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Die literarische Provinz. Das Allgäu und die Literatur

von Kay Wolfinger (Autor:in)
©2021 Konferenzband 300 Seiten

Zusammenfassung

Bei der Beschäftigung mit der Allgäuer Literatur gibt es Nachholbedarf – sie ist im Unterschied zu anderen Sparten des kulturellen Lebens vergleichsweise schlecht erschlossen und vernetzt. Dasselbe gilt für die Repräsentation des Allgäus als Literaturregion in der Literaturwissenschaft und der Literaturgeschichte. Dieser auf eine Tagung in Sonthofen im Allgäu zurückgehende Band möchte das Allgäu als literarische Region ins Bewusstsein rücken. Mit der Tagung wurde bereits eine kulturpolitische Akzentuierung vorgenommen. Der vorliegende Band nimmt die wissenschaftliche Einordnung der Literatur des Allgäus vor und versteht sich als Startpunkt der Erstellung einer fundierten Literaturgeschichte des Allgäus.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Was ist die literarische Provinz?
  • Die Theorie der literarischen Provinz.: Einführung in die Thematik (Kay Wolfinger)
  • Gibt es eine Allgäuer Literaturgeschichte?Methodische, literatur- und sprachgeschichtliche Überlegungen zur regionalen Literaturgeschichtsschreibung am Beispiel des Allgäus (Klaus Wolf)
  • Gattungstheorie, Heimat, Provinz
  • Vergleichende Provinzliteratur-Forschung?Perspektiven und Grenzen einer komparatistischen Meso-Analyse (Werner Nell)
  • Heimat ist dort, wo man nicht mehr lebt.: Ein Bildungsauswanderer blickt zurück (Kurt Oesterle)
  • „Die tragische Mühsal einer Region.“Die Semantisierung des Allgäus als Schauplatz von Dorfgeschichten in Claire Beyers Rauken (Antonius Weixler)
  • Eine Geschichte in Knotenpunkten – Projekt einer Literaturgeschichte des Ruhrgebiets seit 1960 (Werner Jung)
  • Allgäuer Literaturgeschichten
  • „Wir müssen beginnen!“– Literarische Aufbrüche am Schwangauer Bannwaldsee nach 1945: Ilse Schneider-Lengyel, die Gruppe 47 und Gerhard Köpf (Alfons Maria Arns)
  • Freundschaft mit W. G. Sebald (Ein Gespräch mit Jürgen Kaeser)
  • ‚Immer anderwärts.‘Zur mehrfachen Ambivalenz der Heimat bei W. G. Sebald (Uwe Schütte)
  • Friedhof mit Fans.Was „Kommissar Kluftinger“ mit dem Allgäu macht (Katharina Löffler)
  • Gertrud von le Fort – Landschaft in metaphysischem Licht (Ein Gespräch mit Hans-Rüdiger Schwab)
  • Die Formbarkeit des Menschen (Ein Gespräch mit Christine Böhm über Arthur Maximilian Miller)
  • Hans Breinlinger – sein Leben im Spiegel des Schlüsselromans Spielzeit (Gerhard Klein)
  • Liebeslyrik und Science Fiction (Gespräch mit Gerd Holzheimer über den Autor Günter Herburger)
  • Anstiftungen zur Aufmerksamkeit.Eine Miszelle über das Werk von Antonie Schneider (Hans-Rüdiger Schwab)
  • Strategien und Kontexte
  • Die literarische Provinz in der Praxis (Frauke Kühn)
  • Die Provinz als analytische Kategorie.Eine Fallstudie am Beispiel von Uwe Johnsons Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953 (1985) (Francesca Goll)
  • „Vom Lech zur Iller“.Zum literarisch-kulturellen Imaginären des Allgäus seit dem 19. Jahrhundert (Dominik Pensel)
  • Kulturpreis der literarischen Provinz
  • Laudatio auf die Preisträgerin des Kulturpreises der literarischen Provinz Verena Boos für den Roman Kirchberg (Kay Wolfinger)
  • Abgeschiedenheit und literarisches Basislager (Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Verena Boos über ihre Bücher)
  • Reihenübersicht

Kay Wolfinger

Die Theorie der literarischen Provinz.

Einführung in die Thematik

Die Provinz ruft. Die Provinz ruft. – So könnte man das Diktum aussprechen, unter dem dieser Tagungsband zustande gekommen ist. Man könnte sagen, die eigentliche Grundidee, das geistige Zentrum entstand in verschwiegenen Winkeln des Allgäus, in dunklen, schneedurchwehten Winternächten, in denen der Charakter des Allgäus, seine Kälte, seine Zwielichtigkeit, die Finsternis seiner Sagen und Bräuche besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Vielleicht führt die Sammlung an Ideen aber auch zurück zu Après-Skinachmittagen, zu schnee- und sonnenreichen Erlebnissen auf der Piste oder aber zu Besuchen der zahlreichen Alphütten vor dem Viehscheid, der Allgäuer Folklore in Reinform, Tracht und Dialekt. Nun, dies ist nichts weiter als eine Durchdeklination der Klischees und Stereotype, mit denen das Allgäu in Verbindung gebracht wird und an denen sich das Allgäu – sofern es als Singular überhaupt existiert – in Werbung und Tourismus, in Marketing und Fun-Entwicklung bedient. Und wie bei allen Klischees und Stereotypen gibt es auch hier einen Kern der Wahrheit. Was aber ist Wahrheit, wenn die Provinz ruft?

Die Provinz, die Allgäuer Provinz, wollen wir stärker in den Blick nehmen, umkreisen, analysieren, dabei alte Vorstellung verabschieden und auf dem gültigen Alten Neues fundieren, Raum schaffen für die weitere Forschung und nicht zuletzt Anschlussprojekte andenken und möglicherweise ganz behutsam schon einmal auf den Weg bringen.

Fragestellung und Forschungsinteressen

Für unsere Tagung vom November 2018 waren illustre Forscherinnen und Forscher angereist, die aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln die Literatur des Allgäus, die Literatur über das Allgäu in den Blick nahmen oder aber darüber Auskunft gaben, wie eine andere Provinz kulturwissenschaftlich erforscht wird und die Ergebnisse an die Öffentlichkeit gebracht werden, möglicherweise Techniken, die wir auch im Allgäu erlernen und verwenden sollten.

Was aber bedeutet es in erster Linie, über die Heimat nachzudenken? Was ist die Heimat? Und: So meine Befürchtung: Entzieht sie sich uns nicht, wenn wir begonnen haben, über sie zu sprechen?←11 | 12→

Gehen wir doch einmal auf Sigmund Freuds Theorie des Unheimlichen zurück. In einem aus dem Jahr 1919 stammenden und für die Psychoanalyse kanonisch gewordenen Aufsatz schreibt Freud, dass der Umschlagspunkt vom Heimatlichen ins Unheimliche führt und dass nur das unheimlich werden kann, was uns einst vertraut gewesen ist. Somit ist auch das Unheimliche in der unheimlichen also unheimatlichen Heimat immer auch anwesend.

So ist die literarische Provinz prinzipiell jeder Versuch, von einer abseitigen Position aus, dies in Literatur zu bannen. – Vor einiger Zeit schrieb ich einmal ein Plädoyer für die literarische Provinz.

Plädoyer für die literarische Provinz

Das Provinzielle ist dem modernen Menschen abhandengekommen. Umso empfehlenswerter ist ein Ausflug dorthin. Der moderne Mensch bewegt sich auf die Masse zu und geht in der Masse auf. Aufgrund dieser Lage ist die Literatur das Provinzielle, und in dieser Provinz liegt die Chance: die Literatur bedient ein ganz bestimmtes Interesse an Sinn einer nicht aussterbenden Minderheit. Und wenn diese Literatur dann auch noch von einer tatsächlichen Provinz wie dem Allgäu ihren Ursprung nimmt, schafft sie sich dort eigene Resonanzräume, in der sie gehört werden kann. Die literarische Provinz ist geboren, und wir wollen gemeinsam in Veranstaltungs- und Forschungsprojekten die Geschichte der Allgäuer Literatur weiter aufarbeiten und stärken, weil dies ein Refugium ist und ein blinder Fleck, dem sich noch niemand zugewendet hat, obwohl gerade darin ein Alleinstellungsmerkmal des Allgäus liegt, das genutzt werden kann, um zu zeigen, dass die literarische Provinz Allgäu tatsächlich eine Kulturlandschaft von europäischem Ausmaß ist.

In der Literatur, die im Allgäu und vom Allgäu ausgehend entstand, finden wir diese abseitigen Themen, die fernab der Masse liegen; die Auseinandersetzung damit beweist dann, dass das Allgäu auch literarisch mit anderen Literaturregionen ohne Weiteres konkurrieren kann, wenn man sein literarisches Potential denn erst entdecken und fördern würde. Dazu dienlich sind all die Literaturveranstaltungen, Festivals, Schreibkurse, Literaturvorträge und Rezitationen; dann nimmt die Literatur die einzigartige Stelle in Brüderschaft mit Brauchtum, Musik, bildender Kunst oder Theater ein. Echte Literaturförderung im Allgäu wäre ein Meilenstein hinsichtlich der Bewahrung unserer Tradition, der Erschließung neuer Welten und der Förderung von Tourismus, Marketing und Ausbau der Zukunftsfähigkeit des Allgäus, das dann wahrlich den Titel Kulturlandschaft verdient.←12 | 13→

Und gerade deshalb, weil das Allgäu in Sachen Literatur Nachholbedarf hat, soll eine erste Erschließung dieses Feldes und eine weitere literaturwissenschaftliche und literaturhistorische Vernetzung geleistet werden.

Dieser Tagungsband „spielt“ gedanklich mit dem Titel „Die literarische Provinz“. Denn dieser besagt zweierlei:

1.Zum einen, dass das Allgäu selbst eben als Provinz erscheint, als eine abgeschiedene „Besonderheit“, eine Region fern der urbanen Metropolen, die jedoch mannigfaltig Eingang in die Literatur gefunden hat.

2.Zum anderen bedeutet er, dass etliche und durchaus nicht unbedeutende Literaten im Allgäu lebten, dorthin reisten oder darüber schrieben und damit der scheinbar marginalen Region literarischen Stellenwert verliehen. Aus einer örtlich randständigen Region wurde so ein Ort in der Literatur.

Dieses reichhaltige literarische Potential des Allgäus entdecken wir nun als Standortvorteil, und gerade das Provinzielle soll zum Alleinstellungsmerkmale jenseits der Metropole werden.

Das Provinzielle – ein loser Strom an Assoziationen

Natürlich ist das Provinzielle, das will ich gar nicht verschweigen, auch ein Problem für die literarische Provinz. Schon Roger Willemsen stellte in seiner Deutschlandreise (2002) fest, dass Kultur sich im Allgäu zwischen Blasmusik und Touristenfolklore ereignet.1 Berüchtigt ist die generelle Humorlosigkeit des Allgäuers, wenn es um Karikaturen von Allgäuer Umständen geht. So erregten sich zahlreiche Einheimische, weil im Westallgäuer Kultfilm Daheim sterben die Leut gesagt wurde, man könnte einen Besenstiel zur Wahl antreten lassen, und die Allgäuer würden trotzdem ihre Partei wählen, und als 2013 schließlich im Fernsehen die Verfilmung des Kluftinger-Krimis Seegrund lief, überschlug ←13 | 14→sich die Wut in den Leserbriefen im regionalen Anzeigeblatt, offenbar ohne daran zu denken, dass man eine liebevolle Satire durch allzu viel Ernsthaftigkeit eher bestätigt denn unterläuft.

Man braucht nicht unbedingt eine Charakterkunde über eine Allgäuer Physiognomik begründen, obwohl der Dickschädel des Allgäuers natürlich weithin bekannt ist, wie auch Alfred Weitnauer in seinem Buch Die Allgäuer Rasse schreibt:

Die Anatomie des gewöhnlichen Menschen ist ziemlich einfach. Der gewöhnliche Mensch (homo sapiens vulgaris) besteht aus dem Kopf, aus dem Oberleib und dem Unterleib. An den Oberleib sind die Arme angewachsen, an diese wiederum die Hände; an den Unterleib die Beine und die Füße. / Beim Allgäuer (homo Algoius) ist die Sache schwieriger. Die Schwierigkeiten beginnen bereits beim Kopf. Anstelle eines solchen trägt der Allgäuer ein kopfähnliches Gebilde, welches ‚Grind‘ genannt wird. Auch hinsichtlich verschiedener Gliedmaßen, insbesondere aber was die innere Struktur anlangt, weicht der Angehörige der Allgäuer Rasse nicht unerheblich vom Körperbau gewöhnlicher Christen ab.2

Aber die Abweichung findet man auch in der Sprache, und so ist es mir auch nach Jahren nicht gelungen, verschiedenen Einheimischen zu erklären, dass das im Allgäu häufig verwendete Adjektiv ‚massig‘ für wütend und zornig, im Hochdeutschen verwendet, eine andere Bedeutung hat. Auch das glaubt der Allgäuer in seiner Sturheit nicht.

Literatur von hier

Denkt man jedoch an die Literatur, die aus dieser Region stammt, dann hat jeder etwas anderes im Kopf: das Literaturhaus Allgäu in Immenstadt, die Veranstaltungsreihe Sonthofen liest, das Literaturfestival Allgäu oder einen Literaturpreis, den Irseer Pegasus. Man mag auch an die sogenannte Allgäu-Trilogie des einstmals vielgelesenen Priesterdichters Peter Dörfler denken, die aus den Bänden Der Notwender (1934), Der Zwingherr (1935), Der Alpkönig (1936) besteht und im Gewand des historischen Romans u.a. die Genesungsgeschichte und landwirtschaftliche Entwicklung des Allgäus erzählt.

Man mag beim literarischen Allgäu aber auch an den Oberstdorfer Dichterkreise um die Schriftstellerin Gertrud von le Fort denken, die als bekannte literarische Stimme Deutschlands in den 30ern in die Provinz gezogen war und mit der sich der Heimatdichter Arthur Maximilian Miller angefreundet hat, in ←14 | 15→dessen Wohnhaus sich heute eine vom Bezirk Schwaben betriebene Gedenkstätte befindet.

Im weiteren literarischen Verlauf des 20. Jahrhunderts mag man angesichts der literarischen Provinz ans Allgäuer Triumvirat denken, das aus dem Isnyer Schriftsteller Günter Herburger, dem Pfrontener Gerhard Köpf und dem Wertacher W. G. Sebald besteht.

Der Roman Wildnis, singend (2016) des 2018 verstorbenen Günter Herburger erzählt von zwei Aussteigern, die in der Bergwelt im äußersten Süden Deutschlands das irdische Paradies verwirklichen wollen. In Beschreibungen des Allgäus mischen sich bei Herburger fremdländische Beobachtungen:

Die Hochebene umfasste die ganze Länge der Adelegg, beschützt von vergletscherten Kuppen, aus denen Bäche herabstürzten, die in einen See mündeten. Der Ausfluss war am anderen Ende. Obwohl dreitausend Meter hoch, war das Klima auf der Hochweide überschlagen. Gras, Sträucher und gestauchte Bäume wuchsen auf ihr. Von den vergletscherten Kuppen strahlte der Widerschein eines Föhnwetters, das allen Pflanzen, vor allem den verkrüppelten Bäumchen scharfe Umrisse verlieh, als würden sie noch einmal geboren. Und Tiere, scheu auf der Flucht, hinterließen einen Strudel wie aus Glasperlentröpfchen. / Martin und Ricarda trafen auf ein Alpaka mit seinem kurzgeratenen Giraffenhälschen3.

Und noch zu W. G. Sebald, der Zeit seines Lebens mit einem deutlichen dialektalen Einschlag Hochdeutsch sprach und der seine Heimat sehr ambivalent in seinen Texten verarbeitete. In dem Text Paul Bereyter aus dem Band Die Ausgewanderten schreibt Sebald über den Ort S.:

Wissen Sie, […] die Gründlichkeit, mit welcher diese Leute in den Jahren nach der Zerstörung alles verschwiegen, verheimlicht und, wie mir manchmal vorkommt, tatsächlich vergessen haben, ist eigentlich nur die Kehrseite der perfiden Art, in der beispielsweise der Kaffeehausbesitzer Schöferle in S. die Mutter Pauls […] darauf aufmerksam machte, daß die Anwesenheit einer mit einem Halbjuden verheirateten Dame seiner bürgerlichen Kundschaft unangenehm sein könne und daß er sie daher aufs höflichste, wie es sich verstehe, bitte, von ihrem täglichen Kaffeehausbesuch Abstand zu nehmen. Es wundert mich nicht, […] nicht im allergeringsten wundert es mich, daß Ihnen die Gemeinheiten und Mequinerien verborgen geblieben sind, denen eine Familie wie die Bereyters ausgesetzt war in solch einem miserablen Nest, wie S. es damals war und es, allem sogenannten Fortschritt zum Trotz, unverändert ist4.

←15 | 16→

Und manch einer von den Teilnehmenden an der Tagung mag sich heute an seine damals novemberliche Anreise ins Allgäu erinnern, wenn er liest, wie Sebalds Ich-Erzähler im unwirtlichen November in der literarischen Provinz eintraf:

Hinter der Rezeption im Engelwirt war, nachdem sich auf mein Läuten lange nichts gerührt hatte, eine sehr wortkarge Dame aufgetaucht. Ich hatte nirgends eine Tür gehen hören, nirgends sie hereinkommen sehen, und doch war sie auf einmal dagewesen. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie mich, sei es wegen meiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen meiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Ich verlangte ein Zimmer zur Straße hinaus im ersten Stock vorerst auf unbestimmte Zeit. Obzwar es ohne weiteres möglich sein mußte, meinem Wunsch zu entsprechen, weil auch im Gastgewerbe der November der Totenmonat ist, in welchem das in dem leeren Haus verbliebene Personal den abgewichenen Gästen nachtrauert, als seien sie wirklich auf ewig abgereist, obzwar also ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte die Rezeptionsdame vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie mir die Schlüssel aushändigte. […] Den ausgefüllten Anmeldezettel, auf dem ich als Berufsbezeichnung „Auslandskorrespondent“ und meine komplizierte englische Adresse angegeben hatte, studierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, denn wann und zu welchem Zweck wäre je ein englischer Auslandskorrespondent im November zu Fuß, und unrasiert!, nach W. gekommen und hätte im Engelwirt ein Zimmer bezogen auf unbestimmte Zeit.5

Wer weiß, auf welch unbestimmte Zeit wir in der literarischen Provinz verbleiben werden…

Nach einer kurzen theoretischen Einführung ins Thema vom Herausgeber stellt Klaus Wolf (Universität Augsburg) die methodische Frage, ob es eine Allgäuer Literaturgeschichte gibt. In einem gattungswissenschaftlichen Panel macht Werner Nell (Universität Halle) seine Vorschläge zu einer vergleichenden Provinzliteratur-Forschung und blickt der Schriftsteller und Bildungsauswanderer Kurt Oesterle (Tübingen) auf den Heimatbegriff zurück. Antonius Weixler (Universität Wuppertal) analysiert den im Allgäu spielenden Roman Rauken der Autorin Claire Beyer, und Werner Jung (Universität Duisburg Essen) stellt das Projekt zur Literaturgeschichte des Ruhrgebiets vor, das für die Allgäuer Literaturgeschichtsschreibung ein Vorbild sein kann.

Konkretere Allgäuer Literaturgeschichten liefern der Frankfurter Historiker Alfons Maria Arns über die für die Gruppe 47 bedeutende Schriftstellerin Ilse ←16 | 17→Schneider-Lengyel, der Sonthofer Jürgen Kaeser über seinen Schulfreund W. G. Sebald und Uwe Schütte (Aston University) über den Heimatbegriff in den literarischen Texten seines akademischen Lehrers W. G. Sebald. Katharina Löffler (Tübingen) hingegen widmet sich den populären Allgäuer Heimatkrimis um Kommissar Kluftinger. In einem Gespräch erklärt Hans-Rüdiger Schwab (Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen) die Bedeutung der mit dem Allgäu innigst verbundenen Literatin Gertrud von le Fort, deren Werk auf eine Wiederentdeckung wartet, und ihm sekundiert Christine Böhm (Bezirksheimatpflege Schwaben) mit ihren Ausführungen über den einstmals mit le Fort befreundeten und in der Nähe von Oberstdorf ansässigen Dichter Arthur Maximilian Miller. Gerhard Klein, Kreisarchivpfleger des Landkreises Oberallgäu, erinnert an den einst populären Autor und Publizisten Hans Breinlinger, der mithilfe der regionalen Gegebenheiten einen Schlüsselroman schrieb. Schließlich nähern wir uns in einem Interview mit Gerd Holzheimer (Gauting) dem Werk des aus dem Allgäu stammenden und fest zur Nachkriegsliteraturgeschichte gehörenden Günter Herburger, während Hans-Rüdiger Schwab in einer Mizelle das faszinierende Werk der Allgäuer Autorin Antonie Schneider vorstellt.

In der Abteilung Strategien und Kontexte stellt die Literaturkoordinatorin Frauke Kühn ihr Vorarlberger Literaturnetzwerk und ihre Arbeit vor, während Francesca Goll (LMU München) und Dominik Pensel (LMU München) in ihren Aufsätzen den Provinzbegriff noch einmal produktiv verorten.

Der Band schließt mit der Reminiszenz der Verleihung des Kulturpreises der literarischen Provinz innerhalb der Literaturtagung an die Autorin Verena Boos für ihren Roman Kirchberg mit Abdruck der Laudatio und eines Werkstattgesprächs.

Denkt man an die Treffen der Gruppe 47, erkennt man schnell, dass die Provinz, in der man während der Gruppentreffen gefangen war, oft als beliebter Tagungsort gewählt wurde. Immerhin ist im Allgäu Anfang November 1958, also vor über sechzig Jahren Oskar Matzerath geboren worden. Auch deshalb fand unsere Tagung in Sonthofen zur rechten Stunde statt.

Details

Seiten
300
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631853122
ISBN (ePUB)
9783631853139
ISBN (MOBI)
9783631853146
ISBN (Hardcover)
9783631791264
DOI
10.3726/b18338
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Schlagworte
Region Bücher Literaturgeschichte Literaturpreis Autoren
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 300 S., 3 S/W-Abb.

Biographische Angaben

Kay Wolfinger (Autor:in)

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