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Autorschaft und Schuld in der Nachkriegsprosa von Hans Erich Nossack

Konstruktion von Subjektivität zwischen Existenzphilosophie und Postmoderne

von Katharina Gefele (Autor:in)
©2019 Dissertation 466 Seiten

Zusammenfassung

Hans Erich Nossacks Nachkriegsprosa verhandelt die Frage, welche Form des Sprechens angesichts einer unmenschlichen (Kriegs-)Realität gerechtfertigt ist. Im Fokus der Analysen stehen daher der Zusammenhang von Autorschaft und Schuld und die autofiktionale Auseinandersetzung mit den Themen Tod, Entfremdung und Liebe nach 1945. Nossacks Konstruktion von Subjektivität wird im biographischen und historischen Kontext betrachtet und auf theoretischer Ebene zwischen existenzphilosophischer Selbstsuche und postmoderner Subjektkritik verortet. Dieser Ansatz bietet neue Zugänge für Nachkriegsautoren/innen wie Alfred Andersch, Peter Weiss und Ingeborg Bachmann an. Die Autorin zeigt, dass sich in Nossacks Literatur zentrale moderne Subjektdiskurse um Freiheit, Schuld und Erinnerung kreuzen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Hans Erich Nossack
  • 2.1 Biographie: Autorschaft zwischen Résistance und Resignation
  • 2.2 Künstlerbild: „Ich möchte Worte machen, um zu existieren“
  • 2.3 Pseudoautobiographie: Forschungsstand zu Existenz und Schuld
  • 3 Krise des Subjekts
  • 3.1 Vom starken zum schwachen Subjekt
  • 3.1.1 Moderne: Ein freies Subjekt in einer unfreien Welt?
  • 3.1.2 Existenzphilosophie und Existentialismus: Rettung des Subjekts?
  • 3.1.3 Postmoderne: Tod des Subjekts?
  • 3.2 Das literarische Subjekt
  • 3.2.1 Sartre: Literatur des Engagements
  • 3.2.2 Camus: Das Absurde und der Aufschub der Einheit
  • 3.2.3 Tod des Autors
  • 4 Autorschaft und Schuld bei Hans Erich Nossack
  • 4.1 Autorschaft und Tod – Interview mit dem Tode
  • 4.1.1 Interview mit dem Tode
  • 4.1.2 Die Verdrängung des Todes in der Moderne
  • 4.1.3 Totenopfer
  • 4.1.3.1 Bericht eines fremden Wesens über die Menschen
  • 4.1.3.2 Dorothea
  • 4.1.3.3 Kassandra
  • 4.1.3.4 Appassionata
  • 4.1.3.5 Märchenbuch
  • 4.1.3.6 Der Jüngling aus dem Meer
  • 4.1.3.7 Die Kostenrechnung
  • 4.1.3.8 Klonz
  • 4.1.3.9 Der Untergang
  • 4.1.3.10 Orpheus und …
  • 4.1.4 Schuldhaftes Schreiben: Die Geburt des Autors aus dem Tod
  • 4.2 Kein richtiges Leben im falschen? – Spirale
  • 4.2.1 Schlaflose Nächte
  • 4.2.2 Roman einer schlaflosen Nacht
  • 4.2.3 Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung?
  • 4.2.4 Das falsche Leben: Matriarchat als totalitäre Lebensmacht
  • 4.2.5 Das nicht-versicherbare Leben
  • 4.2.6 Vor dem Gesetz
  • 4.2.7 Gescheiterte Subjektivität im Kontext der Nachkriegszeit
  • 4.3 Liebe nach der Katastrophe – Spätestens im November
  • 4.3.1 Existenz und Begehren
  • 4.3.2 Liebe als Begegnung mit der Existenz des Anderen
  • 4.3.3 Liebe ohne Worte: Das Paradox der Liebesliteratur
  • 4.3.4 Text im Text: Schreiben als monologische Selbstsuche?
  • 4.3.5 Liebestext im Liebestext: Die Schuld des Autors am Tod des Anderen
  • 4.3.6 Ewige Fortschreibung einer nicht-versicherbaren Liebe
  • 4.3.7 Liebe in einer inhumanen Welt
  • 5 Konstruktionen von Subjektivität in der Prosa nach 1945
  • 5.1 Literarische Verarbeitung der Schuldfrage nach 1945
  • 5.2 Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit
  • 5.3 Peter Weiss: Abschied von den Eltern; Fluchtpunkt
  • 5.4 Ingeborg Bachmann: Undine geht
  • 5.5 Autofiktionale Schuldreflexion
  • 6 Fazit
  • Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Bis in die Gegenwart hinein beschäftigt sich die Forschung zur Nachkriegsliteratur mit der Frage, welche Sprache und Ästhetik „nach Auschwitz“1 noch möglich und welcher kulturelle Umgang mit dem „Zivilisationsbruch“2 nötig ist. Für die Schriftsteller/innen3 nach 1945 galt es, die Verantwortung der Autorschaft zwischen schmerzlicher Erinnerungsarbeit und ‚Stunde Null‘ auszuloten, die im Kontext der Schuldfrage in einem hohen Maße moralisch aufgeladen wurde.4 Die Herausforderung bestand nicht nur in der Auseinandersetzung mit der kollektiven Schuld der „totalen Komplizität des deutschen Volkes“5 an Krieg, Genozid und Vertreibung, sondern auch mit der „zweiten Schuld“ der umfassenden Verdrängung und Verleugnung der belastenden Vergangenheit.6 „[Wahrscheinlich ist es gerade das Ineinander des unvorstellbar-epochalen und des alltäglich-banalen Schreckens, das eine Aufarbeitung dieses Schuldzusammenhanges bis heute so schwierig macht.“7

Vor diesem Hintergrund soll das frühe Prosawerk Hans Erich Nossacks hinsichtlich der Gestaltung von Autorschaft und Schuld neu beleuchtet werden. Nossack wird als einer der wichtigsten deutschen Nachkriegsautoren 1961 mit dem Georg-Büchner-Preis dafür ausgezeichnet, dass er „sich mit den Fragen unserer Zeit eindringlich auseinandergesetzt und sie in gültigen Beispielen ←11 | 12→dichterisch überzeugend gestaltet hat“.8 Wurde Nossacks Nachkriegswerk von der Forschung vom Ausgangspunkt der Zerstörung, des Todes und des „Untergangs“ betrachtet,9 erweist sich das Thema Schuld und Autorschaft als ein Desiderat. Der Grund für diesen Mangel liegt sicherlich nicht in einer fehlenden gesellschafts- oder selbstkritischen Haltung Nossacks. Als Schriftsteller der ‚älteren Generation‘, der die nationalsozialistische Herrschaft bewusst als ein „lebenloses Leben“10 erfährt, ist sein Werk von einer radikalen Kritik an jeglicher Form von sozialer Unterdrückung und Kontrolle geprägt, der er die Frage nach der Möglichkeit einer menschlichen Existenz entgegensetzt:

Gibt es über die gebrechlichen Rechtsbegriffe und Übereinkünfte, deren Wirksamkeit eine Zivilisation zur Voraussetzung haben, ein Gesetz, das man auch in äußerster Not nicht verletzen würde? Sozusagen ein menschliches Gesetz, das uns Verlaß auf uns selbst gewährt?11

Die Brüchigkeit der gesellschaftlichen Normen erlebt Nossack nicht nur im Nationalsozialismus, sondern auch in der Erfahrung des „Untergangs“ bei der Bombardierung Hamburgs.12 Die literarische Suche nach einem „menschlichen Gesetz“ jenseits der unzuverlässigen gesellschaftlichen Normen gestaltet er als radikale Abgrenzung des Individuums gegen jegliche gesellschaftlichen Bindungen – bis an die äußerste Grenze des Daseins und der Sprache. Das Thema Schuld wird von Nossack daher kaum im historischen Zusammenhang dargestellt, sondern erweist sich stets als ein inneres Selbstgericht des Subjekts auf der Suche nach einem eigenen und ‚eigentlichen‘ Gesetz.

Nossacks Konstruktion von Subjektivität ist von der Vorstellung einer „monologischen“ und „ahistorischen“ Existenz geprägt, wie er sie in seinen poetologischen Schriften der 1960er Jahre für den Autor beansprucht.13 ←12 | 13→Dieser Selbstinterpretation Nossacks als Außenseiter ist die Forschung lange Zeit gefolgt14 und hat die Schuldfrage entweder ausgeklammert oder Nossacks Werk als Flucht vor der historischen Realität kritisiert.15 Erst die neuere Forschung zeigt auf Grundlage von Nossacks Tagebüchern und Briefwechseln den „pseudoautobiographischen“16 Konstruktionscharakter seiner Werke,17 der darauf schließen lässt, dass Schreiben für ihn eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Autorschaft und Vergangenheit darstellt. Vor diesem Hintergrund soll Nossacks frühe Prosa als autofiktionale18 Auseinandersetzung mit Schuld und Autorschaft in den Blick genommen werden. Dazu werden neue theoretische Analysezugänge gewählt, die sowohl existenzphilosophische19 Subjekttheorien als auch die postmoderne20 Subjektkritik mit einbeziehen.

Nossacks Nähe zum Existentialismus wird früh von der zeitgenössischen Kritik behauptet, insbesondere nachdem Der Untergang 1949 in Les Temps Modernes veröffentlicht wird.21 Von solch „kurzlebigen Ehrentiteln“ hat sich Nossack ←13 | 14→allerdings distanziert.22 Eine intensivere Rezeption von Jean-Paul Sartre und Albert Camus lässt sich erst Ende der 1950er Jahre feststellen,23 sodass nicht von einer direkten Beeinflussung der frühen Prosa durch existenzphilosophische Autoren/innen ausgegangen werden kann. Dennoch rechtfertigt die Nähe der Texte zu zeitgenössischen existenzphilosophischen Topoi (z. B. Einsamkeit, Angst, Grenzsituation) sowie Nossacks positive Rezeption von Camus, den er als „jüngeren Bruder“24 bezeichnet, eine Verortung im existenzphilosophischen Diskurs der Nachkriegszeit. Wenngleich das Thema Autorschaft in der Nossack-Forschung mit existenzphilosophischen Motiven verknüpft wird,25 fehlt bisher eine differenzierte und philosophisch fundierte Einordnung – insbesondere hinsichtlich des Themas Schuld. Der innovative Ansatz der Arbeit besteht darüber hinaus in der Annäherung an postmoderne Subjekttheorien, denn bisher liegen keine diskursanalytischen oder poststrukturalistischen Interpretationen zu Nossacks Werk vor.26 Nossacks Kritik an soziologischen, linguistischen und historischen Bestimmungen scheint diesem analytischen Ansatz zu widerstreben. Doch die Motive des Scheiterns, der Abwesenheit und des Aufschubs der Schulderlösung stellen Anknüpfungspunkte zu postmodernen Subjekttheorien dar. Auch die Nähe Nossacks zu Camus und Kafka27 bildet einen Ausgangspunkt für eine postmoderne Perspektive auf Nossacks frühe Prosa als Verhandlung von Gesetzlichkeit und Schuld.

Mit der theoretischen Verortung von Nossacks Literatur im Spannungsfeld zwischen Existenzphilosophie und Postmoderne wird die Aktualisierung eines ←14 | 15→Nachkriegsautors angestrebt, der sich jeglicher Kategorisierung verweigerte28 und dessen Werk in der Forschung nach wie vor unterrepräsentiert ist. Mit W. G. Sebalds Vorlesung Luftkrieg und Literatur29 erhält Nossack Ende der 1990er Jahre neue Aufmerksamkeit im Kontext der Auseinandersetzung mit der literarischen Verarbeitung der Kriegs- und Nachkriegszeit.30 Allerdings lobt Sebald an Der Untergang gerade das, was Nossack in den meisten seiner Texte verweigert: den Blick auf die „schiere Faktizität“31 der historischen Zerstörung. Mit dem Motiv des ‚Untergangs‘ verhandelt Nossack nicht die materielle Vernichtung, sondern die ideelle Zerstörung der Kategorien von Realität, Subjektivität und Wahrheit. Nossacks Literatur bietet angesichts der Katastrophe weder dokumentarische Zugänge noch gesellschaftspolitische Lösungsansätze, sondern bleibt einer stark subjektiven Perspektive verpflichtet.

Eine zentrale Frage lautet, wie sich eine solch subjektiv orientierte Nachkriegsliteratur nach der postmodernen Wende rezipieren lässt. Mit dem Ende der „großen Erzählungen“32 und dem „Tod des Subjekts“33 gilt Subjektivität nicht mehr als Ursprung von Freiheit und Schuldfähigkeit, sondern als das Produkt gesellschaftlicher Diskurse, die sich im Subjekt und Autor reproduzieren.34 Wird damit das Thema der individuellen Schuld nach dem Zivilisationsbruch obsolet? Sicherlich nicht, wenn man die Postmoderne im Sinne eines „Post-Holocaust“35 ←15 | 16→als Kritik an ideologischen Sinnstiftungsversuchen sowie als Anerkennung eines „schwachen“ Subjekts36 begreift.37 Postmoderne soll hier mit Lyotard als Intensivierung der modernen Selbstkritik verstanden werden,38 die bereits in existenzphilosophischen Konzepten paradoxer Subjektivität angelegt ist. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, auch andere Nachkriegsautoren/innen im Lichte der postmodernen Subjektkritik neu zu beleuchten.

Der methodische Zugang der Textanalyse orientiert sich an Peter V. Zimas interdisziplinärem Ansatz, literarische Konstruktionen von Subjektivität im Kontext der philosophie- und kulturgeschichtlichen Diskurse zwischen Moderne und Postmoderne zu verorten.39 Aus dieser Perspektive lassen sich existentialistische Romane „als ein Übergangsphänomen zwischen Spätmoderne und Postmoderne“ interpretieren, die sich in einem Spannungsfeld zwischen subjektiver Freiheit, Gesellschaftskritik und postmoderner Pluralisierung bewegen.40 Vor diesem Hintergrund wird Nossacks literarische Subjektkonstruktion auf ihre Funktion hin befragt: Dient sie der (entlastenden) Stärkung, der selbstkritischen Reflexion oder der Auflösung autonomer Subjektivität?41 Nossacks Werk soll jedoch keinesfalls auf ästhetischer Ebene in die Reihe postmoderner Literatur aufgenommen werden, sondern es geht um eine Lektüre aus der Perspektive postmoderner Subjekttheorie. Die Interpretation orientiert sich weder an der hermeneutischen „Existenzanalyse“, die das Werk im Sinne einer „Seinswahl“ des Autors deutet,42 noch an den Verfahren der Dekonstruktion, sondern stellt einen Versuch dar, auf der vergleichenden Grundlage von Subjekttheorien neue Rezeptionszugänge für die deutschsprachige Nachkriegsliteratur zu eröffnen.

←16 | 17→

Im Zentrum der Analysen stehen Nossacks einschlägige Prosawerke der frühen Nachkriegszeit. Der 1948 veröffentlichte Erzählband Interview mit dem Tode43 wird hinsichtlich der ästhetischen Verarbeitung des Todes im Kontext der historischen Katastrophe betrachtet. Hier zeigt sich Nossacks erster Zugang zur kleinen Prosa, in der er sich vielseitig und kritisch mit tradierten Formen des Erzählens auseinandersetzt, um einen adäquaten Ausdruck für leidvolle autobiographische Erfahrungen zu finden. Dieser Band enthält neben einigen kaum beachteten Texten auch den autobiographischen Bericht Der Untergang, der die Erfahrung der Bombardierung Hamburgs darstellt und die zentrale Frage aufwirft: „Hält es stand, dein Werk, […] angesichts dieses Friedhofs?“44 Da dieser Prosaband bei Nossack eine einmalige Auseinandersetzung mit der historischen Kriegs- und Nachkriegszeit darstellt und es noch keine Untersuchungen zur Gesamtkomposition gibt, werden alle Erzählungen einer Einzelbetrachtung unterzogen. Es wird gezeigt, dass Kunst nach der Katastrophe schuldbehaftet erscheint, weil der Künstler den ‚Untergang‘ für sein Überleben (miss-)braucht.

Im Fokus der Analyse des 1956 veröffentlichten fragmentarischen „Roman[s]; einer schlaflosen Nacht“ Spirale45 steht die Entfremdung zwischen Subjekt und normierender Gesellschaft. Das Thema Schuld zieht sich durch alle fünf Erzählungen, allerdings ohne historische und autobiographische Verortung. Dennoch wird mithilfe intertextueller Querverweise gezeigt, dass auch diese Texte als autofiktionale Reflexionen der Möglichkeit einer ‚wahren‘ Existenz im Kontext einer sinnentleerten Nachkriegszeit interpretiert werden können. Der Schlüsseltext Unmögliche Beweisaufnahme lässt auch die anderen Erzählungen als ein unaufhörliches Selbstgericht des Subjekts erscheinen, das mithilfe postmoderner Analysezugänge als endloser Aufschub der Sinnfindung und der Erlösung von Schuld gelesen werden kann.

Abschließend wird anhand des Romans Spätestens im November46 (1955) das in der Forschung unterrepräsentierte Thema Liebe beleuchtet. Die Begegnung der Liebenden zeigt sich als ein unmöglicher Zustand des menschlichen Miteinanders in einer entfremdeten Realität. Der Roman zeigt jedoch, dass die Sehnsucht nach dem Mythos einer unschuldigen und ewigen Liebe zur Katastrophe führt, aus der die Liebesgeschichte erwächst. Das Problem der Spaltung zwischen ←17 | 18→Leben und Kunst schließt eine reale Verstetigung der Liebesbeziehung aus. Mithilfe postmoderner Theorien wird eine neue Perspektive auf das Geschlechterverhältnis und das schuldbehaftete Begehren nach Sinnstiftung geworfen. So verweist die Frage nach der Möglichkeit von Liebe auf die Frage nach der Möglichkeit der zwischenmenschlichen Existenz, Begegnung und Kommunikation nach dem ‚Untergang‘.

Der Fokus auf die Gattung Prosa ist von besonderem Interesse, weil sich daran Nossacks selbstkritische Annäherung an die Möglichkeit von Erzählen angesichts der leidvollen historischen Realität aufzeigen lässt, die bisher noch nicht auf ästhetischer Ebene nachgezeichnet wurde. So folgt die Forschung lange Zeit Nossacks „Legendenbildung“ vom Neuanfang seiner Prosa aus der Erfahrung des ‚Untergangs‘.47 Erst auf Grundlage der Tagebücher und Briefe lässt sich eine schmerzhafte Entwicklung vom Dramatiker zum Prosaschriftsteller erkennen.48 Realistische Prosa wird von Nossack zunächst skeptisch beurteilt – erst im Laufe seiner Arbeit an Interview mit dem Tode findet er zur fragmentarischen und „vorläufige[n];“ Prosa als angemessene Ausdrucksform.49 Dabei setzt er sich kritisch mit tradierten Formen wie Märchen, Mythos, Novelle und Roman auseinander und bedient sich antiker und romantischer Stoffe, die in ihrer Funktion als stabilisierende Fiktionen dekonstruiert werden. Damit erzeugen die Texte eine spannungsgeladene Atmosphäre zwischen realistischem Erzählen und einer von Schweigen umhüllten Sphäre, die das sprechende Subjekt in einem Zwischenraum exponiert. Erzählen erscheint nur vordergründig als realistische und neutrale Berichterstattung – hinter der Fassade einer brüchigen Realität offenbart sich das Sprechen als Entblößung, Beichte, Selbstanklage und Rechtfertigungsversuch des Subjekts auf der Suche nach der gesetzlichen Grundlage für das innere Selbstgericht. Diese Entwürfe einer selbstkritischen und scheiternden Subjektivität sollen vor dem Hintergrund der historischen Schuldfrage beleuchtet werden.

Im Folgenden wird eine kurze Einführung zu Nossacks Biographie und Werk gegeben und sein publiziertes Selbstverständnis von Autorschaft vorgestellt, auf dessen Grundlage der Forschungsstand rekonstruiert wird, der lange Zeit Nossacks Selbstinterpretationen folgte. Darauf aufbauend werden die Theorie der ←18 | 19→Autofiktion und die methodische Verortung von Nossacks Konstruktionen von Subjektivität zwischen Existenzphilosophie und Postmoderne begründet.

Im Theorieteil wird ein philosophiegeschichtlicher Abriss der Subjekttheorie von der Moderne bis zur Postmoderne mit einem besonderen Fokus auf die Philosophie der Existenz und die Schuldfrage gegeben. Besondere Beachtung finden die Ansätze von Sartre und Camus, die im anschließenden literaturtheoretischen Abschnitt wieder aufgegriffen und hinsichtlich ihrer poetologischen Konsequenzen vertieft werden. Hier sollen nicht nur Unterschiede, sondern vor allem auch Parallelen und Anknüpfungspunkte zwischen existenzphilosophischen und postmodernen Subjekttheorien erarbeitet werden, auf deren Grundlage die literarische Verortung von Nachkriegsautoren/innen wie Hans Erich Nossack zu rechtfertigen ist. Dieser theoretische Rahmen wird in den Einzelanalysen zu Nossacks Werk anhand der Schwerpunktthemen Tod, Entfremdung sowie Liebe konkretisiert und vertieft.

Die Ergebnisse der Analysen gilt es abschließend im literarischen Feld der Nachkriegszeit zu verorten und mit Prosawerken von Autoren/innen zu vergleichen, die ebenfalls als autofiktionale Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit verstanden werden und als existentialistische Literatur rezipiert wurden: Alfred Anderschs Bericht Die Kirschen der Freiheit,50 Peter Weiss’ Erzählung Abschied von den Eltern51 und der Roman Fluchtpunkt sowie Ingeborg Bachmanns Erzählung Undine geht.52 Im Vergleich werden neue Parallelen zum Werk Nossacks dargelegt sowie Ansätze für postmoderne Lektürezugänge zur deutschsprachigen Nachkriegsliteratur aufgezeigt. In dieser vergleichenden Betrachtung zeigt sich, dass Nossack keinesfalls als monologischer Außenseiter verstanden werden sollte, sondern dass seine Selbstpositionierung im Zwischenraum eines „Spannungsfeldes“53 eine mehrdimensionale Einschreibung in die Diskurse der Nachkriegszeit darstellt und als selbstkritische Auseinandersetzung mit Autorschaft und Schuld angesichts des Zivilisationsbruchs betrachtet werden kann.

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1 Adorno, Theodor W.: „Kulturkritik und Gesellschaft“. In: Gesammelte Schriften. Bd. 10.1. Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977. S. 11–30, hier S. 30.

2 Diner, Dan: „Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz“. In: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Hg. v. Dan Diner. Frankfurt a. M.: Fischer 1987. S. 185–197, hier S. 186.

3 Im Folgenden werden geschlechtergerechte Formulierungen ausschließlich auf Personengruppen bezogen. Bei (literatur-)wissenschaftlichen Konzepten (z. B. „Tod des Autors“) und in der Paraphrase von Theorien einzelner Autoren/innen werden die jeweils verwendeten historischen Begriffe (vorwiegend das generische Maskulinum) beibehalten.

4 Vgl. Vogt, Jochen: ‚Erinnerung ist unsere Aufgabe‘. Über Literatur, Moral und Politik 1945–1990. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991. S. 13.

5 Arendt, Hannah: „Organisierte Schuld“. In: dies.: Die verborgene Tradition. Essays. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1976. S. 35–49, hier S. 36.

6 Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg/Zürich: Rasch u. Röhring 1987. S. 11.

7 Vogt: Erinnerung ist unsere Aufgabe. S. 10.

8 Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1961. Heidelberg/Darmstadt: Lambert Schneider 1962.

9 Vgl. Schmid, Christof: Monologische Kunst. Untersuchungen zum Werk von Hans Erich Nossack. Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer 1968. S. 27.

10 Nossack, Hans Erich: „Dies lebenlose Leben“. In: ders.: Pseudoautobiographische Glossen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. S. 62–83, hier S. 62.

11 Nossack, Hans Erich: „Das Geländer“. In: ders.: Pseudoautobiographische Glossen. S. 56–59, hier S. 59.

12 Nossack, Hans Erich: Der Untergang. In: ders.: Interview mit dem Tode. Hamburg: Krüger 1948. S. 205–260.

13 Vgl. Nossack, Hans Erich: „Jahrgang 1901“. In: ders.: Pseudoautobiographische Glossen. S. 119–156, hier S. 123.

14 Vgl. Czerwionka, Marcus: „Sie würden darin nicht Ansätze zu einer gewissen literarischen Legendenbildung sehen? – Anmerkungen zur Konstruktion von Nossacks Selbstbild“. In: Dammann (Hg.): Hans Erich Nossack. Leben – Werk – Kontext. S. 273–285.

15 Vgl. Esselborn, Karl: Gesellschaftskritische Literatur nach 1945. Politische Resignation und konservative Kulturkritik, besonders am Beispiel Hans Erich Nossacks. München: Fink 1977. S. 9f.

16 Vgl. Nossack: Pseudoautobiographische Glossen.

17 Vgl. Buhr, Wolfgang Michael: Hans Erich Nossack: Die Grenzsituation als Schlüssel zum Verständnis seines Werkes. Studien zur Grenzsituation und Grenzüberschreitung in Prosa, Künstlerverständnis und Biographie Hans Erich Nossacks. Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang 1994. S. 211–215. Vgl. Söhling, Gabriele: Das Schweigen zum Klingen bringen. Denkstruktur, Literaturbegriff und Schreibweisen bei Hans Erich Nossack. Mainz: v. Hase u. Koehler 1995. S. 7–11.

18 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina: „Einleitung: Was ist Auto(r)fiktion?“ In: Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Hg. v. Martina Wagner-Egelhaaf. Bielefeld: Aisthesis 2013. S. 7–22. Vgl. Kap. 2.3.

19 Obgleich man nicht von einer einheitlichen existenzphilosophischen Subjekttheorie sprechen kann, werden hier die Theorien verschiedener kanonischer Philosophen/innen wie Jean-Paul Sartre und Albert Camus zusammengefasst im Theorieteil differenziert werden.

20 Hier wird ein weiter Begriff von Postmoderne verwendet, der nicht als Epoche, sondern als „Problematik“ verstanden wird. Vgl. Zima, Peter V.: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. 2. überarb. Aufl. Tübingen: Francke 2001. S. 18–28.

21 Vgl. Schmid, Christof: „Vorwort“. In: ders.: Über Hans Erich Nossack. Hg. v. Christof Schmid. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970. S. 7–10, hier S. 7.

22 Nossack, Hans Erich: „Falsche Ehren“. In: Merkur 18 (1964). S. 1208–1209, hier S. 1208.

23 Vgl. Buhr: Die Grenzsituation. S. 96f.

24 Nossack, Hans Erich: „Autobiographie“. In: Schmid (Hg.): Über Hans Erich Nossack. S. 159–162, hier S. 162.

25 Die differenzierteste Auseinandersetzung findet sich in Michael Buhrs Analyse zum Motiv der Grenzsituation in Nossacks Werk. Vgl. Buhr: Die Grenzsituation. S. 95–116. Siehe Kap. 2.3.

26 Der einzige Analyseansatz in Anlehnung an Foucaults Begriffe der Macht und Selbstpraktik (allerdings ohne theoretische Anbindung) findet sich im Aufsatz von Ulrich Kinzel: „Aufbruch und Entscheidung. Selbsterfahrung bei Nossack und Andersch“. In: Dammann (Hg.): Hans Erich Nossack. Leben – Werk – Kontext. S. 23–44. Zum Forschungsstand siehe Kap. 2.3.

27 Die von der Literaturkritik bereits in den 1940er Jahren behauptete Nähe Nossacks zu Kafka lässt sich allerdings erst ab 1950 belegen. Vgl. Nossack, Hans Erich: Die Tagebücher 1943–1977. 3 Bde. Hg. v. Gabriele Söhling. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. T. 30.12.1950. Siehe Kap. 4.2.6.

28 Vgl. Schmid, Christof: „Vorwort“. In: ders.: Über Hans Erich Nossack. S. 7f.

29 Sebald, Winfried Georg: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. Frankfurt a. M.: Fischer 2001.

30 Vgl. Gefele, Katharina: „Die magisch-realistische Verarbeitung der Großstadtbombardierung in Deutschland bei Hermann Kasack und Hans Erich Nossack“. In: Interférences littéraires/Literaire interferenties. „Der Magische Realismus als narrative Strategie in der Überwindung historischer Traumata“. Hg. v. Eugene Arva u. Hubert Roland. 14. Oktober 2014. S. 43–62.

31 Sebald: Luftkrieg und Literatur. S. 58.

32 Vgl. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. 5. Aufl. Wien: Passagen 2005. S. 112.

33 Vgl. Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. 4. erw. Aufl. Tübingen: Francke 2017. S. XI. Vgl. Bürger, Peter: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998.

34 Vgl. Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“. In: ders.: Das Rauschen der Sprache. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012. S. 57–63.

35 Vgl. Schlant, Ernestine: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: Beck 2001. S. 28. Der Begriff „Post-Holocaust“ bezeichnet nicht die Überwindung des Holocaust, sondern die Kennzeichnung eines Paradigmenwechsels im Anschluss an den Holocaust.

36 Vattimo, Gianni: Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik. Graz/Wien: Böhlau 1986. S. 64.

37 Welsch, Wolfgang: „Einleitung“. In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. v. Wolfgang Welsch. 2. Aufl. Berlin: Akademie 1994. S. 1–43, hier S. 12.

38 Vgl. Lyotard, Jean-François: „Eine post-moderne Fabel über die Postmoderne oder: In der Megalopolis“. In: Postmoderne – globale Differenz. Hg. v. Robert Weimann u. Hans Ulrich Gumbrecht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. S. 291–304, hier S. 294.

39 Zima, Peter V.: Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen: Francke 2001. S. 3.

40 Zima, Peter V.: Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen zu Sartre, Moravia und Camus. 2. Aufl. Trier: Wiss. Verlagsgesellschaft 2004. S. XII.

41 Zima: Das literarische Subjekt, S. ix.

42 Vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hg. v. Traugott König. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993. S. 985. Vgl. Kap. 3.2.

43 Nossack, Hans Erich: Interview mit dem Tode. Hamburg: Krüger 1948.

44 Ebd. S. 239.

45 Nossack, Hans Erich: Spirale. Roman einer schlaflosen Nacht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1956.

46 Nossack, Hans Erich: Spätestens im November. Roman. Berlin: Suhrkamp 1955. Zit. n. 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972.

47 Vgl. Nossack, Hans Erich: „Die intensivste Form des Lebens ist für mich ein Buch zu schreiben. Gespräch mit Hans Erich Nossack“. In: Manfred Durzak: Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976. S. 369–399, hier S. 369.

Details

Seiten
466
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631802984
ISBN (ePUB)
9783631802991
ISBN (MOBI)
9783631803004
ISBN (Hardcover)
9783631788653
DOI
10.3726/b16179
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Nachkriegsliteratur Autofiktion Subjektkrise Tod Entfremdung Liebe
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 466 S.

Biographische Angaben

Katharina Gefele (Autor:in)

Katharina Gefele studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft und Philosophie. Sie promovierte am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Bildungsforschung und Lehrerbildung (PLAZ) an der Universität Paderborn.

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Titel: Autorschaft und Schuld in der Nachkriegsprosa von Hans Erich Nossack
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