung des Betreuers
  • 6. Zwischenergebnis
  • II. Der Betreuer als prozessualer Vertreter
  • 1. Die Vertretung des iSd § 52 ZPO prozessunfähigen Betreuten
  • a. Notwendigkeit der Vertretung durch den Betreuer
  • b. Umfang der Amtsermittlungspflicht
  • aa. Hinsichtlich der Geschäftsfähigkeit des Betreuten
  • bb. Hinsichtlich der Reichweite der prozessualen Vertretungsmacht des Betreuers
  • 2. Die Vertretung des iSd § 52 ZPO prozessfähigen Betreuten: § 53 ZPO
  • a. Die Voraussetzungen des § 53 ZPO
  • aa. Prozessfähige Person
  • bb. Betreuer
  • i. Bestellung durch das Betreuungsgericht
  • ii. Kompetenz der Prozessgerichte zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Betreuerbestellung
  • cc. Vertreten-werden
  • i. Vertreten als Ansichziehen der Prozessführung: Von der Notwendigkeit einer Übernahmeerklärung durch den Betreuer
  • 1). Wortlaut
  • 2). Entstehungsgeschichte
  • 3). Systematische Auslegung
  • 4). Teleologische Auslegung
  • 5). Verfassungskonforme Auslegung
  • ii. Anforderungen an die Übernahmeerklärung
  • dd. Handeln im übertragenen Aufgabenkreis
  • i. Bestimmung des Aufgabenkreises in Ansehung des Prozessgegenstandes
  • ii. Sonderfall: Explizite Zuweisung der Vertretung
  • iii. Unbeachtlichkeit eines entgegenstehenden Willens des Betreuten
  • b. Die Rechtswirkungen des § 53 ZPO
  • aa. Auswirkungen auf den Betreuten
  • i. Prozessuale Auswirkungen: Fiktion der Prozessunfähigkeit
  • 1). Sachliche Reichweite der Prozessunfähigkeit
  • 2). Zeitliche Reichweite der Prozessunfähigkeit
  • ii. Genehmigungsfähigkeit unwirksamer Prozesshandlungen
  • iii. Materiell-rechtliche Auswirkungen
  • bb. Wirkung für den Betreuer: Stellung eines gesetzlichen Vertreters iSd ZPO
  • cc. Auswirkungen auf bereits vorgenommene Prozesshandlungen
  • c. Bindung des Prozessgerichts an die Übernahmeerklärung
  • d. Prüfung von Amts wegen
  • III. Rechte und Pflichten des Betreuers im Prozess
  • 1. Betreuer als Adressat der Partei- und Zeugenvernehmung
  • 2. Betreuer als Adressat der persönlichen Anhörung
  • 3. Genehmigung von Prozesshandlungen
  • 4. Anspruch eines Betreuers auf Akteneinsicht vor Übernahme des Prozesses
  • 5. Beiordnung des Betreuers als Prozessbevollmächtigter im PKH-Verfahren
  • 6. Ausübung prozessualer Zeugnisverweigerungsrechte des Betroffenen durch den Betreuer
  • 7. Das Zeugnisverweigerungsrecht des Betreuers
  • IV. Betreuer als Zustellungsadressat im Zivilprozess
  • V. Mitteilungspflichten des Prozessgerichts
  • E. Die Betreuung im Strafverfahren
  • I. Der Betreute als Angeklagter
  • 1. Verhandlungsfähigkeit des Betreuten
  • 2. Betreuer als Beistand iSd § 149 StPO
  • a. Der Begriff des gesetzlichen Vertreters iSd § 149 Abs. 2 StPO
  • aa. Wortlaut
  • bb. Entstehungsgeschichte
  • cc. Systematik
  • dd. Teleologische Auslegung
  • ee. Zwischenergebnis
  • b. Der Betreuer als gesetzlicher Vertreter iSd § 149 Abs. 2 StPO
  • aa. Zulässigkeit strafprozessbezogener Aufgabenkreise: Subsidiarität der Betreuung gegenüber dem Institut der notwendigen Verteidigung?
  • bb. Zugewiesener Aufgabenkreis und § 149 Abs. 2 StPO
  • c. Die Rechte des Beistandes iSd § 149 Abs. 2 StPO
  • d. Zulassungsverfahren nach § 149 StPO
  • e. Zusammenfassung
  • 3. Rechtsmittelberechtigung des Betreuers
  • a. Die fehlende Geschäftsfähigkeit des Beschuldigten als ungeschriebene Voraussetzung des § 298 StPO
  • b. Rechtsmitteleinlegung durch den Betreuer
  • 4. Verteidigerwahl durch Betreuer nach § 137 Abs. 2 StPO
  • 5. Zustellung und Mitteilung an den Betreuer
  • 6. Der Betreuer als Zeuge
  • II. Der Betreute als Zeuge
  • 1. Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts (§ 52 StPO) durch den Betreuer
  • 2. Das Untersuchungsverweigerungsrecht (§ 81c StPO)
  • III. Der Betreute als Geschädigter
  • 1. Die Strafantragsberechtigung des Betreuers
  • a. Die Strafantragsberechtigung des gesetzlichen Vertreters nach § 77 Abs. 3 StGB
  • b. Anwendung des § 77 Abs. 3 StGB bei bestehender Betreuung
  • aa. Geschäftsunfähigkeit des Betreuten
  • bb. Der Betreuer als gesetzlicher Vertreter iSd § 77 Abs. 3 StGB
  • i. Gesetzlicher Vertreter
  • ii. In persönlichen Angelegenheiten
  • 1). Nur für die Vermögenssorge bestellt
  • 2). Für die gesamte Personensorge bestellt
  • 3). Problem des nur für Teilaspekte der Personensorge bestellten Betreuers: Gesetzlicher Vertreter iSd § 77 Abs. 3 StGB durch betreuungsgerichtliche Einräumung der Strafantragsbefugnis
  • a). Funktionale Auslegung des § 77 Abs. 3 StGB
  • b). Notwendigkeit einer expliziten Übertragung der Strafantragsbefugnis
  • c). Konkludente Übertragung der Strafantragsbefugnis
  • c. Antragsfrist
  • d. Wirksame Strafantragstellung ohne oder gegen den Willen des betreuten Verletzten
  • e. Handlungsdirektive des Betreuers bei der Entscheidung der Strafantragstellung
  • 2. Der Betreuer als Vertreter im Privatklageverfahren
  • a. Prozessfähigkeit des Privatklägers als Privatklagevoraussetzung
  • b. Der Betreuer als gesetzlicher Vertreter des prozessunfähigen Privatklägers
  • 3. Der Betreuer als Vertreter in der Nebenklage
  • 4. Der Betreuer als Vertreter im Adhäsionsverfahren
  • F. Die Betreuung im Verwaltungsverfahren
  • I. Die Beteiligungsfähigkeit des Betreuten
  • II. Die verwaltungsverfahrensrechtliche Handlungsfähigkeit des Betreuten
  • 1. Grundlagen zur verwaltungsverfahrensrechtlichen Handlungsfähigkeit
  • 2. Die Handlungsfähigkeit des Betreuten ohne Einwilligungsvorbehalt
  • 3. Handlungsfähigkeit des unter Einwilligungsvorbehalt stehenden Betreuten
  • 4. Fehlende Handlungsfähigkeit und Heilung
  • III. Betreuer als gesetzlicher Vertreter im Verwaltungsverfahren
  • IV. Bestellung eines Vertreters von Amts wegen (§ 16 VwVfG)
  • 1. Besondere Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG
  • 2. Verfahrensbezogene Voraussetzungen
  • 3. Rechte und Pflichten eines bestellten Vertreters
  • 4. Auswirkungen der Vertreterbestellung auf die Handlungsfähigkeit
  • V. Anhörungspflicht des Betreuers und Betreuten nach § 28 VwVfG
  • VI. Akteneinsichtsrecht des Betreuers nach § 29 VwVfG
  • VII. Bekanntgabe von Verwaltungsakten
  • 1. Förmliche Bekanntgabe nach dem VwZG
  • a. Zustellung an Geschäftsunfähige und beschränkt Geschäftsfähige (§ 6 Abs. 1 S. 1 VwZG)
  • b. Zustellung an Betreute (§ 6 Abs. 1 S. 2 VwZG)
  • 2. Formlose Bekanntgabe nach dem VwVfG
  • 3. Möglichkeit der Heilung bei fehlerhafter Bekanntgabe
  • a. Heilung nach § 8 VwZG (analog) durch Kenntnisnahme des Betreuers
  • b. Heilung durch Genehmigung
  • c. Heilung durch „rügelose Einlassung“ des Betreuers
  • d. Heilung infolge Aufhebung der Betreuung
  • G. Die Betreuung im Verwaltungsprozess
  • I. Die Prozessfähigkeit im Verwaltungsprozess
  • II. Die Vertretung durch den Betreuer
  • III. Der Betreuer als Zustellungsadressat
  • IV. Rechte und Pflichten des Betreuers im Verwaltungsprozess
  • Thesen
  • Literaturverzeichnis

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A.  Einleitung

1   Diese Arbeit macht die prozessualen Folgen der Betreuung zum Gegenstand der Betrachtung. Die Anordnung einer Betreuung führt vielfach dazu, dass sich die Komplexität des Verfahrensrechtsverhältnisses erhöht. Hierfür ist schon allein der Umstand verantwortlich, dass ein weiterer Akteur, der Betreuer, mit zu bedenken ist. Darüber hinaus modifiziert die Betreuerbestellung vielfach auch die bestehenden prozessualen Handlungsbefugnisse. Ob der Betreute selbst wirksam handeln oder ob ihm gegenüber wirksam gehandelt werden kann, ist klärungsbedürftig.

2   Analysiert werden wesentliche Fragestellungen in verschiedensten Prozess- und Verfahrensordnungen. Dabei ist Selbstbeschränkung notwendig. Nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist das betreuungsgerichtliche Verfahren selbst, da das Erkenntnisinteresse bei den Auswirkungen auf die nicht-betreuungsrechtlichen Verfahren liegt. Aber auch insoweit ist eine Selektion notwendig. Betrachtet werden die „großen“ Verfahrensordnungen. Ausgeklammert sind besondere Gerichtsordnungen (ArbGG, FGO, SGG etc.) als auch spezielle Verwaltungsverfahrensordnungen (SGB X, AsylVfG etc.). Die Analysen erschöpfen dabei auch nicht alle denkbaren Fragestellungen. Es werden die essentiellen Problemfälle der Praxis abgehandelt.

3   Am Anfang werden die Grundlagen des Betreuungsrechts dargestellt, da dies notwendig ist, um die Funktion der betreuungsbezogenen Verfahrensvorschriften zu verstehen. Insoweit wird die Schutzfunktion des Betreuungsrechts bestimmt, die sich im Prozessrecht fortsetzt. Daran schließt sich die Verortung des Instituts der Betreuung im Verfassungsgefüge an, da insoweit maßgebliche Impulse für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu gewinnen sind. Die verfassungsrechtliche Betrachtung und Bewertung zeigt dabei par excellence das im Institut der Betreuung angelegte Spannungsverhältnis von Schutz und Beschränkung des Betroffenen. Daran schließt sich die Analyse der einzelnen Verfahrensordnungen an. Betrachtet werden der Zivilprozess, der Strafprozess, das verwaltungsbehördliche Verfahren und das Verwaltungsgerichtsverfahren. ← 17 | 18 →

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B.  Grundlinien des Rechtsinstituts der Betreuung

4   Die Betreuung als Rechtsinstitut lässt sich holzschnittartig und für eine erste Annäherung kennzeichnen als staatlich geordnete Fürsorge für Erwachsene, die im Bereich der eigenständigen und eigenverantwortlichen Erledigung ihrer Angelegenheiten Defizite aufweisen. Das Institut der Betreuung ist relativ jungen Datums, es besteht erst seit 1992. Der zu regelnde Lebenssachverhalt ist jedoch keine Erscheinung der modernen Gesellschaft. Dass erwachsene Menschen ihre eigenen Angelegenheiten allein nicht mehr angemessen bewältigen können, ist ein seit alters bekanntes Phänomen. Schon immer gab es erwachsene Menschen, die infolge ihres geistigen und/oder körperlichen Zustandes auf den Schutz und die Unterstützung anderer angewiesen waren. Neu ist lediglich die stetig steigende Dichte der Anwendungsfälle infolge des medizinischen Fortschritts. Dieser führt zu einer erheblichen Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung – aber auch zu den damit einhergehenden Beeinträchtigungen. Da es sich um eine altbekannte Problemlage handelt, verwundert es nicht, dass das Institut der Betreuung Vorläufer hat. Da die Betreuung als Rechtsinstitut gerade zur Beseitigung der Schwächen der Vorläuferinstitute eingeführt wurde, sollen diese in einem kurzen Abriss vorgestellt werden. Vor diesem Hintergrund ist dann das Betreuungsrecht selbst zu entfalten.

I.  Die Vorgängerinstitute: Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft

5   Das BGB stellte bei seinem Inkrafttreten am 01.01.1900 bis zum Inkrafttreten des Betreuungsgesetzes am 01.01.1992 zwei Institute für die Hilfe für fürsorgebedürftige Volljährige bereit: die Erwachsenenvormundschaft (§§ 1896–1908 BGB a.F.) und die Gebrechlichkeitspflegschaft (§§ 1910, 1915, 1919, 1920 BGB a.F.).1 Leitbild der Regelungen zur Vormundschaft über Erwachsene und der Gebrechlichkeitspflegschaft waren die Bestimmungen des Rechts der elterlichen Sorge.2 Dies zeigte sich gesetzestechnisch an dem Verweis beider Institute auf die Regelungen über die Vormundschaft über Minderjährige (vgl. § 1897 S. 1 BGB a.F. sowie § 1915 Abs. 1 i.V.m. § 1897 S. 1 BGB a.F.). Die Vormundschaft erstreckte sich auf alle Angelegenheiten des Betroffenen; die Gebrechlichkeitspflegschaft auf einzelne Angelegenheiten, die der Betroffene infolge eines Gebrechens nicht zu besorgen vermochte.3 Schon unter diesem Gesichtspunkt wird unmittelbar einsichtig, dass die Vormundschaft das eingriffsintensivere Institut war. ← 19 | 20 →

1.  Die Vormundschaft

6   Die Anordnung der (endgültigen)4 Vormundschaft setzte gemäß § 1896 BGB a.F. die vorgängige Entmündigung des Betroffenen voraus. Die Voraussetzungen der Entmündigung regelte § 6 BGB a.F., die Wirkungen ergaben sich aus den §§ 104 ff. BGB a.F. und das Verfahren bestimmte sich nach §§ 645 ff. ZPO a.F.5

7   Materielle Grundlage der Entmündigung war § 6 Abs. 1 BGB a.F. Dieser regelte, wegen welcher Gründe ein Erwachsener (und auch ein Minderjähriger6) entmündigt werden konnte.7 Danach konnte entmündigt werden, wer infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermochte (Nr. 1), durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzte (Nr. 2), wer infolge der Trunksucht oder Rauschgiftsucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermochte oder sich und seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzte oder die Sicherheit anderer gefährdete (Nr. 3). Die Anordnung der Entmündigung wurde als rechtsgestaltender Staatsakt gedeutet, der den Wegfall oder die Beschränkung der Geschäftsfähigkeit zur Folge hatte.8 Die Entmündigung bewirkte die konstitutive Aufhebung oder Beschränkung der Geschäftsfähigkeit. Während die Entmündigung wegen Geisteskrankheit die Geschäftsunfähigkeit zur Folge hatte (§ 104 Nr. 3 BGB a.F.), bewirkte die Entmündigung aus den anderen genannten Gründen eine Beschränkung der Geschäftsfähigkeit, indem nach § 114 BGB a.F. der Betroffene seinem rechtsgeschäftlichen Status nach einem Minderjährigen gleichgestellt wurde, der das siebten Lebensjahr vollendet hat.9 Die Entmündigung bewirkte die Testierunfähigkeit des Entmündigten (§ 2229 Abs. 3 S. 1 BGB a.F.). In den Fällen der Entmündigung wegen Geisteskrankheit folgte aus der Geschäftsunfähigkeit die Eheunfähigkeit (vgl. § 2 EheG a.F.10). In der aus anderen Gründen angeordnete Entmündigung bedurfte der Betroffene hingegen der Einwilligung seines Vormundes (§ 3 Abs. 1 EheG a.F.). Weiter war der Entmündigte vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen (§§ 13, 15 BWahlG a.F.). Die Entmündigung wurde überdies sowohl in das Bundeszentralregister (§ 9 Abs. 1 BZRG a.F.) als auch in das Führungszeugnis (§ 32 Abs. 1 BZRG a.F.) eingetragen.11

8   Die Entmündigung konnte nur auf Antrag erfolgen. Der Betroffene selbst konnte den Antrag nicht stellen.12 Die Antragsberechtigung war differenziert nach den ← 20 | 21 → Entmündigungsgründen ausgestaltet (vgl. § 646 ZPO a.F.). Vollumfänglich antragsberechtigt waren der Ehegatte, Verwandte und der sorgeberechtigte gesetzliche Vertreter. Die Staatsanwaltschaft war hinsichtlich § 6 Nr. 1 BGB a.F. antragsberechtigt und die nach Landesrecht bestimmte zuständige Behörde hinsichtlich des § 6 Nr. 3 BGB a.F. Zuständig für das Entmündigungsverfahren war das Prozessgericht, nicht das Vormundschaftsgericht.13 Auf das Entmündigungsverfahren fand das streitige ZPO-Verfahren Anwendung.14

9   Da die Entmündigung zur Geschäftsunfähigkeit oder beschränkten Geschäftsfähigkeit führte, mussten flankierende Regelungen getroffen werden, damit der Betroffene als Rechtssubjekt handlungsfähig blieb. Dies erfolgte über das Institut der Vormundschaft, mit dem eine Person zum Vormund des Betroffenen bestellt wurde. Das Vormundschaftsgericht hatte zur Überwindung der aufgehobenen bzw. beschränkten Geschäftsunfähigkeit von Amts wegen die endgültige Vormundschaft anzuordnen und dem Entmündigten einen Vormund zu bestellen.15 Rechtsfolge der Entmündigung war mithin nicht, dass kraft Gesetzes eine Vormundschaft als Folge der Entmündigung entstand. Die Vormundschaft bedurfte vielmehr eines eigenständigen Rechtsaktes des Vormundschaftsgerichts.16 Entsprechend dem Leitbild der elterlichen Sorge hatte der Vormund die umfassende gesetzliche Vertretungsmacht für alle Angelegenheiten und das tatsächliche Sorgerecht für die Person und das Vermögen des Mündels (§§ 1897, 1793, 1626 Abs. 2 BGB a.F.).17 Dies bedeutete, dass der Vormund zum (volljährigen) Mündel in einem Überordnungsverhältnis stand, welches ihn dazu befugte, Anordnungen ohne Rücksicht darauf zu treffen, ob das Mündel damit einverstanden war oder nicht.18

2.  Die Gebrechlichkeitspflegschaft

10   Neben der Erwachsenenvormundschaft gab es als Form der Erwachsenenfürsorge noch die Gebrechlichkeitspflegschaft. Die materiellen Anordnungsvoraussetzungen regelte § 1910 BGB a.F.

11   Die Anordnung der Gebrechlichkeitspflegschaft setzte voraus, dass der Betroffene nicht bereits unter Vormundschaft stand und infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen einzelne seiner Angelegenheiten oder einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten nicht zu besorgen vermochte (§ 1910 Abs. 2 BGB a.F.). Im Unterschied zur Vormundschaft durfte sich die Pflegschaft nur auf diejenigen Angelegenheiten erstrecken, für die ein Fürsorgebedürfnis bestand. Dabei konnte die Pflegschaft für ← 21 | 22 → geistig Gebrechliche im Gegensatz zur Pflegschaft für körperlich Gebrechliche keine Totalpflegschaft sein. Die Gebrechlichkeitspflegschaft durfte gemäß § 1910 Abs. 3 BGB a.F. nur mit Einwilligung des Gebrechlichen angeordnet werden, es sei denn, dass eine Verständigung mit diesem nicht möglich war. Dabei wurde die Anordnung der Pflegschaft ohne Einwilligung des Gebrechlichen (sog. Zwangspflegschaft) von der Rechtsprechung nicht nur für zulässig gehalten, wenn eine Verständigung mit dem Gebrechlichen tatsächlich unmöglich war, sondern auch dann, wenn diese infolge seiner (partiellen) Geschäftsunfähigkeit rechtlich unmöglich war.19 Nach der überwiegend vertretenen Ansicht erforderte die Anordnung einer Gebrechlichkeitspflegschaft über die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1910 BGB hinaus ein Schutz- und Fürsorgebedürfnis aus der Sicht des Betroffenen.20 Die Anordnung musste zumindest auch im Interesse des Pfleglings selbst liegen; eine ausschließlich drittnützige Anordnung kam nicht in Betracht.21

12   Die Anordnung der Gebrechlichkeitspflegschaft setzte keinen Antrag voraus, sondern erfolgte von Amts wegen.22 Im Unterschied zur Vormundschaft erfolgte die Anordnung der Gebrechlichkeitspflegschaft in einem einheitlichen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit.23 Zuständig war das Vormundschaftsgericht.24 Lagen die Voraussetzungen der Gebrechlichkeitspflegschaft vor, hat das Vormundschaftsgericht die Pflegschaft angeordnet und einen Pfleger unter gleichzeitiger Bestimmung des Aufgabenkreises bestellt.25

13   Die Anordnung der Gebrechlichkeitspflegschaft, insbesondere auch in Form der Zwangspflegschaft, hatte keine Auswirkungen auf die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen.26 Selbiges galt im Unterschied zur Entmündigung auch für die Testierfähigkeit und Ehefähigkeit des Pfleglings.27 Die Gebrechlichkeitspflegschaft wurde nicht im Bundeszentralregister oder Führungszeugnis aufgenommen.28 Lediglich im Falle der angeordneten Zwangspflegschaft war der Pflegling ebenso wie der Entmündigte vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen (§§ 13, 15 BWahlG a.F.).

14   Das Verhältnis zwischen Pfleger und Pflegebefohlenem betrachtete die Rechtsprechung differenziert. Sie unterschied dabei zwischen der Gebrechlichkeitspflegschaft über geschäftsfähige und geschäftsunfähige Pflegebefohlene. Da im Falle des geschäftsfähigen Gebrechlichen dessen Willen die ausschlaggebende ← 22 | 23 → Bedeutung zukam (§ 1910 Abs. 3 BGB a.F.), verneinte die Rechtsprechung das Element der Gewaltunterworfenheit, welches die Vormundschaft charakterisierte.29 Der geschäftsfähige Pflegebefohlene brauchte Maßnahmen des Pflegers, mit denen er nicht einverstanden war, nicht hinzunehmen; er blieb im Wirkungskreis des Pflegers nach außen voll handlungsfähig.30 Handelten Pfleger und geschäftsfähiger Pflegebefohlener gleichzeitig in unterschiedlichem Sinn, so war die Handlung des Pflegebefohlenen maßgeblich; handelten sie zeitlich nacheinander, so durfte der Pflegebefohlene das vom Pfleger vorgenommene Rechtsgeschäft widerrufen.31 Die Rechtsprechung sah § 53 ZPO a.F., nach der es im Zivilprozess nicht auf den Willen des Pflegebefohlenen, sondern auf den des Pflegers ankam, als Ausnahmeregelung an.32 Dem Pfleger eines geschäftsfähigen Pflegebefohlenen wurde aufgrund dieser Wesensverschiedenheit nicht die Rechtsstellung eines gesetzlichen Vertreters wie dem Vormund eingeräumt, sondern die Stellung als staatlich bestellter Bevollmächtigter im Sinne der §§ 166 f. BGB.33 Der Verweis im Pflegschaftsrecht auf die Rechtsstellung des Vormundes (§§ 1915, 1793, 1626 Abs. 2 BGB a.F.) wurde nur für die Gebrechlichkeitspflegschaft über geschäftsunfähige Pflegebefohlene für anwendbar gehalten. In ihrem Bereich hatte der Pfleger die tatsächliche Gewalt über den Gebrechlichen und war zugleich dessen gesetzlicher Vertreter.34

II.  Rechtsinstitut der Betreuung

15   Mit Inkrafttreten des Betreuungsgesetzes wurde das Recht der Entmündigung, der Vormundschaft über Volljährige und der Gebrechlichkeitspflegschaft durch das Rechtsinstitut der Betreuung (§§ 1896–1908i BGB) abgelöst.35 Der nachfolgende Überblick befasst sich mit den Grundgedanken der Reform, stellt das materielle und formelle Betreuungsrecht dar und erörtert die Betreuungsentscheidung als solche.

1.  Grundgedanken des Betreuungsgesetzes

16   Grundlegend reformiert wurde das Recht der Erwachsenenfürsorge durch das Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige – Betreuungsgesetz (BtG) – vom 12.09.1990 (BGBl. I, S. 2002). Das Betreuungsgesetz ist ← 23 | 24 → ein Artikelgesetz, das zu einer Änderung einer erheblichen Anzahl anderer Gesetze führte. Es trat am 01.01.1992 in Kraft. Vorausgegangen waren langjährige Reformbemühungen.36

17   Grundanliegen der Reform war es, die Rechtsstellung psychisch kranker und körperlich, geistig oder seelisch behinderter Menschen durch eine grundlegende Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft über Volljährige zu verbessern.37 Dies betraf sowohl die materiell-rechtliche Ausgestaltung als auch die verfahrensrechtliche Stellung der Betroffenen.38 Die bestehenden Institute wurden als defizitär empfunden. Die Hauptkritik am alten Recht richtete sich gegen die mit der Entmündigung einhergehende weitgehende Entrechtung des Entmündigten.39 Insbesondere wurde mit der Entmündigung eine unnötige Diskriminierung und Stigmatisierung des Betroffenen verbunden, da der Entmündigte im Hinblick auf die unabwendbare Rechtsfolge der Geschäftsunfähigkeit bzw. Beschränkung der Geschäftsfähigkeit einem Kind oder Minderjährigen gleichgestellt wurde.40 Überdies habe die Entmündigung die verbliebenen Fähigkeiten des Betroffenen unberücksichtigt gelassen und Rehabilitationsmöglichkeiten gestört.41 Auch die Gebrechlichkeitspflegschaft führe, jedenfalls soweit die Zwangspflegschaft angeordnet würde, zu einer ähnlich weitgehenden Entrechtung des Betroffenen wie die Entmündigung. Ziel der Reform war es, die mit der Fürsorge verbundenen Rechtseingriffe auf das unvermeidbare Minimum zu reduzieren und den Wünschen und Vorstellungen der Betroffenen mehr Geltung zu verschaffen.42 Mit anderen Worten, die Reform sollte die Maßnahmen staatlicher Fürsorge für den Betroffenen auf das im Einzelfall erforderliche Maß beschränken und die verbliebenen Selbstbestimmungsmöglichkeiten des Betroffenen achten und fördern.43

18   Nach der Grundkonzeption des Betreuungsgesetzes wird daher das gesamte Betreuungsrecht vom Erforderlichkeitsgrundsatz beherrscht.44 Besondere Bedeutung erlangt der Erforderlichkeitsgrundsatz bei der Entscheidung, ob und für welche Angelegenheiten dem Betroffenen ein Betreuer zu bestellen ist. Im Unterschied zur Vormundschaft darf eine Betreuung nur für die Aufgabenkreise angeordnet werden, in denen auch ein Betreuungsbedarf gegeben ist (§ 1896 Abs. 2 S. 1 BGB). Der Erforderlichkeitsgrundsatz hat auch zur Folge, dass eine Betreuung nicht notwendig ← 24 | 25 → ist, soweit die Angelegenheiten durch einen Bevollmächtigten oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können (§ 1896 Abs. 2 S. 2 BGB).45

19   Das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen wird darüber hinaus insbesondere durch die Beachtung seiner Wünsche und Anträge verwirklicht. § 1901 Abs. 3 BGB statuiert die Pflicht des Betreuers, Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft und dem Betreuer zuzumuten ist. Die Wünsche des Betroffenen sind auch dann beachtlich, wenn der Betreute geschäftsunfähig ist.46

2.  Grundzüge des geltenden Betreuungsrechts

20   Über die Betreuung wird durch eine „Einheitsentscheidung“ entschieden.47 Es gibt also keine Zweistufigkeit des Verfahrens mehr wie zur Zeit vor dem Betreuungsgesetz, in der selbstständige Entscheidungen über die Anordnung der Vormundschaft bzw. Pflegschaft und der Bestellung des Vormundes bzw. Pflegers ergingen.48 Es ergeht nur eine Entscheidung, in der ein Betreuer für einen bestimmten Aufgabenkreis bestellt wird.

a.  Materiell-rechtliche Voraussetzungen der Betreuerbestellung

21   Das materielle Betreuungsrecht ist in den §§ 1896 bis 1908i BGB geregelt. Die Grundnorm des materiellen Betreuungsrechts ist § 1896 BGB, der die materiellen Anordnungsvoraussetzungen normiert.

22   Nach § 1896 Abs. 1 BGB kann eine Betreuung angeordnet werden, wenn ein Volljähriger aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann. Gegen den freien Willen des Volljährigen darf kein Betreuer bestellt werden (§ 1896 Abs. 1a BGB). Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist (§ 1896 Abs. 2 S. 1 BGB). Damit ergeben sich folgende materiellen Anordnungsvoraussetzungen:

der Betroffene ist volljährig

der Betroffene kann seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung

die Betreuung ist erforderlich

der Betreuerbestellung steht nicht der freie Wille des Betroffenen entgegen

Diese Voraussetzungen sollen im Folgenden näher dargestellt werden. ← 25 | 26 →

aa.  Medizinische Voraussetzungen

23   Die Bestellung eines Betreuers setzt den medizinischen Befund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung voraus.49 Man spricht insoweit auch von den „medizinischen Eingangsvoraussetzungen des § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB“.50 Die gesetzlichen Begriffe „psychische Krankheit“ und „körperliche, geistige oder seelische Behinderung“ werden im BGB nicht legaldefiniert.51 Auch wenn es keine allgemein anerkannte Definition gibt, sind die Kernbereiche dieser Begriffe unstreitig:52

24   Eine psychische Krankheit liegt bei den anerkannten Krankheitsbildern der Psychiatrie vor.53 Hierunter fallen die körperlich nicht begründbaren (endogenen) Psychosen wie beispielsweise die unterschiedlichen Formen der Schizophrenien und der affektiven Psychosen (Depressionen, Schuldwahn, Manien).54 Weiter sind als psychische Krankheiten die körperlich begründbaren (exogenen) Psychosen, d. h. seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfalls- oder anderen Krankheiten.55 Abhängigkeitskrankheiten (insbesondere Drogen- und Alkoholabhängigkeiten) fallen ebenfalls hierunter, wenn die Sucht zu einer psychischen Erkrankung geführt hat.56 Neurosen und Persönlichkeitsstörungen kommt nur dann ein Krankheitswert zu, wenn schwerste Auffälligkeiten und Störungen vorliegen. Geringe Abweichungen von einem „normalen“ menschlichen Verhalten rechtfertigen hingegen keine Betreuungseinrichtung.57

25   Geistige Behinderungen sind angeborene oder erworbene Intelligenzdefizite unterschiedlicher Schweregrade.58 Nach der üblichen internationalen Klassifizierung wird zwischen leichter (IQ 50 bis 69), mittelgradiger (IQ 35 bis 49) und hochgradiger (IQ 20 bis 35) Intelligenzminderung unterschieden.59 ← 26 | 27 →

26   Als seelische Behinderung gelten psychische Beeinträchtigungen, welche als Folge einer psychischen Erkrankung zurückbleiben oder jedenfalls lang anhalten.60

27   Die Einrichtung einer Betreuung kommt auch bei einer (lediglich) körperlichen Behinderung des Betroffenen in Betracht. Der Begriff der körperlichen Behinderung ist weit zu verstehen und erfasst insbesondere dauerhafte Funktionsstörungen am Stütz- und Bewegungsapparat, Funktionsstörungen der Sinnesorgane sowie der inneren Organe.61

28   Ob die medizinischen Eingangsvoraussetzungen vorliegen, hat das Betreuungsgericht im Wege der Amtsermittlung festzustellen (vgl. § 26 FamFG). Der BGH verlangt vor dem Hintergrund des erheblichen Eingriffs in die Freiheitsrechte des Betroffenen, der mit einer Betreuerbestellung verbunden ist,62 eine sorgfältige Sachverhaltsaufklärung zu den medizinischen Voraussetzungen einer Betreuerbestellung (vgl. auch § 280 FamFG).63

bb.  Betreuungsbedürftigkeit

29   Der medizinische Befund von Krankheit oder Behinderung rechtfertigt für sich alleine nicht die Betreuungseinrichtung. Vielmehr muss diese Beeinträchtigung nach § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB zur Folge haben, dass der Betroffene „seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen“ kann.64 Das Unvermögen des Betroffenen kann dabei auf körperlichen und/oder geistigen bzw. seelischen Umständen beruhen.65 Die Unfähigkeit zur Besorgung der eigenen Angelegenheiten muss auf die Krankheit bzw. Behinderung des Betroffenen zurückzuführen sein (Kausalität).66

30   Der Begriff der „Angelegenheiten“ ist dabei umfassend zu verstehen.67 Als zu regelnde Angelegenheiten kommen nicht nur Rechtsgeschäfte sondern auch rechtsgeschäftsähnliche Handlungen und Realakte in Betracht.68 Gegenstand der Angelegenheiten können sowohl solche der Vermögenssorge als auch solche der Personensorge sein.69

Details

Seiten
240
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631791929
ISBN (ePUB)
9783631791936
ISBN (MOBI)
9783631791943
ISBN (Paperback)
9783631785164
DOI
10.3726/b15715
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Betreuer Grundrechtsberechtigung Prozessfähigkeit Einwilligungsvorbehalt Beistand
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2019. 2 s/w Abb., 1 s/w Tab.

Biographische Angaben

Franziska Gesche (Autor:in)

Franziska Gesche ist Richterin am Landgericht. Ihre Promotion erfolgte an der Universität Rostock.

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Titel: Betreuung und Prozessrecht
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