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Das Leistungsstörungsrecht des polnischen Obligationsgesetzbuchs von 1933 und das deutsche Recht

von Antje Franz (Autor:in)
©2019 Dissertation 264 Seiten
Reihe: Rechtshistorische Reihe, Band 482

Zusammenfassung

Als Folge der mehr als 120-jährigen Teilungszeit galten in Polen nach 1918 fünf verschiedene Zivilrechte. Die Verabschiedung eines Obligationsgesetzbuches 1933 war ein wesentlicher Schritt zur innerstaatlichen Rechtsvereinheitlichung. Die Bedeutung des deutschen Rechts in diesem Prozess wird in dem vorliegenden Buch am Beispiel des Leistungsstörungsrechts untersucht. Anhand ausgewählter Faktoren werden die Rahmenbedingungen damaliger polnischer Gesetzgebung beleuchtet, die durch die unterschiedliche Entwicklung der ehemaligen drei Teilungsgebiete geprägt waren. Die Autorin nimmt auch auf die Biographien der Gesetzesautoren Bezug. Eine Auswertung des damaligen deutschen Schrifttums zeigt zudem, dass das Gesetz in der deutschen Rechtswissenschaft positiv wahrgenommen wurde.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsübersicht
  • Vorwort
  • Einleitung
  • 1 Rahmenbedingungen der Neuordnung des Zivilrechts in der Zweiten Polnischen Republik
  • 1.1 Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
  • 1.1.1 Wesentliche Konfliktfelder der Außen- und Innenpolitik
  • 1.1.2 Wirtschaftliche Folgen der Teilungszeit
  • 1.1.3 Heterogene Bevölkerungsstruktur
  • 1.2 Die rechtliche Ausgangssituation im Jahr 1918
  • 1.2.1 Die zivilrechtliche Entwicklung im preußischen Teilungsgebiet
  • 1.2.2 Französisch-polnisches Zivilrecht in Kongresspolen
  • 1.2.3 Der russische Svod Zakonov in Ostpolen
  • 1.2.4 Das ABGB im österreichischen Teilungsgebiet
  • 1.2.5 Ungarisches Zivilrecht in Spisz und Orawa
  • 1.2.6 Die Fortgeltung der bisherigen Rechte nach 1918
  • 1.3 Der juristische Berufsstand: Ausbildung, Berufsausübung und gesetzgeberische Erfahrungen
  • 1.3.1 Preußisches Teilungsgebiet
  • 1.3.1.1 Ausbildung und Berufschancen polnischer Juristen
  • 1.3.1.2 Beteiligung polnischer Juristen an der Entstehung des BGB
  • 1.3.2 Russisches Teilungsgebiet
  • 1.3.2.1 Ausbildung und Berufschancen polnischer Juristen
  • 1.3.2.2 Beteiligung polnischer Juristen an der russischen Gesetzgebung
  • 1.3.3 Österreichisches Teilungsgebiet
  • 1.3.3.1 Ausbildung und Berufschancen polnischer Juristen
  • 1.3.3.2 Beteiligung an der ABGB-Novelle
  • 1.3.4 Die dominierende Rolle galizischer Juristen nach 1918
  • 1.4 Polnischsprachige Fachliteratur und Ausbildung einer eigenen Rechtssprache
  • 1.4.1 Preußisches Teilungsgebiet
  • 1.4.2 Russisches Teilungsgebiet
  • 1.4.3 Österreichisches Teilungsgebiet
  • 1.4.4 Die Vereinheitlichung der Terminologie nach 1918
  • 1.5 Die Einstellung zur Rechtsordnung der Teilungsmacht
  • 1.6 Die Ausarbeitung des OGB durch die Kodifikationskommission
  • 1.6.1 Die Kodifikationskommission
  • 1.6.2 Das kommissionsinterne Beratungsverfahren zum OGB
  • 1.6.3 Die Rolle des französisch-italienischen Entwurfs und des schweizerischen Rechts
  • 1.6.4 Das Erbe der Teilungszeit als wesentlicher Faktor der Kommissionsarbeit
  • 1.7 Die Hauptakteure in der Kodifikationskommission
  • 1.7.1 Ernest Till
  • 1.7.1.1 Einstellung zur Pandektistik
  • 1.7.1.2 Kritik am BGB und kritische Begleitung der ABGB-Novelle
  • 1.7.1.3 Bewertung
  • 1.7.2 Roman Longchamps de Berier
  • 1.7.2.1 Einflüsse des Studienaufenthalts in Berlin
  • 1.7.2.2 Einflüsse Jherings
  • 1.7.2.3 Positionen zur Vereinheitlichung des Schuldrechts
  • 1.7.2.4 Bewertung
  • 1.7.3 Ludwik Domański
  • 1.7.3.1 Vertreter der französischen Rechtskultur
  • 1.7.3.2 Kritik am BGB
  • 1.8 Bewertung: Das Erbe der Teilungszeit und die Bedeutung des BGB
  • 2 Das Leistungsstörungsrecht des OGB
  • 2.1 Einleitende Bemerkungen und Gesetzestext
  • 2.1.1 Die Begriffe „Nichterfüllung“ und „Leistungsstörung“
  • 2.1.2 Die Rechtslage von 1918 als Ausgangspunkt
  • 2.1.3 Die verfügbaren Gesetzesmaterialien
  • 2.1.4 Der Gesetzestext (Auszug)
  • 2.2 Die gesetzliche Systematik des Leistungsstörungsrechts im OGB
  • 2.3 Verträge mit anfänglich unmöglichem Leistungsinhalt
  • 2.3.1 Die anfängliche objektive Unmöglichkeit
  • 2.3.1.1 Nichtigkeit des Vertrages (Art. 56 § 1 OGB)
  • 2.3.1.1.1 Der begrenzte Anwendungsbereich von Art. 56 OGB
  • 2.3.1.1.2 Parallelen zur Diskussion in Österreich vor 1918
  • 2.3.1.1.3 Der Wortlaut des Art. 56 OGB im Lichte des Art. 1108 KN
  • 2.3.1.2 Teilnichtigkeit (Art. 56 § 2 OGB)
  • 2.3.1.3 Schadensersatzpflicht (Art. 57 OGB)
  • 2.3.2 Die anfängliche subjektive Unmöglichkeit
  • 2.3.3 Bewertung
  • 2.4 Die allgemeine Schadensersatzhaftung bei Nichterfüllung
  • 2.4.1 Die Generalklausel (Art. 239 OGB)
  • 2.4.2 Die einzelnen Anspruchsvoraussetzungen
  • 2.4.2.1 Nichterfüllung oder nicht gehörige Erfüllung
  • 2.4.2.1.1 Generalklausel oder einzelne Leistungsstörungstatbestände als Regelungsmodelle
  • 2.4.2.1.2 Die polnische Generalklausel und das deutsche Modell
  • 2.4.2.2 Eintritt eines Schadens
  • 2.4.2.3 Die Verantwortlichkeit des Schuldners
  • 2.4.2.3.1 Das Verschuldensprinzip als allgemeiner Haftungsmaßstab (Art. 240 § 1 OGB)
  • 2.4.2.3.2 Grenzen des vertraglichen Haftungsausschlusses (Art. 240 § 2 OGB)
  • 2.4.2.3.3 Verschuldensfähigkeit
  • 2.4.2.3.4 Keine Sonderregelung für Gattungsschulden
  • 2.4.2.3.5 Haftung für Verhalten Dritter (Art. 241 OGB)
  • 2.4.2.3.6 Fälle verschärfter Haftung für Zufall
  • 2.4.3 Der Umfang des Ersatzanspruchs (Art. 242 OGB)
  • 2.4.4 Fragen der Beweislast
  • 2.4.4.1 Die Beweislastverteilung im Bereich des Art. 239 OGB
  • 2.4.4.2 Die polnische Reaktion auf die französische Unterscheidung von „obligation de résultat“ und „obligation de moyen“
  • 2.4.4.3 Die Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen in Deutschland
  • 2.4.5 Zusammenfassung und Bewertung
  • 2.5 Schuldnerverzug
  • 2.5.1 Die Regelungen des OGB im Überblick
  • 2.5.2 Voraussetzungen des Schuldnerverzugs (Art. 243 OGB)
  • 2.5.2.1 Nachholbarkeit der ausgebliebenen Leistung
  • 2.5.2.2 Mahnungserfordernisse
  • 2.5.2.3 Das Vertretenmüssen als Element eines einheitlichen Verzugsbegriffs
  • 2.5.3 Verzugsfolgen
  • 2.5.3.1 Ersatz des Verzugsschadens (Art. 244 OGB)
  • 2.5.3.2 Zufallshaftung (Art. 245 OGB)
  • 2.5.4 Bewertung
  • 2.5.5 Formen der Ersatzerfüllung bei Schuldnerverzug
  • 2.5.5.1 Das Deckungsgeschäft (Art. 246 OGB)
  • 2.5.5.1.1 Ältere Regelungen zum Deckungskauf im Handelsrecht
  • 2.5.5.1.2 Der Deckungskauf als Surrogat des Erfüllungsanspruchs
  • 2.5.5.1.3 Geltendmachung und Rechtsfolgen der Rechte nach Art. 246 OGB
  • 2.5.5.2 Ersatzvornahme (Art. 247 OGB)
  • 2.5.5.3 Bewertung
  • 2.5.6 Verspätungszinsen (Art. 248 OGB)
  • 2.5.6.1 Voraussetzungen des Zinsanspruchs
  • 2.5.6.2 Umfang des Zinsanspruchs
  • 2.5.6.3 Zinseszinsen (Art. 249 OGB)
  • 2.5.6.3.1 Beschränkungen in BGB, KN und österreichischem Zinsgesetz
  • 2.5.6.3.2 Zinseszinsen infolge Klageerhebung nach Art. 249 § 1 OGB
  • 2.5.6.3.3 Zinseszins auf vertraglicher Grundlage nach Art. 249 § 1 OGB
  • 2.5.6.3.4 Weitere Regelungsinhalte (Art. 249 § 2 OGB)
  • 2.5.6.4 Bewertung
  • 2.6 Die Nichterfüllung gegenseitiger Verpflichtungen
  • 2.6.1 Die Systematik der Art. 250–253 OGB
  • 2.6.2 Schuldnerverzug im gegenseitigen Vertrag (Art. 250 OGB)
  • 2.6.2.1 Der Rücktritt als zusätzliches Gläubigerrecht (Art. 250 § 1 OGB)
  • 2.6.2.1.1 Wahlrechte des Gläubigers nach BGB, KN, ABGB und schweizerischem Recht
  • 2.6.2.1.2 Einfaches Wahlrecht nach OGB
  • 2.6.2.2 Voraussetzungen des Rücktrittsrechts
  • 2.6.2.2.1 Verspätung der Hauptleistung
  • 2.6.2.2.2 Vertretenmüssen
  • 2.6.2.3 Ausübung des Rücktrittsrechts
  • 2.6.2.4 Rücktritt bei Verzug mit einer Teilleistung (Art. 250 § 2 OGB)
  • 2.6.2.5 Schriftform der Fristsetzung (Art. 250 § 3 OGB)
  • 2.6.2.6 Entbehrlichkeit der Fristsetzung in Sonderfällen (Art. 251 OGB)
  • 2.6.2.6.1 Fixgeschäfte (Art. 251 § 1 OGB)
  • 2.6.2.6.2 Wegfall des Gläubigerinteresses (Art. 251 § 2 OGB)
  • 2.6.3 Zu vertretende Unmöglichkeit im gegenseitigen Vertrag (Art. 252 OGB)
  • 2.6.3.1 Der Rücktritt als zusätzliches Gläubigerrecht (Art. 252 Satz 1 OGB)
  • 2.6.3.1.1 Wahlrechte des Gläubigers nach BGB, KN und ABGB
  • 2.6.3.1.2 Einfaches Wahlrecht nach OGB
  • 2.6.3.2 Rücktritt bei teilweiser Unmöglichkeit (Art. 252 Satz 2 OGB)
  • 2.6.4 Rechtsfolgen des Rücktritts (Art. 253 OGB)
  • 2.6.4.1 Rückgewähr bereits erbrachter Leistungen
  • 2.6.4.1.1 Die Rechtslage nach BGB, KN und ABGB
  • 2.6.4.1.2 Rückgewährpflichten nach OGB
  • 2.6.4.2 Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung des Vertrages
  • 2.6.4.2.1 Die Rechtslage nach BGB, KN und ABGB
  • 2.6.4.2.2 Schadensersatz bei Rücktritt nach OGB
  • 2.6.5 Bewertung
  • 2.6.5.1 Einflüsse der III. Teilnovelle
  • 2.6.5.2 Einflüsse des BGB
  • 2.7 Nicht zu vertretende Unmöglichkeit der Leistung
  • 2.7.1 Das Erlöschen der Verpflichtung (Art. 267 § 1 OGB)
  • 2.7.2 Wegfall der Gegenleistungspflicht (Art. 267 § 2 OGB)
  • 2.7.3 Besonderheiten bei teilweiser Unmöglichkeit (Art. 267 § 3 OGB)
  • 2.7.4 Herausgabe von Surrogaten (Art. 268 OGB)
  • 2.7.5 Bewertung
  • 2.8 Vertragsanpassung wegen Veränderung wesentlicher Umstände (Art. 269 OGB)
  • 2.8.1 Ansätze der deutschen, französischen und österreichischen Lehre
  • 2.8.2 Die Argumente für eine Kodifikation der clausula rebus sic stantibus
  • 2.8.3 Der Inhalt des Art. 269 OGB
  • 2.8.4 Der Beratungsverlauf
  • 2.8.5 Ergebnis: Die polnische Regelung als Synthese verschiedener Ansätze
  • 2.9 Gläubigerverzug
  • 2.9.1 Die Regelungen des OGB im Überblick
  • 2.9.2 Der Gläubigerverzug als eigenes Rechtsinstitut
  • 2.9.3 Voraussetzungen des Gläubigerverzugs (Art. 231 OGB)
  • 2.9.4 Rechtsfolgen des Gläubigerverzugs
  • 2.9.4.1 Hinterlegung und anderweitige Aufbewahrung (Art. 232–236 OGB)
  • 2.9.4.2 Schadensersatzanspruch des Schuldners (Art. 238 OGB)
  • 2.9.5 Bewertung
  • 2.10 Zusammenfassende Bewertung
  • 3 Die Wahrnehmung des OGB in der deutschen Rechtswissenschaft
  • 3.1 Fachliteratur bis 1945
  • 3.1.1 Fachzeitschriften
  • 3.1.2 Veröffentlichungen im Umkreis des Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht
  • 3.1.3 Die Lehre von den Leistungsstörungen von Hans Stoll
  • 3.1.4 Sonstige Publikationen
  • 3.2 Fachliteratur der Nachkriegsjahre bis 1964
  • 3.3 Fachliteratur der weiteren 1960er Jahre
  • 3.4 Bewertung
  • 4 Schlussbetrachtung
  • Anhang
  • I.   Abkürzungen
  • II.   Literatur- und Quellenverzeichnis
  • a)   Veröffentlichungen der polnischen Kodifikationskommission
  • b)   Polnische Statistiken
  • c)   Gesetzesübersetzungen polnischer Stellen
  • d)   Dokumente nichtpolnischer Stellen
  • e)   Literatur
  • III.   Karten
  • Die Zweite Polnische Republik in den Grenzen von 1918–1939
  • Die Rechtsgebiete Polens 1918–1939
  • IV.   Fotografien

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Vorwort

Mein Interesse für die polnische Geschichte und zunehmend auch die Rechtsgeschichte der Zweiten Polnischen Republik ergab sich als Folge eines Auslandsstudienjahres 1986/87 an der Katholischen Universität Lublin. Die deutsch-polnischen Beziehungen waren und sind mir ein Anliegen. Die Wahl eines entsprechenden Dissertationsthemas lag daher nahe. Die Arbeit hat mir trotz vieler Mühen immer wieder Freude gemacht. Sie wurde im Wintersemester 2018/19 von der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation angenommen. Ihr liegt der Stand der Literatur vom Juli 2017 zugrunde.

Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Stefan Chr. Saar, gilt mein besonderer Dank für die Betreuung der Arbeit. Seine vielfältige und kluge Unterstützung bei der Durchführung dieser Untersuchung war unverzichtbar. Unsere Gespräche waren darüber hinaus von seiner Lebenserfahrung und menschlich zugewandten Art geprägt. Herr Professor Dr. Götz Schulze hat trotz seiner Belastungen durch das Amt des Dekans sehr zügig die Zweitkorrektur erstellt und nur wenige Tage vor seinem völlig unerwarteten Tod abgeschlossen.

Herrn Professor Dr. Werner Benecke von der Europa-Universität Viadrina danke ich für seine Hinweise auf eine polnische Statistik aus den 1920er Jahren.

Bei der Erstellung der Arbeit wurde ich von vielen Menschen aus dem Kreis meiner Freunde und meiner Familie ermutigt. Das hat mir sehr geholfen. Eckhard Franz hat in den ersten Jahren viel zu dieser Arbeit beigetragen. Meiner Schwester Wiebke Schmidt möchte ich an dieser Stelle besonders danken. Sie hat sich klaglos der Mühe unterzogen, diese Arbeit mit den geschulten und kritischen Augen einer Juristin zu lesen. Meinen Eltern kommt das große Verdienst zu, mir das damals durchaus ausgefallene Auslandsjahr in Polen ermöglicht zu haben. Ihnen möchte ich dieses Buch widmen.

Von Herzen danke ich auch meinen Töchtern Henriette, Luise und Leonore. Sie haben verschwenderisch ihre unnachahmliche Gabe genutzt, ihre Mutter anzuspornen.

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Einleitung

Als Polen nach mehr als 120-jähriger Teilungszeit 1918 seine Eigenstaatlichkeit wiedererlangte, stand es vor der schwierigen Aufgabe, das zersplitterte Zivilrecht zu vereinheitlichen und neu zu ordnen. Im Zuge dieses Projekts wurde 1933 als erster Schritt einer umfassenden Kodifikation des gesamten bürgerlichen Rechts das Obligationsgesetzbuch (OGB)1 verabschiedet. Den zugrundeliegenden Gesetzentwurf erarbeitete eine 1919 eingesetzte Kodifikationskommission. In das Gesetz wurden zum einen Elemente der bisher in Polen geltenden Rechte, insbesondere des BGB, des auf dem französischen Code civil beruhenden Kodeks Napoleona (KN) und des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) übernommen. Zum anderen wurden das Schweizerische Obligationenrecht (SOR) sowie der französisch-italienische Entwurf für ein gemeinsames Obligationenrecht von 1927 berücksichtigt. Die Arbeiten an weiteren Teilen der geplanten polnischen Zivilrechtskodifikation konnten bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht beendet werden. Das OGB stellt daher das Kernstück der privatrechtlichen Gesetzgebung der Zweiten Polnischen Republik dar.2 Zwar wurde das Gesetz 1964 bei der Verabschiedung des Polnischen Zivilgesetzbuches (ZGB) mit Wirkung zum 1. Januar 1965 aufgehoben; ein Teil der Regelungen wurde aber inhaltsgleich in das neue Recht übernommen.

Das OGB ist in einer Situation entstanden, die aufgrund des Erbes der Teilungszeit durch ein Neben- und Miteinander verschiedener kontinentaleuropäischer Rechtsordnungen auf polnischem Staatsgebiet geprägt war. Nach Emil Stanisław Rappaport, dem Generalsekretär der Kodifikationskommission, bot das Land „den Anblick eines Laboratoriums en miniature für internationale gesetzgeberische Arbeit, in welchem die Ideen eines neuen, modernen polnischen Rechtes – de lege ferenda – mit der lex lata fremder Rechtsordnungen verglichen werden ←17 | 18→können.“3 Die Ablösung der vier bisher geltenden Rechtsordnungen durch ein neues polnisches Zivilrecht finde zudem in einem europäischen Umfeld statt, das vom Streben nach Rechtsvereinheitlichung gekennzeichnet sei.4

Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, welche Rolle das deutsche Zivilrecht in diesem Prozess spielte. Die besondere Situation Polens am Ende der langen Teilungszeit kann hierbei nicht unberücksichtigt bleiben. Sie war unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass ABGB, BGB, KN und russisches Zivilrecht auf sehr unterschiedliche Weise im Land Bedeutung erlangt hatten. Das Rechtswesen der einzelnen Teilungsgebiete vor 1918 wich deutlich voneinander ab, z. B. hinsichtlich der Möglichkeiten einer polnischsprachigen Ausbildung und der Beteiligung polnischstämmiger Juristen an Rechtsprechung und Lehre. Im ersten Kapitel dieser Arbeit wird daher untersucht, welche Position das deutsche Recht zu Beginn der polnischen Rechtsvereinheitlichung Anfang der 1920er Jahre im Vergleich zu den anderen in Polen geltenden Rechten einnahm. Einführend werden die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der rechtlichen Neuordnung, die ebenfalls durch das Ende der mehr als ein Jahrhundert währenden Herrschaft der Teilungsmächte geprägt waren, kurz dargestellt.

Die Arbeit beschränkt sich hierbei in zeitlicher Hinsicht auf die Entwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts und hinsichtlich der untersuchten Bereiche auf den Zugang zu juristischer Ausbildung und Berufsausübung, die Beteiligungsmöglichkeiten an der Gesetzgebung, den Umfang polnischsprachiger Fachliteratur und die Ausbildung einer polnischsprachigen Terminologie. Die Frage nach der Rolle des deutschen Rechts in der polnischen Zivilrechtsentwicklung nach 1918 wird daher im ersten Kapitel nicht umfassend beantwortet, aber doch näherungsweise anhand einiger wichtiger Faktoren.5 Berücksichtigung finden dabei auch Leben und Werk der drei Mitglieder der Kodifikationskommission, die an der Erarbeitung des OGB wesentlich beteiligt waren: Ernest Till, Roman Longchamps de Berier, Ludwik Domański.

Im zweiten Kapitel wird der oben wiedergegebenen Aufforderung Rappaports zum Vergleich des OGB mit den damals geltenden Bestimmungen des BGB nachgekommen. Allerdings wäre ein bloßer Abgleich der Rechtslage im ←18 | 19→damaligen Polen und Deutschland für die Frage möglicher Spuren des deutschen Zivilrechts im OGB wenig aussagekräftig. Spezifische Einflüsse deutschen Rechts lassen sich aber dort feststellen, wo sich entweder der polnische Gesetzgeber ausdrücklich auf ein deutsches Vorbild berief oder OGB und BGB inhaltlich übereinstimmten, während ABGB, KN, russisches Recht und SOR vom polnischen Recht abwichen. Die vier vorgenannten Rechte werden daher in die Untersuchung einbezogen. Die Arbeit beschränkt sich exemplarisch auf den Bereich der Leistungsstörungen, der in den Rechtsordnungen der Teilungsmächte rechtstechnisch große Unterschiede aufwies, sodass die Kodifikationskommission immer wieder eine Bewertung der möglichen Modelle vornehmen musste. Hinweise auf die Rolle des deutschen Zivilrechts bei der innerpolnischen Rechtsvereinheitlichung lassen sich aber nicht nur aus der Übernahme von Regelungen des BGB in das OGB gewinnen. Vielmehr ist auch von Interesse, inwieweit in den Gesetzgebungsmaterialien und in der Gesetzesbegründung auf Diskussionen in der deutschen Rechtswissenschaft Bezug genommen wurde oder auf andere Weise im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses eine Auseinandersetzung mit der deutschen Zivilistik stattfand.

Dies führt zu der Frage, ob es sich hierbei um einen einseitigen Prozess handelte. Schließlich war die Einladung Rappaports zur rechtsvergleichenden Beobachtung des polnischen „Laboratoriums en miniature“ auch an die damaligen Juristen im westlichen Nachbarland gerichtet. Im dritten Kapitel wird daher untersucht, wie das OGB von der damaligen deutschen Rechtswissenschaft aufgenommen und bei rechtsvergleichenden Forschungen berücksichtigt wurde. Allerdings soll hier keine Symmetrie des gegenseitigen Interesses am Recht des jeweiligen Nachbarlandes nachgewiesen werden. Dies wäre schon deshalb verfehlt, weil die Situation in Polen und Deutschland nicht vergleichbar war. Das BGB war in Polen bis zur Verabschiedung neuer polnischer Regelungen geltendes Recht in den ehemals preußischen Landesteilen. Die Beschäftigung mit diesem Recht hatte natürlicherweise einen anderen Stellenwert als die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem neuen polnischen Recht in Deutschland.6 Auch im Hinblick auf die große Bedeutung der deutschen Rechtswissenschaft für die europäische Rechtsentwicklung insbesondere im 19. Jahrhundert war ein gewisses Ungleichgewicht in den deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen vorgegeben.

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Wenn auch die Zivilgesetzgebung der Zweiten Polnischen Republik in deutschen Fachkreisen der Zwischenkriegszeit durchaus zur Kenntnis genommen wurde, ist sie in der Gegenwart hierzulande fast unbekannt. Auch als Beispiel einer Rechtsvereinheitlichung europäischen Charakters findet das OGB kaum Beachtung. Die Arbeit soll deshalb auch eine Lücke in der Wahrnehmung der polnischen Rechtsgeschichte schließen.


1 Kodeks Zobowiązań, Verordnung des Präsidenten der Republik Polen vom 27. Oktober 1944, Dz. U. 1933 Nr. 82, Pos. 598. Eine deutsche Übersetzung wurde 1934 von der Geschäftsstelle Posen der deutschen Sejm- und Senatsabgeordneten herausgegeben (Das polnische Recht der Schuldverhältnisse und das polnische Handelsgesetzbuch nebst den zugehörigen Einführungsbestimmungen). Die in dieser Arbeit zitierten wesentlichen Artikel des OGB sind im Abschnitt 2.1.4 wiedergegeben.

2 Daneben wurden auf dem Gebiet des Privatrechts 1924 das Wechsel- und Scheckrecht verabschiedet. 1926 folgten die Gesetze zum Internationalen und Interregionalen Privatrecht, das Gesetz über den unlauteren Wettbewerb sowie das Urheberrecht. Auf verfahrensrechtlichem Gebiet wurde 1930 die Zivilprozessordnung verkündet.

3 Rappaport, Internationales Anwaltsblatt 14 (1928), S. 196, 197.

4 Rappaport, a. a. O.

5 Nur punktuell berücksichtigt werden konnte etwa die Frage, inwieweit auch die Rechtsprechung und Wissenschaft in den ehemals russischen oder österreichischen Landesteilen zum Transfer deutschen Rechts beitrugen.

6 Dazu auch Giaro, in: ders. (Hrsg.), Rechtskulturen Bd. 1, S. 275, 296 f. mit der Feststellung, dass Transfers von Ost nach West so gut wie unbekannt seien.

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1 Rahmenbedingungen der Neuordnung des Zivilrechts in der Zweiten Polnischen Republik

1.1 Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

1.1.1 Wesentliche Konfliktfelder der Außen- und Innenpolitik

Politik und Wirtschaft der Zweiten Polnischen Republik standen von Beginn an vor existenziellen Herausforderungen.7 Im Bereich der Außenpolitik war der Verlauf der Staatsgrenzen umstritten. Die Folge waren weitere kriegerische Auseinandersetzungen (polnisch-sowjetischer Krieg 1920–1921) und eine sich bis 1923 hinziehende Klärung der Grenzfragen. Am Ende dieses Prozesses waren die Beziehungen zu den meisten Nachbarn (Deutsches Reich, Sowjetunion, Tschechoslowakei, Freie Stadt Danzig und Litauen) erheblich belastet. Anderes galt nur für Lettland und Rumänien.8 In der Innenpolitik hingegen stand in den Jahren 1919–1926 die Bildung einer handlungsfähigen Regierung im Vordergrund. Die zentrale Rolle in der Gesetzgebung spielte der Sejm, neben dem Senat die zweite Kammer des Parlaments. Das in Polen geltende Verhältniswahlrecht und die zersplitterte Parteienlandschaft führten zu einer Vielzahl von Parlamentsfraktionen.9 Dauerhafte Koalitionen und stabile parlamentarische Mehrheiten, auf die eine Regierung sich hätte stützen können, kamen nicht zustande.

Mit dem Staatsstreich Piłsudskis im Mai 1926 endete die parlamentarische Phase der Zweiten Polnischen Republik bereits nach wenigen Jahren. Durch Verfassungsänderung vom 2. August 1926 wurden die Rechte der Volksvertretung wesentlich beschnitten. Der Präsident konnte das Parlament auflösen und unter bestimmten Voraussetzungen Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Mit Gesetz vom selben Tage wurde der Präsident auch zum Erlass von Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft im Bereich der Neuordnung des Rechtswesens ermächtigt. Nachfolgend sind denn auch die Mehrzahl aller noch nicht abgeschlossenen zivilrechtlichen Projekte der seit 1919 bestehenden Kodifikationskommission ←21 | 22→ohne parlamentarische Beratung im Verordnungswege verabschiedet worden.10 Im weiteren Verlauf ging die Regierung dann immer mehr dazu über, den Sejm zu umgehen.11 An die Stelle des – von Piłsudski und seinen Anhängern als gescheitert erachteten – parlamentarischen Systems sollte die so genannte Sanacja, d. h. eine Politik der moralischen Gesundung des Landes treten. Es folgte die bis zum Kriegsbeginn andauernde Sanacja-Herrschaft des Piłsudski-Lagers, die Polen in ein autoritäres Staatswesen verwandelte.

1.1.2 Wirtschaftliche Folgen der Teilungszeit

Als Mammutaufgabe des neuen polnischen Staates erwies sich die Herstellung der inneren Einheit nach 120 Jahren Teilungszeit. Als deren Folge hatten sich die drei Teilungsgebiete auch wirtschaftich auseinander entwickelt: Der grenzüberschreitende Handelsverkehr zwischen den drei Gebieten war zum Ende der Teilungszeit bedeutungslos geworden, die Kreditinstitute waren in das jeweilige nationale Bankensystem integriert und die Verkehrsinfrastruktur war auf die drei Hauptstädte hin orientiert.12 Als plastisches Beispiel wird häufig auf das Eisenbahnnetz verwiesen, das nicht nur durch verschiedene Spurbreiten gekennzeichnet war, sondern auch durch unterschiedliche Dichte (feinmaschig in ehemals preußischen Gebieten, eher rudimentär in Ost- und Zentralpolen) sowie fehlende Anschlüsse über die alten Grenzen hinweg.13 Gravierende Unterschiede im wirtschaftlichen Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen des Landes kamen hinzu. Östliche und südöstliche Gebiete wiesen einen eklatanten Rückstand auf, während in der Wojewodschaft Śląsk (Schlesien), aber auch in Łódź und Warschau moderne Industrie vorhanden war.14 Zwar kannten auch andere Staaten dramatische Entwicklungsgefälle. Es spricht aber einiges dafür, dass die Situation Polens infolge der Teilungszeit besonders kompliziert war: Drei Landesteile, die bisher jeweils unterschiedlichen Volkswirtschaften angehörten, bildeten nun einen einheitlichen Wirtschaftsraum. Bisherige Einkaufs- und Kundenbeziehungen brachen ab, manche Märkte waren nicht mehr ←22 | 23→zugänglich. Einige Wirtschaftszweige (z. B. Chemie und Elektrotechnik) fehlten in Polen praktisch völlig.15

1.1.3 Heterogene Bevölkerungsstruktur

Auch die polnische Gesellschaft war in hohem Maße heterogen. Fast ein Drittel der polnischen Bevölkerung rechnete sich einer Minderheit zu.16 Die verschiedenen Minoritäten hatten kaum Gemeinsamkeiten – dies galt z. B. für die wirtschaftlich gut situierten Deutschen in den ehemals preußischen Gebieten einerseits und die häufig als Kleinbauern tätigen Ukrainer beziehungsweise Belarussen im Osten des Landes andererseits.17 Zudem war das Bildungsniveau extrem unterschiedlich: Die Analphabetenquote der Frauen auf dem Land variierte 1931 zwischen 1,6 Prozent in Schlesien und 71,4 Prozent in der Wojewodschaft Polesie.18 Eine der Ursachen des niedrigen Bildungsniveaus im Osten war, dass dort erst seit 1919 die allgemeine Schulpflicht bis zum 14. Lebensjahr galt.19 Der große Minderheitenanteil an der Gesamtbevölkerung ging mit einer entsprechenden sprachlichen Vielfalt einher. Aber auch die polnische Sprache selbst war in den drei Teilungsgebieten im Verlauf der letzten 120 Jahre in unterschiedlichem Maße durch die Sprache der jeweiligen Teilungsmacht beeinflusst worden.20 Zudem hatte die Teilungszeit zu einem „mentalen Entfremdungsprozess“21 der drei Landesteile beigetragen, der sich unter anderem in Vorurteilen der polnischen Bevölkerung untereinander niederschlug. So gab es bei der Posener Bevölkerung die Befürchtung, die neue Zentralregierung werde bisher geordnete Verhältnisse in Unordnung bringen, während man im ehemals ←23 | 24→österreichischen Galizien der Bevölkerung Zentralpolens Ahnungslosigkeit hinsichtlich der Errichtung einer neuen staatlichen Verwaltung unterstellte.22

1.2 Die rechtliche Ausgangssituation im Jahr 1918

Während der Teilungszeit hatten Österreich, Preußen und Russland den Geltungsbereich ihrer jeweiligen Rechte auf die von ihnen beherrschten Gebiete ausgedehnt.23 Bei Wiedererlangung der staatlichen Souveränität nach dem Ersten Weltkrieg kamen daher auf polnischem Staatsgebiet verschiedene ausländische Rechte zur Anwendung. Dieses Nebeneinander verschiedener Rechte betraf nicht nur einige isolierte Rechtsgebiete, sondern die gesamte Rechtsordnung, unter anderem das Zivilrecht sowie das Gerichtsverfassungs- und das Zivilprozessrecht.24 Infolgedessen galten Ende 1918 auf polnischem Staatsgebiet fünf Zivilrechte: das österreichische ABGB, das BGB, der russische Svod Zakonov, ungarisches Recht und das französisch-polnische Zivilrecht in Gestalt des KN.25

1.2.1 Die zivilrechtliche Entwicklung im preußischen Teilungsgebiet

In Preußen stand man nach der zweiten polnischen Teilung im Jahr 1793 vor der Frage, welches Recht in den annektierten Gebieten zur Anwendung kommen sollte. Hierfür bot sich das im Entwurf vorliegende Allgemeine Gesetzbuch für die preußischen Staaten an. Dessen In-Kraft-Treten zum 1. Juni 1792 war kurz zuvor aufgrund politischer Widerstände suspendiert worden.26 Die zweite polnische Teilung lieferte nun einen Anlass, das Gesetz nach kurzer Überarbeitung 1794 doch noch als Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten (ALR) in ganz Preußen in Kraft zu setzen.27 Das als subsidiäre Kodifikation angelegte ALR kam in den 1793 annektierten Gebieten, d. h. in der neuen Provinz Südpreußen, ←24 | 25→zunächst nur nachrangig nach polnischem Recht zur Anwendung, bereits ab 1797 jedoch ohne diese Beschränkung.28 Nach dem Wiener Kongress galt das ALR auch auf dem Gebiet des neu entstandenen Großherzogtums Posen29 sowie (mit regionalen Unterschieden) in den bereits im Zuge der ersten Teilung zu Preußen gekommenen Gebieten Westpreußens.30

Mit der Reichsgründung 1871 wurden die nach 1815 bei Preußen verbliebenen polnischen Gebiete Teil des Deutschen Reichs. Infolgedessen trat dort überall zum 1. Januar 1900 das BGB in Kraft. Dies bedeutete u. a., dass 1910 in den preußischen Ostprovinzen (Posen, Westpreußen, Schlesien) mehr als drei Millionen polnischsprachige Menschen im Geltungsbereich des BGB lebten.31 Damit verfügte das preußische Teilungsgebiet über ein Zivilrecht, das erheblich jünger war als die Gesetzbücher der anderen Teilungsgebiete.

1.2.2 Französisch-polnisches Zivilrecht in Kongresspolen

In dem von Napoleon in Zentralpolen gegründeten Herzogtum Warschau galt seit 1808 der Code civil (CC), zeitweilig auch Code Napoléon genannt; dem folgt die polnische Bezeichnung Kodeks Napoleona. 1815 wurde auf dem Wiener Kongress das Königreich Polen geschaffen, welches zunächst nur in Personalunion mit Russland verbunden war und wegen der Umstände seiner Entstehung auch Kongresspolen genannt wurde. Trotz der Niederlage Napoleons blieb der KN in diesem zentralpolnischen Teil des russischen Teilungsgebiets in Kraft. Das französisch-polnische Zivilrecht wurde auch dann beibehalten, als das Königreich Polen im Laufe des 19. Jahrhunderts letzte Reste seiner verfassungsrechtlichen Autonomie an Russland verlor und zunehmend in das russische Kaiserreich eingegliedert wurde.

Während der Geltung des KN im Herzogtum Warschau und nachfolgend in Kongresspolen kam es zu Änderungen insbesondere im Sachen- und ←25 | 26→Familienrecht.32 Das Erste Buch und einige Teile des Dritten Buchs des KN wurden 1825 durch originär polnische Vorschriften ersetzt (Kodeks Cywilny Królestwa Polskiego – Zivilgesetzbuch für das Königreich Polen).33 Weitere polnische zivilrechtliche Regelungen waren im Ehegesetz von 1836 und zwei Gesetzen von 1818 und 1825 enthalten, die das Hypothekenrecht und andere Bereiche des Immobiliarsachenrechts betrafen.34 Der schuldrechtliche Teil des Gesetzbuchs blieb hingegen unverändert und war zum Ende der Teilungszeit in Kongresspolen geltendes Recht. Französisches Recht war auch in anderen Rechtsbereichen anwendbar, so z. B. französisches Handelsrecht35 und (von 1808–1864) die französische Zivilprozessordnung36.

Im Mutterland des Code civil blieb das allgemeine Schuldrecht seit 1804 im Wesentlichen unverändert.37 Der französische Gesetzgeber überließ die Anpassung und Ausfüllung der zahlreichen Regelungslücken der Rechtsprechung, die bereits kurz nach In-Kraft-Treten des Gesetzbuches begann, das französische Schuldrecht fortzuentwickeln.38 Infolgedessen bestand das französische Vertrags- und sonstige Schuldrecht schon bald überwiegend aus Richterrecht.39 Die kongresspolnische Rechtsprechung stand in gleicher Weise vor der Aufgabe der Ergänzung des lückenhaften Schuldrechts des KN, folgte dabei aber nicht unbedingt französischen Mustern. In der Literatur finden sich Hinweise, dass kongresspolnische Gerichte in manchen Fällen Lösungsansätze aus anderen Rechten übernahmen.40 Insoweit ist auch die Feststellung zutreffend, dass ←26 | 27→der KN während der Teilungszeit in Polen durchaus ein Eigenleben geführt habe.41

1.2.3 Der russische Svod Zakonov in Ostpolen

Das ehemals russische Teilungsgebiet umfasste neben dem zuvor erwähnten Kongresspolen weitere Gebiete in Ostpolen, in denen nicht der KN, sondern russisches Zivilrecht galt. Dieses war nicht kodifiziert (im Sinne einer systematischen Ordnung des Rechtsgebiets in einem Gesetzbuch). Vielmehr war die Fülle aller geltenden Einzelgesetze in einer Gesetzessammlung in 15 Bänden, dem erstmals 1832 veröffentlichten Svod Zakonov, zusammengefasst.42 Das Zivilrecht (Band X Teil 1 Svod Zakonov) wurde allgemein wegen seiner Lückenhaftigkeit, des kasuistischen Aufbaus sowie des Fehlens einer Systematik und einer einheitlichen Terminologie als reformbedürftig angesehen.43 Als Folge dieser Defizite beruhte ein Drittel des russischen bürgerlichen Rechts auf Richterrecht.44 Die genannten Mängel schlugen sich auch im Schuldrecht nieder. Fehlende Definitionen und fehlende Regelungen der verschiedenen Vertragstypen, die Verortung des Kaufrechts im Sachenrecht, zahlreiche Formvorschriften und andere Kritikpunkte begründeten die Einschätzung, das Schuldrecht des Svod Zakonov sei noch unzureichender ausgeprägt gewesen als andere Rechtsbereiche.45 Kodifikationsversuche wurden bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufgegeben.46 In den polnischen Ostgebieten galt daher 1918 unverändert Band X Teil 1 des Svod Zakonov (Ausgabe 1914).47

Details

Seiten
264
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631790090
ISBN (ePUB)
9783631790106
ISBN (MOBI)
9783631790113
ISBN (Hardcover)
9783631786611
DOI
10.3726/b15620
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Schuldrecht Rechtsgeschichte Rechtsvergleichung Zwischenkriegszeit Roman Longchamps Ernest Till Ludwik Domański Kodifikationskommission Rechtsvereinheitlichung Polen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 263 S., 4 s/w Abb., 2 Karten

Biographische Angaben

Antje Franz (Autor:in)

Antje Franz hat nach dem ersten juristischen Staatsexamen 1986 in Polen studiert. Sie arbeitet seit 1995 als Volljuristin in der Bundesverwaltung und lebt in Berlin.

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Titel: Das Leistungsstörungsrecht des polnischen Obligationsgesetzbuchs von 1933 und das deutsche Recht
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