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Pius XII. und die Deportation der Juden Roms

von Klaus Kühlwein (Autor:in)
©2019 Monographie 386 Seiten

Zusammenfassung

Kein anderes Ereignis im Zweiten Weltkrieg hat Pius XII. so herausgefordert wie die SS-Judenaktion unter seinem Fenster. Was damals geschah, verdichtet die ganze Problematik um das Schweigen des Papstes. Historisch ist umstritten, was Papst Pius unternommen hat, um die Juden Roms zu retten, welchen Zwängen er unterworfen war und was er über das Schicksal deportierter Juden wusste.
Anhand zahlreicher Dokumente und Zeugenaussagen rekonstruiert die Studie die Vorgänge rund um die Razzia auf verschiedenen Ebenen. Sie fragt nach dem Kenntnisstand Pius XII. über die NS-Judenvernichtung und analysiert den Konflikt zwischen güterabwägendem Schweigen und Protest aus Gewissensgründen.
Das Ergebnis wirft neues Licht auf die Rolle Pius XII. im Herbst 1943.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Was wusste Pius XII. vom Holocaust?
  • 1.1 „Unwertes Leben“ – Stellungnahmen und Bischof Galens Kampfansage
  • 1.2 Offizielle Anfrage und die Weihnachtsansprache 1942
  • 1.3 Die Nachrichten des Don Pirro Scavizzi
  • 1.4 Hiobsbotschaften – umfassende Kenntnis
  • 1.5 Protest schon in der Hand – die Vergeltung in Holland
  • 2. Wie der Holocaust zu den römischen Juden kam
  • 2.1 Der Fall „Achse“ – Besetzung Roms
  • 2.2 Vatikanbesetzung?
  • 2.3 Der Stadtkommandant General Rainer Stahel
  • 2.4 Das neue Sipo- und SD-Außenkommando Kappler
  • 2.5 Der Vatikanbotschafter Weizsäcker
  • 3. Deportation für die Juden Roms
  • 3.1 Hitlers Befehl und Eichmanns Task Force für Rom
  • 3.2 Die Golderpressung Kapplers
  • 3.3 Plünderungen im Gemeindebüro und in Bibliotheken
  • 3.4 Hastige Beratungen und Telegramme
  • 3.5 Dannecker in Rom
  • 3.6 Warnungen und erste Hilfsanfragen
  • 4. Die Razzia
  • 4.1 In der Sabbatfrühe
  • 4.2 Gefangennahme
  • 4.3 Fluchtversuche
  • 4.4 Glück im Unglück und nervenstark
  • 4.5 Gerettet – hilfsbereite Nachbarn
  • 4.6 Gefangen – unweit vom Vatikan
  • 4.7 Die Festgenommenen und ein nachträgliches Opfer
  • 5. Hektische Diplomatie
  • 5.1 Alarm für Pius XII.
  • 5.2 Krisengespräch mit Botschafter Weizsäcker
  • 5.3 Vorstoß beim Stadtkommandanten
  • 5.4 Der Hudal-Brief
  • 5.5 Weizsäckers Rolle
  • 5.6 Kein Razziastopp erreicht
  • 6. Zurückhaltend und schweigsam
  • 6.1 Hilferuf
  • 6.2 Deportation aus Rom – Intervention von Pius XII.?
  • 6.3 Nach Auschwitz und Überlebende
  • 6.4 Ein Mythos – Pius XII. als Retter der Juden Roms
  • 7. RESÜMEE Anmerkungen zum Schweige-Protest-Konflikt Pius XII.
  • 7.1 Schlimmere Folgen vermeiden
  • 7.2 „Abwägung“ in moraltheologischer Reflexion
  • 7.3 Folgenabwägung – alternativlos?
  • 7.4 Ultimative Herausforderung: 16. Oktober
  • 7.5 Risiko Kirchenasyl
  • 7.6 Reflexion nach dem Krieg?
  • Anhang
  • Dank
  • Abkürzungen
  • Quellenverzeichnis
  • Zeugenliste
  • Sekundärliteratur

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Einleitung

In den ersten vier Jahren des 2. Weltkrieges war die NS-Judenvernichtung für Pius XII. weit weg gewesen. Aus Italien hatte es noch keine Deportationen von Juden gegeben. Auch lag das Land nicht im unmittelbaren Machtbereich Hitlers – es gab keine deutschen Kommandostellen und keine SS-Polizei in den Städten. Das änderte sich schlagartig im September 1943. Nach dem überraschenden Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten entmachtete Hitler die in seinen Augen verräterische Regierung „Badoglio“ und ließ das Land gewaltsam besetzen. Jetzt waren der Vatikan und Papst Pius XII. unmittelbar in den Machtbereich Hitlers geraten. Pius musste mit der Besetzung des kleinen Kirchenstaates und einer Verschleppung seiner Person rechnen. Vor allem aber war die NS-Judenverfolgung in seiner eigenen Bischofsstadt angekommen.

Judenaktion in Rom

Noch im September 1943 kam der Befehl zu einer umfassenden Razzia unter den römischen Juden. Pius musste hinnehmen, dass die Juden am 16. Oktober „unter seinen Fenstern“ von der SS festgenommen wurden – wie sich NS-Vatikanbotschafter Ernst von Weizsäcker besorgt ausdrückte1 – und dass man sie mit unbekanntem Ziel deportierte.

Der Direktor des Deutschen Historischen Instituts Roms nennt die römische Judenrazzia in der neueren Institut-Veröffentlichung zum „16. Oktober“ »[…] die spektakulärste und größte Aktion der Shoa auf italienischem Boden«, ausgeführt an »der ältesten antiken jüdischen Gemeinde der Diaspora, reich an Traditionen und die größte in Italien«.2 Und der ← 9 | 10 → damals untergetauchte Rabbi Panzieri bezeichnete die Verschleppung der römischen Juden aufgeregt in einem flehentlichen Brief an Pius XII. das »größte Drama, das die Macht des Bösen« ersonnen habe, ein Drama, das »das Menschengeschlecht tausende Jahre beschämen wird«.3

Hitler hatte die Verhaftung und Deportation der Juden Roms persönlich befohlen. Dem Diktator war klar, dass er den Stellvertreter Christi damit aufs Äußerste herausforderte. Von alters her sahen es die Päpste als ihre Pflicht, die Juden Roms vor Gewalt zu schützen. Konnte Pius XII. eine Judenrazzia in seiner Bischofsstadt zulassen? Hitler legte es darauf an. In den vergangenen Kriegsjahren hatte Papst Pius eine direkte Konfrontation mit Berlin sorgsam vermieden. Am Tag der Razzia wurde Pius XII. vor eine neue Situation gestellt. Binnen Stunden überrollten die dramatischen Ereignisse seine diplomatische Grundposition. Jetzt wurde seine große Konfliktfrage: „schweigen“ oder „protestieren“, durch die unmittelbare Lebensgefahr der Juden Roms gravierend zugespitzt durch die Herausforderung: „retten“ oder „stillhalten“.

Schon vor knapp dreißig Jahren merkte der katholische Theologe John F. Morley in seiner breit angelegten Studie über die Vatikandiplomatie (1939–1943) an, dass die Reaktion Pius XII. auf die Judenrazzia in seiner Stadt zur »[…] one of the most confused and controversial issues in the Study of the Vatican’s reaction to the Holocaust« wurde.4 Seither hat die Kontroverse sogar noch zugenommen. Im hohen Maße mitverantwortlich ist dafür eine These, die seit einigen Jahren immer lauter propagiert wird: Im Kern lautet sie: Pius XII. hat während der Razzia mit Umsicht und mutiger Entschlossenheit den allergrößten Teil der Juden Roms vor dem Zugriff der SS gerettet.5 ← 10 | 11 →

Seit den Feierlichkeiten zum fünfzigsten Todestag Pius XII. (2008) wird diese Judenrettung auch vom Vatikan offensiv kommuniziert. Sie wurde vom Päpstlichen Geschichtskomitee in die internationale Pius-Ausstellung (2008/09) in Rom, München, Berlin und New York6 eingearbeitet und durch einen aufwändig gedrehten internationalen Film-Zweiteiler (Sotto il cielo di Roma) eindringlich in Szene gesetzt. Dieser Film ist 2009 unter kirchlicher Federführung und vatikanischer Unterstützung an Originalschauplätzen entstanden. Benedikt XVI. und hohe Kurienvertreter wohnten der Uraufführung des Werks am 9. April 2010 in der Sommerresidenz Castel Gandolfo bei. In seiner Ansprache danach lobte Papst Benedikt den Film als historisch und theologisch wichtigen Beitrag zu seinem Vorgänger Pius XII.7

Sowohl die Pius-Ausstellung als auch der Pius-Film haben unter Historikern und in den Medien ein kontroverses Echo ausgelöst. Überwiegend ablehnend reagierten Vertreter aus dem Judentum – in vorderster Reihe die jüdische Gemeinde zu Rom.8 Die SS-Razzia am 16. Oktober 1943 ist dort immer noch ein Trauma. Es will nicht ausheilen. Kritiker bezweifeln die korrekte historische Darstellung der Ereignisse. Genährt werden die Zweifel durch die unverhohlene und holzschnittartige Präsentation der Rolle Pius XII. als Judenretter. Sie passt so gar nicht in das sattsam bekannte, ausgesprochen vorsichtige Verhalten von Papst Pius während der bisherigen ← 11 | 12 → Kriegsjahre. Genährt werden die Zweifel aber auch durch die bislang wenig erforschten Umstände rund um die Razzia und dem Zeitpunkt der Zufluchtgewährung flüchtiger Juden in Klöstern.9

Streitpunkt „Schweigen“

Nach einem halben Jahrhundert teils leidenschaftlicher Debatte hat die fachhistorische und populär-mediale Auseinandersetzung zum „Schweigen“ Pius XII. gegenüber dem Menschheitsverbrechen des Holocaust noch kein versöhnliches Ende gefunden. Der Historiker Thomas Brechenmacher nennt dies eine »erstaunliche Tatsache«. Er sieht das vor allem darin begründet, »[…] dass mit der Frage nach dem Schweigen die Ungewissheit berührt wird, ob die Kirche tatsächlich alles ihr Aufgegebene und in ihrer Macht Stehende unternommen hat, um das Schicksal der Juden zu mildern oder gar zum Besseren zu wenden. Und mit ebendieser Ungewissheit verbindet sich noch der weitergehende Verdacht, der lange wirkende kirchliche Judenhass oder Antisemitismus habe den Holocaust wenn nicht ermöglicht, so doch zumindest mit vorbereitet«.10

Im Mittelpunkt steht der Vorwurf des Schweigens Pius XII. zum Völkermord am europäischen Judentum. Obwohl Pius darüber schon früh ← 12 | 13 → Hinweise erhalten habe, hätte er bewusst geschwiegen. Rolf Hochhuth, der mit seinem provokanten Theaterstück Der Stellvertreter (1963) die Kritiklawine losgetreten hat, kam zu einem vernichtenden Urteil. Dieses Schweigen des Papstes und die entsprechende Passivität seien verbrecherisch gewesen. Bis heute hält Hochhuth an seinem harschen Urteil fest.11

Im längeren aktuellen Nachwort zur Neuausgabe seines Klassikers Pius XII. und das Dritte Reich hat der renommierte jüdisch stämmige Historiker und Holocaustforscher Saul Friedländer das Schweigen und die Passivität Pius XII. erneut verurteilt. Er bestätigte und vertiefte seine Kritikpunkte aus der Sicht neuerer Quellen. Papst Pius habe sich aus politischem Kalkül passiv verhalten gegenüber der Kriegsführung und Judenvernichtung Nazi-Deutschlands.12 Am Schluss seines Nachwortes stellt Friedländer resümierend die Gretchenfrage: Nach welchem Maßstab handelt der Papst politisch und mithin die katholische Kirche? Wenn der Maßstab abwägende »Zweckrationalität« sei, dann könne man angesichts der Risiken im Krieg die Entscheidungen Pius XII. zur schweigenden und vorsichtigen Passivität »vielleicht für vernünftig halten«. Doch wenn die Kirche nach eigener Aussage eine moralische Position vertrete und besonders in Zeiten der Krise moralisches Zeugnis zu geben habe, dann müsse Pius XII. »selbstverständlich anders beurteilt werden«.13

Auch der Holocaustüberlebende und Historiker Arno Lustiger fand in seinem wichtigen Werk Rettungswiderstand (2011) kritische Worte zur Rolle Pius XII.14 Um der strikten Neutralität des Hl. Stuhls willen habe er selbst während der Judenrazzia in Rom im Oktober 1943 nicht interveniert und nicht einmal protestiert. Das Schweigen in dieser dramatischen Situation sei Endpunkt einer »verhängnisvollen Entwicklung« gewesen, die schon in den dreißiger Jahren ihren Anfang genommen habe.15 ← 13 | 14 →

Lustiger, Friedländer und Brechenmacher legen ihre Finger in eine Wunde der Pius-Debatte, die nicht verheilen will. Es handelt sich um die Fragen, aus welchen Gründen Papst Pius seine schweigende Passivität rechtfertigen konnte und ob er durch „Unterlassen“ eine Mitschuld trug am NS-Judengenozid.

Der schwere Vorwurf des Judenhasses oder eines wie immer gearteten Antisemitismus bei Pius XII. wurde inzwischen von der Forschung plausibel widerlegt.16 Bei der Frage nach den Gründen des Schweigens gibt es zwar noch keinen Konsens, aber eine breit akzeptierte These. Brechenmacher fasst sie so zusammen:17 Pius XII. »klopfte […] seine Entscheidungen sorgsam daraufhin ab, welche Folgen sie für die Betroffenen hatten und ob sie das Ziel der carità universale gefährdeten«. Mit anderen Worten, Pius habe sorgfältig darauf geachtet, dass seine Politik gegenüber Berlin nicht das zerstörte, was er eigentlich erreichen bzw. schützen wollte: das Liebesgebot Jesu befolgen und zum Wirken bringen. Ähnlich beispielhaft schreibt Andrea Riccardi in seiner weit beachteten Studie L’inverno più lungo (2008): »Er [sc. Pius] fürchtete Vergeltungsmaßnahmen gegenüber den Katholiken, den Deutschen […] und all jenen, die in den Räumen der katholischen Kirche und des Papstes untergebracht waren. Er entschied sich gegen eine ← 14 | 15 → prophetische Verurteilung, die manch einer damals und sehr viele später gerne gesehen hätten. Er wusste, dass sein Weg das „Schweigen“ war«.18

Zugespitzt auf den Holocaust heißt das: Mit einem flammenden Appell gegen die Judendeportationen und NS-Judenpolitik hätte Pius XII. harte Vergeltungsaktionen gegen Katholiken und Juden provoziert.19 Unter dem Strich hätte er dann weder etwas erreicht noch die schützen können, die er schützen musste. Das Beste, was Papst Pius habe tun können, war die Vermeidung einer offenen Konfrontation zwischen dem Vatikan und Berlin. Das hieß: keine unbedachte Diplomatie, keine unnötige Provokation, schon gar keinen Bruch der Beziehung. Nur so hätte Pius XII. Schlimmeres verhüten und im Hintergrund durch verdeckte Diplomatie Juden retten können.

Der erste hochrangige Vertreter der römischen Kirche, der diese Linie drastisch verteidigte, war der Mailänder Kardinal Battista Montini – ehemals engster Mitarbeiter Pius XII. als Substitut im Staatssekretariat. Im Zuge der ersten Hochhuth-Debatte hatte er im Frühsommer 1963 ziemlich aufgebracht einen Leserbrief an The Tablet geschrieben.20 Ein päpstlicher Protest sei »nicht nur unnütz, sondern auch gefährlich gewesen«. Wenn Pius XII. lautstark protestiert hätte, so Montini weiter, »wäre es zu solchen Repressalien und Ruinen gekommen«, dass dieser Hochhuth ein anderes Stück hätte schreiben können, »nämlich das Drama des Stellvertreters, der aus politischem Exhibitionismus oder aus psychologischem Versehen die Schuld hätte, über die schon so sehr gequälte Welt noch größeres Unheil heraufbeschworen zu haben, nicht so sehr zu seinem eigenen als zum Schaden unzähliger unschuldiger Opfer«.

Montinis Einlassung war als „Meinung“ zur Hochhuth-Anklage geschrieben. Doch als der Leserbrief in The Tablet erschien, war Montini ← 15 | 16 → schon Papst Paul VI. geworden. Fortführend äußerte sich Montini nicht mehr öffentlich zur Schweige-Anklage seines Vorgängers. Auch die nachfolgenden Päpste und andere hochrangige Kurienvertreter vermieden es Stellung zu nehmen. Das änderte sich ab den Gedenkfeierlichkeiten zum 50. Todestag Pius XII. im Herbst 2008.

Ein Jahr zuvor war das langjährige Verfahren zur Seligsprechung Eugenio Pacellis, so der Taufname Pius XII., in der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen zu Ende gegangen.21 In der Plenarsitzung am 7. Mai 2007 stimmten die 13 Mitglieder auf Grundlage der positiven „Positio“ einstimmig für den heroischen Tugendgrad Eugenio Pacellis. Das Votum wurde Papst Benedikt XVI. zur Bestätigung vorgelegt. Benedikt ließ sich zweieinhalb Jahre Zeit mit seiner alles entscheidenden Unterschrift. Das hat für Verwirrung und Spekulationen gesorgt. Üblicherweise lässt das päpstliche Ja einer solch klaren Vorlage nicht lange auf sich warten. Warum Benedikt bis Ende 2009 zögerte, erklärte er selbst im seinem o.a. Interviewbuch.22 Er habe seine Unterschrift zunächst nicht gegeben, weil er sich »wirklich Gewissheit« verschaffen wollte. Dazu habe er eine geraffte Durchsicht der noch unveröffentlichten Aktenbestände von 1939 bis 1958 angeordnet. Im Ergebnis konnte das Positive über Pius XII. bestätigt werden, das Negative dagegen nicht, so Benedikt.

Schon während des Gedenkgottesdienstes zum 50. Todestag Pius XII. am 9. Oktober 2008 im Petersdom nahm Papst Benedikt Stellung zum Verhalten seines Vorgängers. In seiner Homilie kam er auf die Weihnachtsansprache ← 16 | 17 → von 1942 zu sprechen, wo Pius deutlich die Deportation und Vernichtung von Juden angesprochen und beklagt habe.23 Dann Benedikt weiter:24 »Er handelte oft im Verborgenen und in der Stille, gerade weil er im Licht der konkreten Situationen jenes komplexen historischen Augenblicks spürte, daß man nur auf diese Weise das Schlimmste verhindern und die größtmögliche Zahl von Juden retten konnte«. Benedikt stellt sich hier hinter das o.a. klassische Argument zur Verteidigung des päpstlichen „Schweigens“ zum NS-Holocaust: Das Schlimmste – oder Schlimmeres – verhindern durch Zurückhaltung, durch Schweigen und verdeckte Diplomatie.

Im o.a. erwähnten Interviewbuch präzisierte Benedikt: »Ich glaube, dass er [sc. Pius XII.] gesehen hat, welche Folgen ein offener Protest haben würde. Er hat darunter, das wissen wir, persönlich sehr gelitten. Er wusste, er müsste eigentlich sprechen, und doch hat es ihm die Situation verboten«.25 Die doppelbödige Formulierung Benedikts lässt aufmerken. Einerseits habe Pius XII. aus Sicht der Morallehre (Theorie) protestieren und seine Stimme gegen die Judenvernichtung erheben müssen, andererseits habe ihn aber die konkrete Situation in der Kriegszeit (Praxis) gezwungen zu schweigen. Der Nachfolger Papst Franziskus sieht es ähnlich. In einem Interview26 Ende 2014 forderte er, dass die Rolle Pius XII. im »Kontext der Epoche« gelesen werden müsse. Und weiter: »War es zum Beispiel besser, dass er schwieg oder dass er nicht schwieg, damit nicht noch mehr Juden getötet würden?« Eine amtliche Bemerkung machte Papst Franziskus jüngst in seiner Ansprache an die Mitarbeiter des Vatikanischen Geheimarchivs am 4. März 2019. Gegen Ende seiner Rede, in der er die Archivöffnung zu Pius XII. ankündigte27, kam er auch auf das „Schweigen“ des Papstes zu sprechen. Franziskus merkte an, dass Pius XII. schwierige Entscheidungen treffen musste, »[…] die einigen als zurückhaltendes Schweigen erschien […]«. ← 17 | 18 → Er habe sehr darum gerungen, aber er wollte durch dieses Schweigen »[…] die kleine Flamme humanitärer Initiativen, einer zwar geheimen, aber aktiven Diplomatie und die Hoffnung auf mögliche gute Öffnungen der Herzen am Leben [zu] erhalten«.28

Auf Anhieb ist die moralische Argumentation, verantwortlich auf die Folgen seines Handelns zu achten und schlimme Übel zu vermeiden, gut nachvollziehbar, geradezu selbstverständlich. Doch bei kritischer Betrachtung drängen sich Fragen auf. Im Falle Pius XII. heißt das: Welche Folgen genau waren nach einer Intervention aus Berlin zu erwarten? Für wen und in welchem Ausmaß?

Unabhängig davon gilt es aber die grundsätzliche Frage der moraltheologischen Ethik zu klären: Verbieten erwartete schlimme(re) Folgen notwendig ein wie immer geartetes Eingreifen? Die Antwort darauf entscheidet maßgeblich, wie das Verhalten Pius XII. zu beurteilen ist. Die traditionelle kirchliche Morallehre anerkennt beides: die verantwortliche Folgenabwägung einer Handlung (Güterabwägung) und das bedingungslose Eintreten zur Rettung von Leben sowie das kompromisslose Bewahren von Werten.29 Die Unterscheidung aber, ob in einer Situation der eine oder andere Fall vorliegt, ist alles andere als einfach. Unschärfen, Überlappungen und unterschiedliche Beurteilungen über die Folgen oder über die mögliche Verletzung von Werten sind an der Tagesordnung. Auch das Abwägen von Konsequenzen, von widerstreitenden Interessen, von Nah- und Fernzielen und das Aushandeln von Kompromissen eröffnen einen weiten Beurteilungsspielraum.30 Hilfreich ist es, Ereignisse einzugrenzen und möglichst ← 18 | 19 → konkret zu beschreiben. Der Kontext bleibt wichtig, aber der detaillierte Fokus kann Entscheidungen besser erhellen als aus einer weiten Vogelperspektive.

Die Judenaktion in Rom bietet sich dafür als ein ebenso interessantes wie brisantes Forschungsobjekt an. Die dramatischen Ereignisse rund um die Razzia am 16. Oktober 1943 verdichten den ganzen Streit um das Schweigen Pius XII. wie durch ein Brennglas.

Rekonstruktion

Obwohl die römische Judenrazzia vor den Augen eines in der Stadt amtierenden Papstes historisch sehr bedeutsam ist, wurde ihre Erforschung lange Zeit vernachlässigt. Nur ausschnittweise wurden einzelne Vorgänge und Reaktionen näher beleuchtet. Das liegt vor allem daran, dass die Razzia selbst ein zeitlich eng begrenztes Ereignis war und sie sich im Halbschatten angebahnt hatte. Die Quellenlage zu den direkt und indirekt Beteiligten, den Opfern und Rettern, den Tätern vor Ort und am Schreibtisch, den Mitwissern, Mitläufern und Gegnern der Razzia ist sehr unübersichtlich. Aussagen, Dokumente und Zeitzeugnisse sind weit gestreut und wurden bislang nur vereinzelt zusammengestellt.

Mit Abstrichen ist die Dokumentenlage zu Pius XII. bzw. zu seinem Staatssekretariat als gut bis sehr gut zu bewerten. In der herausgegebenen vatikanischen Aktenedition ADSS (11 Bände) wurde der Herbst 1943 sorgfältig und relativ dicht belegt. Einige wichtige Informationen sind allerdings nur in Fußnoten aufgenommen, und zuweilen verweisen sie auf nicht zugängliche Dokumente. Eines dieser Dokumente ist ein schriftlicher Hilferuf aus der jüdischen Gemeinde Roms an Pius XII. persönlich. Die Herausgeber von ADSS konnten sich nicht entschließen dieses so brisante wie bedeutsame Dokument zu veröffentlichen. Der Brief liegt noch unter Verschluss ← 19 | 20 → im Archiv des vatikanischen Staatssekretariats. Erst nach der von Papst Franziskus angekündigten Öffnung der Archive zu Pius XII.31 wird der Brief allgemein zugänglich werden. Mit freundlicher Unterstützung ist es dem Autor für diese Studie allerdings gelungen, ausnahmsweise eine Kopie des Brandbriefes zu erhalten. Dessen Auswertung wirft Licht auf das Verhalten Pius XII. während der Razzia.

Die Quellen zu den politischen, militärischen und zivilen Vorgängen sind noch nicht oder nur wenig systematisch zusammengestellt. Am weitesten fortgeschritten ist man beim Resümee über die Opfer der Razzia und bei den zivilen Zeugen. Zu nennen sind erstrangig die Nachforschungen des Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea (CDEC) in Mailand,32 vor allem mit der zweiten Auflage des „Buch der Erinnerung“ (Il libro della Memoria) von Liliana Picciotto Fargion und die neuere Zeugenstudie von Marcello Pezzetti.33 Zu nennen ist auch die Archivstudie der jüdischen Gemeinde Roms von 2006 (Roma, 16 ottobre 1943). Sie enthält viele soziologische Daten zu den Opfern und eine Interviewsammlung Überlebender.34 ← 20 | 21 →

Am schwierigsten ist es, die Vorgänge auf der politischen und militärischen Ebene zu durchschauen. Sie glichen einem Ränkespiel, in dem selten jemand genau wusste, was andere dachten oder taten. Fündig wird man in der Aktenedition des Auswärtigen Amtes, im politischen Archiv desselben, in den Weizsäcker-Papieren, in diversen biographischen Erinnerungen und in Abhörprotokollen des alliierten Geheimdienstes.

Zur Rekonstruktion der streng militärischen Vorgänge sind wichtige und aufschlussreiche Belege noch nicht veröffentlicht oder schwer zugänglich. Das betrifft vor allem staatsanwaltliche und gerichtliche NS-Verfahren, in denen Beteiligte an der Judenrazzia in Rom aussagten oder angeklagt waren. Sie sind auf Bundes- und Landesarchive verteilt (vor allem Ludwigsburg, Berlin, Münster). Von größerer Bedeutung sind die Verfahren gegen den einstigen römischen SS-Sicherheitschef Herbert Kappler und seine Aussage zum Eichmann-Prozess, das komplexe Dortmunder Ermittlungsverfahren zu Judendeportationen in Italien und das Berliner Verfahren gegen ehemalige Angehörige des Reichssicherheitshauptamtes.35

Für die vorliegende Studie wurde den vielfältigen Quellen nachgegangen und ihre Aussagen zusammengeführt.36 Nur aus der Gesamtsicht sind die Ereignisse rund um die Judenrazzia hinreichend rekonstruierbar.

Entschieden?

Die Frage, was Papst Pius XII. unternommen hat, um Juden vor dem Zugriff der Schergen Hitlers zu retten, ist die Frage aller Fragen im Streit um diesen Papst. Sie ist sensibel wie ein offen liegender Nerv. Die moralische Integrität von Pius XII. und die des Papsttums schlechthin stehen auf dem ← 21 | 22 → Spiel. Kein Geringerer als Papst Benedikt XVI. rückte die Frage nach der konkreten Rettung von Juden in das Zentrum des Streits um Pius XII. Es sei doch entscheidend, was Pius getan habe und zu tun versucht habe, so Benedikt in seinem Interviewbuch Licht der Welt vom Herbst 2010. Im selben Satz fährt Benedikt fort und zollt seinem Vorgänger höchstes Lob: »[…] dann muss man, glaube ich, wirklich anerkennen, dass er einer der großen Gerechten war, der so viele Juden gerettet hat wie kein anderer«.37

Papst Benedikt XVI. hat mit seinen klaren Aussagen und seiner Bestätigung des heroischen Tugendgrades bei Eugenio Pacelli den Streit um Pius XII. für die Kirche positiv entschieden. Papst Pius gilt offiziell als verehrungswürdig. Weitere prozessuale Untersuchungen gibt es nicht mehr. Zur abschließenden Seligsprechung muss Papst Franziskus nur noch ein „Wunder“ auf Fürsprache Eugenio Pacellis anerkennen. Papst Benedikt Emeritus kann nicht mehr in das Verfahren eingreifen.

Details

Seiten
386
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631793404
ISBN (ePUB)
9783631793411
ISBN (MOBI)
9783631793428
ISBN (Hardcover)
9783631792841
DOI
10.3726/b15785
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Holocaust Judenverfolgung, Antisemitismus Geschichte 1943, Vatikan Rom, Italien Razzia, Deportation Katholische Kirche
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 386 S.

Biographische Angaben

Klaus Kühlwein (Autor:in)

Klaus Kühlwein ist wissenschaftliche Lehrkraft am Bildungswerk der Erzdiözese Freiburg. Schwerpunktmäßig forscht er zur Thematik «Katholische Kirche/Vatikan in der NS-Zeit». Kühlwein promovierte an der PTH Sankt Georgen in Frankfurt am Main über die Ethik der Bergpredigt. Er hat die Zugangserlaubnis zum Vatikanischen Geheimarchiv und Archiv der Glaubenskongregation.

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Titel: Pius XII. und die Deportation der Juden Roms
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