Lade Inhalt...

Die Abgrenzung des Diagnosefehlers vom Befunderhebungsfehler

von Silvana Große Feldhaus (Autor:in)
©2020 Dissertation 282 Seiten
Reihe: Recht und Medizin, Band 135

Zusammenfassung

Trotz des offensichtlichen Unterschiedes zwischen Diagnose- und Befunder-hebungsfehler zeigen zahlreiche Erfahrungen, dass diese Abgrenzung in der Praxis alles andere als leicht zu treffen ist. Dieses Buch arbeitet detailliert die Unterschiede der beiden Fehler heraus, stellt verschiedene Meinungen zur Abgrenzung dar und bietet eine alltagstaugliche Lösung für diese Problematik an. Hierbei wird Wert darauf gelegt, das Problem nicht allein in juristischer Denkweise zu lösen, sondern auch die Medizin als besondere Materie mit zahlreichen Unwägbarkeiten für Patient und Behandler mit einzubeziehen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Problemaufriss
  • II. Anlass und Ziel der Arbeit
  • III. Überblick über den Gang der Darstellung
  • B. Recht und Medizin
  • I. Die Beziehung des Rechts zur Medizin
  • II. Geschichtliche Entwicklung
  • C. Grundlagen der Arzthaftung
  • I. Allgemeines
  • II. Die Arzthaftung nach dem Patientenrechtegesetz im Einzelnen
  • 1. § 630 a Abs. 1 BGB „Behandlungsvertrag“
  • a) Totaler Krankenhausvertrag
  • b) Gespaltener Krankenhausvertrag
  • c) Totaler Krankenhausvertrag mit Arztzusatzvertrag
  • 2. § 630 a Abs. 2 BGB „Medizinischer Standard“
  • 3. § 630 b BGB „Anzuwendende Vorschriften“
  • 4. § 630 c BGB „Pflichten“
  • 5. § 630 d BGB „Einwilligung“
  • 6. § 630 e BGB „Aufklärung“
  • 7. § 630 f „Dokumentation“
  • 8. § 630 h BGB „Beweislast“
  • a) Die „drei Stufen“ des BGH
  • b) Eigene Bewertung dieser Rechtsprechung und des Gesetzestextes
  • c) 3. Stufe266
  • III. Deliktsrecht
  • D. Behandlungsfehler
  • I. Allgemeines
  • II. Grober Behandlungsfehler
  • E. Beweislast
  • I. Einleitung
  • II. Die Grundsätze der Beweislast im Zivilprozess
  • III. Beweislast im Arzthaftungsrecht und deren Bedeutung für den Prozess
  • IV. Beweislastumkehr
  • V. Beweislastumkehr bei Befunderhebung
  • VI. Beweisvereitelung
  • VII. Befunderhebung als Beweisvereitelung?
  • VIII. Kritik an der Beweislastumkehr
  • 1. Allgemeines
  • 2. Literaturansichten
  • 3. Verfassungsrechtliche Sicht
  • 4. Praktische Folgen
  • 5. Anscheinsbeweis als Lösungsansatz?
  • F. Diagnosefehler
  • I. Allgemeines
  • II. Begriff und Bedeutung der Diagnose
  • III. Die statistische Wahrscheinlichkeit einer Diagnose
  • IV. Umgang mit Befunden
  • V. Die Vereinbarkeit der Diagnostik mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot
  • VI. Umfang der Diagnostik
  • VII. Verschiedene Arten von Diagnosefehlern
  • 1. Diagnoseirrtum
  • 2. Einfacher Diagnosefehler
  • VIII. Fallgruppen von Diagnosefehlern
  • 1. Diagnosefehler, die sich nicht auf die Behandlung auswirken
  • 2. Diagnosefehler durch nicht dokumentierte oder verlorene Befunde
  • 3. Diagnosefehler durch Nicht-Abwarten des Ergebnisses erhobener Befunde
  • 4. Diagnosefehler durch Nicht-Beachtung externer Hinweise
  • 5. Diagnosefehler durch Nichtbeachtung von Zufallsbefunden
  • 6. Diagnosefehler durch Versäumnis notwendiger Kontrolluntersuchungen
  • 7. Diagnosefehler durch fehlerhafte arbeitsteilige Diagnosen
  • 8. Diagnosefehler durch sog. Ferndiagnosen ohne direkten ärztlichen Kontakt
  • 9. Diagnosefehler durch nicht indizierte Diagnostik
  • 10. Schwerer/fundamentaler/grober Diagnosefehler
  • G. Befunderhebungsfehler
  • I. Allgemeines
  • II. Gruppen des Befunderhebungsfehlers
  • 1. Einfacher Befunderhebungsfehler
  • 2. Grober Befunderhebungsfehler
  • 3. Sicherung und Aufbewahrung von Befunden
  • 4. Mittelbarer Befunderhebungsfehler
  • 5. Nichtauswertung eines erhobenen Befundes
  • 6. Fehlerhafte Befundauswertung
  • 7. Zu spät erhobene Befunde
  • 8. Unterlassene Befunderhebung aufgrund sich aufdrängender Verdachtsdiagnose
  • 9. „Schlechte“ Befunderhebung
  • 10. Unterlassene Befunderderhebung aufgrund mangelnder Mitarbeit des Patienten
  • H. Kausalität im Arzthaftungsprozess
  • I. Allgemeines
  • II. Haftungsbegründende Kausalität
  • III. Haftungsausfüllende Kausalität
  • IV. Kausalität als „juristische“ Kausalität
  • V. Zurechnungszusammenhang
  • I. Primär- und Sekundärschäden bezogen auf den Befunderhebungsfehler nach der Rechtsprechung
  • I. Allgemeines
  • II. Primärschaden822
  • III. Sekundärschaden827
  • J. Abgrenzung Diagnosefehler zum Befunderhebungsfehler
  • I. Allgemeines
  • 1. Anerkannter Standard
  • 2. Begriffliche Abgrenzung
  • 3. Haftungsrechtliche Abgrenzung
  • II. Entwicklung in der Rechtsprechung
  • 1. BGH Urt. v. 14.10.1958 VI ZR 186/57
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Gerichtliche Entscheidungen
  • c) Ausführungen des BGH
  • d) Bewertung
  • 2. BGH Urt. v. 21.09.1982, VI ZR 302/80
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Ausführungen des BGH
  • c) Bewertung
  • 3. BGH Urt. v. 07.06.1983, VI ZR 284/81
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 4. Grundlegende Entscheidung BGH Urt. v. 03.02.1987, VI ZR 56/86
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 5. BGH Urt. v. 10.11.1987, VI ZR 39/87
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 6. BGH Urt. v. 14.06.1994, VI ZR 236/93
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 7. BGH Urt. v. 04.10.1994, VI ZR 205/93
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 8) BGH Urt. v. 13.02.1996, VI ZR 402/94
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 9. BGH Urt. v. 13.01.1998, VI ZR 242/96
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 10. BGH Urt. v. 06.10.1998, VI ZR 239/97
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 11. BGH Urt. v. 06.07.1999, VI ZR 290/98
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 12. BGH Urt. v. 23.03.2004, VI ZR 428/02
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 13. BGH Urt. v. 09.01.2007, VI ZR 59/06
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 14. BGH Urt. vom 21.12.2010, VI ZR 284/09
  • a) Darstellung des Sachverhalts und der Entscheidungsgründe
  • b) Bewertung
  • 15. BGH Urt. v. 07.06. 2011, VI ZR 87/10
  • a) Darstellung des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe
  • b) Bedeutung der Entscheidung
  • 16. Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung und Bewertung
  • K. Abgrenzungstheorien im Hinblick auf die haftungsrechtlichen Konsequenzen
  • I. Schwerpunkttheorie
  • 1. Darstellung der Ansicht
  • 2. Konsequenz
  • 3. Konsequenz dargestellt anhand von Beispielen
  • 4. Vorzüge
  • 5. Nachteile
  • 6. Kritik
  • II. Theorien und Ansichten der Literatur
  • 1. Gruppe 1: „Der Behandlerseite zugewandt“
  • a) Hausch 987
  • aa) Darstellung der Ansicht
  • bb) Konsequenz
  • cc) Vorzüge
  • dd) Nachteile
  • ee) Kritik
  • b) Ramm995
  • aa) Darstellung der Ansicht
  • bb)   Konsequenz
  • cc) Vorzüge
  • dd) Nachteile
  • ee) Kritik
  • c) Hart998
  • aa) Darstellung der Ansicht
  • bb) Konsequenz
  • cc) Vorzüge
  • dd) Nachteile
  • ee) Kritik
  • d) Feifel1005
  • aa) Darstellung der Ansicht
  • bb) Konsequenz
  • cc) Vorzüge
  • dd) Nachteile
  • ee) Kritik
  • e) Stellungnahme Gruppe 1
  • 2. Gruppe 2 „Der Patientenseite zugewandt“
  • a) Geiß/Greiner1013
  • aa) Darstellung der Ansicht
  • bb) Konsequenz
  • cc) Vorzüge
  • dd) Nachteile
  • ee) Kritik
  • b) Schultze-Zeu1019
  • aa) Darstellung der Ansicht
  • bb) Konsequenz
  • cc) Vorzüge
  • dd) Nachteile
  • ee) Kritik
  • c) Stellungnahme Gruppe 2
  • 3. Gruppe 3: „Neue Wege“
  • a) Karmasin1027
  • aa) Darstellung der Ansicht
  • bb) Konsequenz
  • cc) Vorzüge
  • dd) Nachteile
  • ee) Kritik
  • b) Ziegler1036
  • aa) Darstellung der Ansicht
  • bb) Konsequenz
  • cc) Vorzüge
  • dd) Nachteile
  • ee) Kritik
  • c) Glanzmann1046
  • aa) Darstellung der Ansicht
  • bb) Konsequenz
  • cc) Vorzüge
  • dd) Nachteile
  • ee) Kritik
  • d) Nußstein1049
  • aa) Darstellung der Ansicht
  • bb) Konsequenz
  • cc) Vorzüge
  • dd) Nachteile
  • ee) Kritik
  • e) Stellungnahme Gruppe 3
  • 4. Umfassende Stellungnahme und Bewertung
  • a) Allgemeines
  • b) Diagnoseirrtum
  • c) Einfacher Diagnosefehler
  • d) Schwerer/grober Diagnosefehler
  • L. Eigenes Abgrenzungsschema
  • I. Fehlereinteilung nach Sphären
  • II. Erläuterung der Fehlereinteilung
  • 1. Stufe 1: Bestimmung des Leitsymptoms bzw. der Leitsymptome der potentiellen Erkrankung
  • 2. Stufe 2: Anamnese anhand dieses Leitsymptoms mit eventueller Revidierung oder Konfirmierung
  • 3. Stufe 3: Diagnostisches Vorgehen anhand des Leitsymptoms gemäß Leitlinien und Richtlinien
  • 4.   Stufe 4: Zuordnung der Ergebnisse zu einer Krankheit
  • 5. Stufe 5: Sicherstellen des Therapieerfolges
  • III. Begründung der fünf Stufen
  • M. Ausblick
  • Literaturverzeichnis

A. Einleitung

I. Problemaufriss

Der Diagnosefehler wird im Vergleich zum Befunderhebungsfehler in der Rechtsprechung deutlich anders behandelt. Zur Illustration des Problems der Abgrenzung des Diagnosefehlers vom Befunderhebungsfehler soll folgender Fall dienen: Eine Mutter hat ihr Kind mit einem Kaiserschnitt entbunden. Einige Tage danach klagte sie über starke Schmerzen in der linken Hüfte mit Ausstrahlung ins Bein. Eine gynäkologische Untersuchung ergab keinen auffälligen Befund. Bei einer chirurgischen Untersuchung wurden wiederum starke Schmerzen im Hüftgelenksbereich festgestellt, die Hüfte war stauchungsempfindlich. Eine Beckenübersicht wurde zwar gefertigt, diese war jedoch unauffällig. Als therapeutische Konsequenz wurden Schmerzmittel verordnet. Als die Schmerzen in der Hüfte sich nicht wesentlich besserten, wurde eine Antibiotikatherapie eingeleitet. Die Patientin litt zudem an subfebrilen Temperaturen (erhöhten Körpertemperaturen). Die Entlassungsuntersuchung erfolgte ohne Auffälligkeiten. Die Patientin hatte in der Folgezeit starke Schmerzen im Bein und im Hüftbereich. Nach Einweisung in eine orthopädische Klinik wurde eine Coxitis (eitrige Hüftentzündung) im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert, durch die der Knorpelbelag von Hüftpfanne und Hüftgelenk bereits völlig zerstört worden war. Es wurde daraufhin eine operative Revision des linken Hüftgelenks vorgenommen. Zurück blieben eine Gehbehinderung infolge der Hüftversteifung und eine geringgradige Beinverkürzung.1 Anhand dieser kurzen Schilderung eines Falles aus dem Jahre 19872 drängt sich eine zentrale Frage auf: Wie ist das Nichterkennen des Krankheitsbildes der Coxitis durch die Ärzte rechtlich zu bewerten?

Liegt ein Diagnosefehler vor, weil die richtige Diagnose der Coxitis nicht gestellt wurde? Oder ist doch vielmehr ein Befunderhebungsfehler anzunehmen, da nicht genügend Untersuchungen vorgenommen wurden, um eine Coxitis festzustellen? Im Zivilprozess ist diese Unterscheidung oftmals von großer Bedeutung für den Prozessausgang, da bei einem reinen Diagnosefehler der Patient die Beweislast trägt, bei einem Befunderhebungsfehler meistens der Behandler beweisen muss, dass er standardgemäß gehandelt hat.3

←15 | 16→

Auf der einen Seite wurden bestimmte Untersuchungen, wie z.B. eine Beckenübersicht und eine gynäkologische Untersuchung, vorgenommen. Trotz dieser Untersuchungen wurde eine Coxitis nicht als Differentialdiagnose in Betracht gezogen. Bedeutet dies, es lag ein Diagnosefehler vor?

Oder würde das Gericht bemängeln, es seien nicht genug Befunde erhoben worden und deshalb läge ein Befunderhebungsfehler vor? Wenn ja, wer entscheidet, wann genug Befunde erhoben wurden?

Stellt eine fehlerhafte Diagnose nicht immer einen Diagnosefehler dar oder gibt es Unterschiede zwischen einem Irrtum und einem Fehler in der Diagnose? Ist nicht ein Befunderhebungsfehler immer auch zugleich ein Diagnoseirrtum oder Diagnosefehler?

Wenn jeder Befunderhebungsfehler gleichzeitig eine fehlerhafte Diagnose wäre, wie unterscheidet man zwischen den verschiedenen Fehlertypen? Welche Auswirkungen haben diese Arten von Fehlern auf den Prozess und damit letztendlich auch auf die Beweislastverteilung?

II. Anlass und Ziel der Arbeit

Die Aktualität des Themas4, dessen Brisanz und die enormen Konsequenzen5 auf die Urteilsfindung in der Praxis machen es so relevant. Bei einem Arzthaftungsprozess geht es nicht selten darum, ob der Arzt noch mehr Befunde hätte erheben müssen oder ob er auf seine Diagnose vertrauen durfte. Es kommt nicht nur darauf an, ob er noch weitere Befunde hätte erheben müssen, sondern auch darauf, ob sich dieses Unterlassen tatsächlich ausgewirkt hat.

In nicht wenigen Fällen wird zwar durch das Gericht ein Unterlassen bejaht, dann jedoch die Kausalität im Hinblick auf die erlittenen Folgen verneint. Die Kausalität wird entweder verneint, weil der Schaden ohnehin eingetreten wäre oder weil eine andere Therapie den Schaden nicht verhindert hätte. Vielfach wird in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung verfrüht auf die Kausalitätsebene gesprungen. Die Kausalität wird dann verneint, da sie nicht sicher festgestellt werden kann. Zugleich geht in solchen Fällen aus den Urteilsgründen hervor, aufgrund fehlender Kausalität könne eine Abgrenzung zwischen ←16 | 17→Diagnosefehler und Befunderhebungsfehler dahingestellt bleiben. Eben dies ist kritisch zu betrachten, da hier die Prüfung nicht mit der Feststellung eines etwaigen Behandlungsfehlers, sondern mit der nachgelagerten Kausalitätsfrage beginnt und zu falschen Ergebnissen führen kann. Damit ist schon der Ansatz falsch, weil die Prüfungsabfolge nicht eingehalten wird. Eine klare und strukturierte Prüfung findet dann nicht statt. Vielmehr gleichen manche Urteilsbegründungen einem Potpourri vermeintlicher Gerechtigkeitserwägungen. Teilweise wird fälschlicherweise ein Anspruch des Patienten verneint, die Klage also abgewiesen, weil der Patient nicht in der Lage war, die Kausalität zu beweisen. Oft verkennt das Gericht dann die Grundzüge der Beweislastverteilung: Nur, wenn sicher festgestellt wurde, welche Art von Fehler vorliegt, kann die Beweislastverteilung ermittelt werden.

Bei dieser Problematik spielt die Beweislast oft eine prozessentscheidende Rolle. Wer muss beweisen, dass der Schaden so nicht eingetreten wäre?6 Zu dieser Frage wurden insbesondere die Dissertationen von Sundermacher7, Harder8 und Kostka9 berücksichtigt. Die vorliegende Arbeit legt jedoch den alleinigen Schwerpunkt nicht auf die Beweislastverteilung des Befunderhebungsfehlers. Allerdings können diese Problematik und die Beweisfigur der unterlassenen Befunderhebung nicht außer Acht gelassen werden. Dem BGH und insbesondere den Instanzgerichten fehlt mitunter die Systematik der Abgrenzung zwischen Diagnosefehler und Befunderhebungsfehler. Genau dies führt zu uneinheitlichen Entscheidungen über die Beweislastverteilung. Aus diesem Grund lässt sich eine völlige Trennung der beiden Fehlerarten nicht erreichen, welche auch nicht wünschenswert ist, da ein Blick auf die gesamte Problematik für einen Lösungsansatz unumgänglich ist.

Hat das Gericht keine Möglichkeit, das Vorliegen für oder gegen den geltend gemachten Anspruch sprechender Tatsachen festzustellen,10 liegt ein sogenanntes non liquet vor.11 Bei einem non liquet entscheidet das Gericht danach, ←17 | 18→welche Partei die Beweislast trägt.12 Nicht selten wird im Arzthaftungsprozess der Prozess nach der Beweislast entschieden.13 Die die Beweislast tragende Seite wird es schwer haben, den nötigen Beweis für ihren Anspruch zu erbringen. Nicht zuletzt ist die Schwierigkeit der Unberechenbarkeit und Individualität des menschlichen Körpers geschuldet. Die Beweislast ist in fast keinem Prozess so prägend für dessen Ausgang wie bei der Arzthaftung. Deshalb ist es von herausragender Bedeutung, diese richtig zu verteilen und zuzuordnen. Die Zuordnung gelingt nur mit einer systematischen Abgrenzung zwischen Diagnose- und Befunderhebungsfehler.

Für einen sachgerechten Ansatz der Abgrenzung darf zudem kein rein juristisches Kriterium gewählt werden. Die Medizin ist eine eigene Wissenschaft, welche sich deutlich vom juristischen Denken unterscheidet. Deshalb müssen die Besonderheiten dieses Faches Einfluss auf die juristischen Überlegungen zur Lösung dieses Problems haben.14

Die Abgrenzung zwischen Diagnose- und Befunderhebungsfehler ist in der Praxis oft nicht leicht. Bei einer Vielzahl von Fällen finden sich sowohl Argumente für einen Diagnosefehler als auch für einen Befunderhebungsfehler. Eindeutige Fallkonstellationen scheinen sehr selten vorzukommen. Um eine zufällige Verteilung der Beweislast und damit eine unsichere Rechtsprechung zu vermeiden, gilt es, eine eindeutige Methode zur Abgrenzung zu entwickeln. Dies ist bis zum heutigen Zeitpunkt nicht hinlänglich gelungen.

Seit längerem, und nicht zuletzt seit der Entscheidung des BGH aus dem Jahre 201115, wird in der Literatur und in der obergerichtlichen Rechtsprechung eine rege Diskussion um die Abgrenzung des Diagnosefehlers, insbesondere zum einfachen Befunderhebungsfehler, geführt. Sommerfeld drückt die Problematik um die Abgrenzung in der Praxis sehr treffend aus, indem er von einer Tendenz der Klägerseite zum Befunderhebungsfehler spricht und wiederum ein Bestreben beim Behandelnden sieht, auf einen Diagnosefehler hinzuwirken.16 Deshalb ist nach Sommerfeld eine Abgrenzung so bedeutend.

←18 | 19→

Der Bundesgerichtshof hatte schon viele Abgrenzungsfälle dieser Art zu entscheiden.17 Seine Rechtsprechung hat sich in Teilen gewandelt, in den meisten Fällen hat sie sich weiter ausdifferenziert.18 Jedoch bleibt in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung einige Unsicherheit zurück. Eine klare Linie, die nur wenig Platz für Unsicherheiten lässt, ist noch längst nicht erreicht.

Mit dieser Arbeit sollen zum einen die geschilderten Schwierigkeiten der Abgrenzung detailliert herausarbeitet und die Entwicklung sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur aufgezeigt und bewertet werden. Ferner sollen Kriterien und ein Prüfungsschema zur sicheren Abgrenzung in der Praxis vorgestellt werden, um so zur Entschärfung dieser Problematik beizutragen. Diese Arbeit soll Ansätze bieten, eine klare Option der Abgrenzung zu finden und eine gerechte Beweislastverteilung zu ermöglichen.

III. Überblick über den Gang der Darstellung

Zunächst wird die Arzthaftung im Einzelnen erläutert. Anschließend wird eine Betrachtung der Beweislast im Zivilprozess und insbesondere im Arzthaftungsprozess vorgenommen. Dargelegt werden sodann die Probleme der Beweislastumkehr und die dazugehörige „Billigkeitsrechtsprechung“ des BGH. So werden die Abgrenzung und deren Bedeutung für den Ausgang des Prozesses deutlich. Dieses komplexe Thema wird vor dem Diagnosefehler und Befunderhebungsfehler behandelt, um seine Bedeutung hervorzuheben und um das entwickelte Schema zur Abgrenzung besser nachvollziehen zu können. Dabei ist es wichtig, nicht nur die „Billigkeitsrechtsprechung“ des BGH nachzuvollziehen, sondern auch die allgemeinen Grundsätze der Beweislastverteilung im Arzthaftungsrecht. Diese zeigen zum einen die Intention hinter der Beweislastverteilung auf, welche sich zum anderen wiederum auf die Abgrenzung auswirkt. Es ist wichtig zu verstehen, dass das prozessuale Recht nicht vom materiellen Recht zu trennen ←19 | 20→ist und beide Ebenen einen Einfluss auf die Abgrenzung von Diagnosefehler und Befunderhebungsfehler haben. Würde es nicht einen Unterschied in der Beweislastverteilung der beiden Fehler geben, dann wäre eine Abgrenzung unerheblich, da es dann außerhalb des groben Behandlungsfehlers bei der originären Beweislastverteilung bleiben würde.19 Es verbietet sich eine isolierte Betrachtung nur einer Ebene, obwohl nicht außer Acht gelassen werden kann, dass es sich bei der Abgrenzung um ein primär materiell-rechtliches Problem handelt.

Der Diagnosefehler mit all seinen Facetten und Fallgruppen wird im Anschluss an die Beweislastproblematik näher beleuchtet. Einzelne Fallgruppen des Diagnosefehlers werden erörtert und analysiert. Insbesondere der Unterschied zum Befunderhebungsfehler wird herausgearbeitet.

Damit ein besseres medizinisches Verständnis für die Diagnosestellung entsteht, wird der Weg zur Diagnose unter Rückgriff auf statistische Auswertungen und Grundsätze dargestellt.

Anschließend wird der Befunderhebungsfehler vorgestellt. Dieser wird nach dem Diagnosefehler behandelt, da jeder Fehler bei der Befunderhebung einen Diagnosefehler zur Folge hat. Somit ergibt sich der Befunderhebungsfehler aus dem Diagnosefehler. Analysiert wird dieser Fehlertypus insbesondere im Hinblick auf seine Entwicklung in der Rechtsprechung. Im Speziellen wird auf die „Drei-Stufen-Theorie“ des BGH und deren Bedeutung und Konsequenzen für den Zivilprozess eingegangen.

Zur Abgrenzung zwischen Diagnose- und Befunderhebungsfehlern wird zunächst die Entwicklung der Rechtsprechung herausgearbeitet. Sie wird ausführlich Fall für Fall dargestellt, um ein klares Verständnis der Entscheidungsgründe zur Abgrenzung zu ermöglichen.

Die Rechtsprechung vertritt die sog. Schwerpunkttheorie, welche zugleich die herrschende Ansicht ist.20 Bei dieser Abgrenzungstheorie kommt es auf den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des ärztlichen Handelns an. Aufgrund der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung wird zuerst dieser Ansatz beleuchtet und analysiert. Sodann werden die Meinungen in der Literatur herausgearbeitet. Es haben sich verschiedene Theorien und Ansichten gebildet. Die Arbeit stellt diese zum einen dar und zeigt ihre Vorzüge und Schwächen auf.

Im Anschluss daran wird ein eigener Ansatz in Form eines Prüfungsschemas vorgestellt.

←20 | 21→

1 BGH Urt. v. 10.11.1987, VI ZR 39/87 zitiert nach juris Rn. 1–3, MDR 1988, 397, 398.

2 Ausführliche Besprechung dieses Falles auf S. 172 f.

3 Zu dieser prozessual bedeutsamen Entscheidung vgl. S. 172 f.

4 Dass die Abgrenzung um den Befunderhebungsfehler noch nicht ausdiskutiert ist und nicht an Brisanz verloren hat, zeigt der Aufsatz von Sommerfeld. Er hebt die Problematik des Befunderhebungsfehlers im Einleitungsteil besonders hervor: Sommerfeld VersR 2015, 661.

5 Bergmann ZMGR 2015, 393, 395 bezeichnet die Abgrenzung als „Drahtseilakt“, der als Beispiel für die Unberechenbarkeit der Arzthaftung herangezogen werden kann.

6 Verweis auf das Kapitel „Beweislast“ S. 67 f.

7 Julia Susanne Sundmacher Die unterlassene Befunderhebung des Arztes – Eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BGH (2007).

8 Yvonne v. Harder Die Beweisfigur des Befunderhebungs- und Befundsicherungsfehlers im Arzthaftungsprozess nach der Rechtsprechung des BGH und der Instanzgerichte (2009).

9 Ulrike Kostka Die Beweislastverteilung im Arzthaftungsprozess bei fehlerhafter Befunderhebung und Gerätefehlern (2012).

10 BGH Urt. v. 06.06.1961, VI ZR 103/60, VersR 1961, 753, 754.

11 Baumgärtel Beweislastpraxis im Privatrecht A I Rn. 5.

12 Franzki Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozess S. 25; Prütting/Gehrlein-Laumen § 286 Rn. 57 ff.; Musielak § 286 Rn. 32 ff.; Reinhardt NJW 1994, 93.

13 Weimar JR 1977, 7 f.

14 Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 249 f.

15 BGH Urt. v. 07.06.2011, VI ZR 87/10, MDR 2011, 913, 914.

16 Sommerfeld VersR 2015, 661, 662.

17 BGH Urt. v. 14.10.1958, VI ZR 186/57; BGH Urt. v. 21.09.1982, VI ZR 302/80; BGH Urt. v. 07.06.1983, VI ZR 284/81; grundlegende Entscheidung BGH Urt. v. 03.02.1987, VI ZR 56/86; BGH Urt. v. 10.11.1987, VI ZR 39/87; BGH Urt. v. 14.06.1994, VI ZR 236/12; BGH Urt. v. 04.10.1994, VI ZR 205/93; BGH Urt. v. 13.02.1996, VI ZR 402/94, VersR 1996, 633; BGH Urt. v. 13.01.1998, VI ZR 242/96; BGH Urt. v. 06.10.1998, VI ZR 239/97, VersR 1999, 60; BGH Urt. v. 06.07.1999, VI ZR 290/98, VersR 1999, 1282; BGH Urt. v. 23.03.2004, VI ZR 428/02, VersR 2004, 790; BGH Urt. v. 09.01.2007, VI ZR 59/06, VersR 2007, 541; BGH Urt. v. 21.12.2010, VI ZR 284/09; BGH Urt. v. 07.06. 2011,VI ZR 87/10; siehe auch die Besprechung der genannten Urteile S. 122 ff.

Details

Seiten
282
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631816912
ISBN (ePUB)
9783631816929
ISBN (MOBI)
9783631816936
ISBN (Hardcover)
9783631794579
DOI
10.3726/b16744
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Neue Abgrenzungstheorie Abgrenzung der Fehler
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 282 S., 2 s/w Abb., 1 Tab.

Biographische Angaben

Silvana Große Feldhaus (Autor:in)

Silvana Große Feldhaus ist Rechtsanwältin und Dozentin im Gesundheitswesen.

Zurück

Titel: Die Abgrenzung des Diagnosefehlers vom Befunderhebungsfehler
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
284 Seiten