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Klöster, Kultur und Kunst – Süddeutsche Sakrallandschaft in Spätmittelalter und früher Neuzeit

Unter Mitarbeit von Lisa Bauereisen und Christoph Gunkel

von Wolfgang Wüst (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 374 Seiten

Zusammenfassung

Die napoleonische «Flurbereinigung» zu Beginn des 19. Jahrhunderts zerstörte vor allem im deutschen Südwesten eine bereits im Spätmittelalter ausgeprägte und in der Frühen Neuzeit weiterentwickelte ordensumfassende Kulturlandschaft. In den zugehörigen Klöstern und Stiften entfalteten sich über Jahrzehnte hinweg in den verschiedensten zivilisatorischen Feldern kulturelle Highlights. Die Beiträge des vorliegenden Bandes präsentieren vielfältige Ansätze zur Untersuchung der sakralen Landschaft Süddeutschlands und der Kulturleistungen geistlicher Institutionen vom späten Mittelalter bis zur Säkularisation und der unmittelbaren Zeit darüber hinaus. Der Bogen der Untersuchungen spannt sich aus über die Themenbereiche Wissenschaft und Bildung, materielle Kultur, Literatur und Kunst sowie Raum und Mobilität.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Verzeichnis der AutorInnen und MitarbeiterInnen
  • Vorwort des Herausgebers
  • Vorwort von Erzabt Korbinian Birnbacher OSB
  • Themeneinführung
  • Wolfgang Wüst: Themeneinführung – Teil 1 Geistliches Territorium und sakrale Landschaft. Zum Stand der Forschung
  • Carola Fey: Themeneinführung – Teil 2 Zusammenfassung
  • Sektion 1: Wissenschaft und Bildung
  • Alois Schmid: Späthumanismus im Jesuitenkolleg St. Salvator zu Augsburg.
  • Wolfgang E. J. Weber: Die Universität Dillingen in der frühneuzeitlichen Kulturgeschichte Süddeutschlands. Versuch einer Neubestimmung
  • Holger Fedyna: Vom Reichsstift in das lange 19. Jahrhundert – Zur Bildungsgeschichte der Benediktinerabtei Neresheim
  • Felicitas Söhner: Joseph Anton Schneller und die „Dillingische Schreibschule“ – zur Entwicklung der Normalschulen im Hochstift Augsburg im Zeitalter der Säkularisation
  • Sektion 2: Materielle Kultur
  • Wolfgang Wüst: Der verlorene Schatz – Die Rekonstruktion fürstbischöflicher Burg-, Schloss- und Residenzausstattung im Spiegel der Inventare. Das Hochstift Augsburg als Modell
  • Carola Fey: Naturalienkabinette in Klöstern des 18. Jahrhunderts.
  • Sektion 3: Literatur und Kunst
  • Klaus Wolf: Zwischen Melker Reform und Aufklärung. Der literaturgeschichtliche Beitrag oberdeutscher Klöster
  • Ulrich Scheinhammer-Schmid: Vorstöße in eine terra incognita des 18. Jahrhunderts. Eine Problemskizze zum Thema Aufklärung und Ordens-Theater
  • Gisela Drossbach: Kunst und Caritas – eine Spurensuche in bayerischen und schwäbischen Hospitälern
  • Sektion 4: Raum und Mobilität
  • Norbert Jung: Heilsökonomie. Prälatenklöster als Impulsgeber des Wallfahrtswesens
  • Lisa Bauereisen: Über die Suevia Sacra in die Welt – Reisen und Reiseerfahrungen aus Franken
  • Sabine Wüst: Die Kreuzzüge als Teil einer mittelalterlichen Sakrallandschaft –
  • Abkürzungen
  • Orts- und Personenregister

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Vorwort des Herausgebers

Der hier vorliegende Band resultiert zu einem Teil aus einer von mir und dem Bezirksheimatpfleger von Schwaben, Herrn Dr. Peter Fassl, am 28. und 29. März 2019 in der Schwabenakademie Irsee abgehaltenen Tagung zum Thema: Klöster, Kultur und Kunst in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Eine Leistungsbilanz zur Sakrallandschaft im deutschen Südwesten. Zeitnah konnten wir – dem Wunsch vieler Interessierter entsprechend – über die Einwerbung weiterer Beiträge und die engere Themenfokussierung einiger Vorträge für den Peter Lang Verlag nun eine Bilanz zur primär süddeutschen Sakrallandschaft vorlegen. Zeitlich gesehen erstrecken sich die Beiträge von den Kreuzzügen des 12. Jahrhunderts – daran nahmen insbesondere süddeutsche Kreuzfahrer teil – bis zu den Nachwirkungen der Säkularisation im „langen“ 19. Jahrhundert am Beispiel der Reichsabtei Neresheim und den Versteigerungen fürstbischöflicher Schätze im ehemaligen Hochstift Augsburg. Konzeptioneller Ausgangspunkt war die Überzeugung, dass die napoleonische „Flurbereinigung“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem im deutschen Südwesten eine bereits im Spätmittelalter ausgeprägte und in der Frühen Neuzeit weiterentwickelte ordensübergreifende Kulturlandschaft zerstörte. In den zugehörigen Klöstern und Stiften – viele wurden seit dem 15./16. Jahrhundert für reichsunmittelbar erklärt – hatten sich über Jahre hinweg in den verschiedensten zivilisatorischen Feldern kulturelle, politische und ökonomische Höhepunkte entwickelt. Dazu zählten auch die äußeren dinglichen Kennzeichen prosperierender Klöster, wie sie sich in den Kirchen-, Turm- und Konventsbauten, in der territorialen Landvermessung, in der Ämter- und inkorporierten Pfarrstruktur, der Teichwirtschaft, der Acker-, Feld-, Vieh- und Waldbewirtschaftung, den Prozessionen, dem Wallfahrtszeremoniell und vielen anderen Bereichen manifestierten. Hinzu kamen die das damalige Europa mitprägenden Bildungsreformen, die beispielsweise von der Universität in Dillingen, vom Jesuitenkolleg St. Salvator zu Augsburg, von den Ordensreformen oder, seit der Aufklärung dann, auch von den zahlreichen Normalschulen ausgingen.

*

Es ist wiederum dem Interesse des Peter Lang Verlags – hier insbesondere des leitenden Lektors Herrn Dr. Hermann Ühlein –, den disziplinierten Autorinnen und Autoren, der profunden und engagierten Buchredaktion unter Federführung von Frau Lisa Bauereisen, M.A., und Herrn Christoph Gunkel, B.A., und last but not least der Unbeirrbarkeit des Herausgebers geschuldet, dass der Band ←11 | 12→zeitnah abgeschlossen werden konnte. Mein ganz besonderer Dank geht ferner an Frau Dr. Carola Fey für die Zusammenfassung aller Beiträge und an Herrn Christoph Gunkel, B.A., für die Arbeiten am umfangreichen Orts- und Personenregister.

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Das Vorwort von Erzabt Dr. Korbinian Birnbacher OSB (Stift St. Peter in Salzburg), Präsident der Bayerischen Benediktinerakademie, ist schließlich wahrlich mehr als ein eindrucksvolles Geleit des Bandes. Es ist vielmehr ein Aufruf an uns alle, sich mit Themenfeldern zur Reichskirche weiterhin wissenschaftlich intensiv zu beschäftigen.

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Ich wünsche dem ansprechend gestalteten Band als Ganzem und den Einzelbeiträgen der Autoren eine gute Aufnahme in den Medien und im Buchhandel sowie eine nachhaltige Rezeption in Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Erlangen, im Sommer des Jahres 2019
Wolfgang Wüst (Herausgeber)

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Vorwort von Erzabt Korbinian Birnbacher OSB

„Ich bin überzeugt davon, dass Klöster zu den wichtigsten Orten unserer Zeit gehören!“ Diese Worte stammen nicht etwa von einem Nostalgiker, der sich an die sogenannte gute alte Zeit erinnern möchte, sondern vom gegenwärtigen Abt-Primas der Benediktiner, Gregory Polan OSB, einem US-Amerikaner, der diesen Satz unmittelbar nach seiner 2016 erfolgten Wahl in Rom sprach. Klöster sind Andersorte, sie erwecken tatsächlich manchmal den Eindruck, als sei die Zeit stehengeblieben. Auf jeden Fall sind Klöster aber auch spirituelle Orte mit einer unglaublichen Ausstrahlung. Ganz von selbst wurden sie zu Orten der Kunst und Kultur.

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Wie sehr ein Ort oder eine Region stolz ist auf sein Kloster, das möglicherweise schon seit der Säkularisation nicht mehr als solches besteht, das aber heute vielleicht als ein Kulturzentrum ganz präsent ist in einer Region und sie prägt, das darf ich immer wieder erleben, wenn ich – gleichsam als der Repräsentant einer Welt von Gestern – als Abt des ältesten, heute noch bestehenden Klosters des deutschen Sprachraumes zu Stifts- oder Klosterjubiläen eingeladen werde, um mit der stolzen Bevölkerung ein Pontifikalamt zu feiern. Großer Respekt und echte Wertschätzung für die Leistung der Mönche und Kanoniker wird da spürbar und erfahrbar. Erst nach der Auslöschung der Klosterlandschaft Bayerns wurde schmerzhaft bewusst, welch ein herber Verlust der Untergang der Klosterkultur war. Zerknirscht musste gegen Ende seiner Amtszeit ein König Max I. Joseph einräumen: „Aber, Montgelas, was sind wir Esel gewesen, daß wir so mit den Klöstern umgingen.“1

*

Heute wird gottseidank sehr respektvoll mit den Klöstern und ihrer Kultur umgegangen. Für das Zustandekommen und die Publikation dieses Bandes danke ich Herrn Prof. Dr. Wolfgang Wüst und allen Autorinnen und Autoren dieses Bandes aus ganzem Herzen. Möge dieses Buch gerne gelesen werden und erneut Interesse an Klöstern, Kultur und Kunst finden.

Erzabt Korbinian Birnbacher OSB
Erzabtei St. Peter in Salzburg

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1 Zitiert nach: Michael Kaufmann, Säkularisation, Desolation und Restauration in der Benediktinerabtei Metten (1803–1840) (Entwicklungsgeschichte der Benediktinerabtei Metten 4), Metten 1993, S. 268.

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Wolfgang Wüst

Themeneinführung – Teil 1
Geistliches Territorium und sakrale
Landschaft. Zum Stand der Forschung

Der aus Nesselwang stammende, lange regierende Augsburger Fürstbischof Heinrich von Knöringen (1599–1646) beklagte 1623, dass „seine“ Domherren in der Stadt „ohne gebührendes Röckhlen oder Talar in Hosen […] auf ein den Geistlichen ganz untaugliche Art mit kurzen Mändtel herumbreütten, daß sie von menigelich [Jedermann], der selbige sonst nit kennet, mehr für Stattjunckern als Dombherren gehalten werden müessen; wann dann hierdurch […] große Ärgernuß verursachet wird.“1

Abb. 1: Fürstbischof Heinrich von Knöringen (1599–1646), Kupferstich von Cornelis Danckaerts, Amsterdam 1642. Bildnachweis: Bibliotheek van het Vredespaleis, Den Haag, Niederlande.

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Trotz eingeleiteter Gegenreformation, anhaltender Volksfrömmigkeit und den Empfehlungen des Konzils von Trient schien die Verweltlichung der Reichskirche im 17. Jahrhundert kein Ende zu nehmen. Die Profanierung und Aristokratisierung vieler Klöster, Stiftungen und Stifte war zuvor schon vor der Reformation im 15. Jahrhundert aufgefallen und kritisiert worden. So trug beispielsweise der Banzer Abt Alexander von Rotenhan (1529–1554) unter seinem Ordenshabit zeitlebens einen schützenden Eisenpanzer, nachdem auf ihn aus der Mitte des Konvents heraus ein Anschlag verübt worden war.2 Die fränkische Benediktinerabtei Banz war da nur ein Fall unter vielen gewesen. Etwas später entwickelte der Exjesuit, Mineraloge und Freimaurer Ignaz von Born (1742–1791) – unter dem Pseudonym Johannes Physiophilus stand er wenig überraschend auf dem päpstlichen „Index librorum prohibitorum“ – nach pseudo-naturwissenschaftlichen Methoden ein kirchliches Monsterbild. In seiner 1783 in Wien erschienenen Spottschrift „Specimen monachologiae, methodo Linnacana“ – sie wurde auch ins Deutsche3, Englische und Französische übersetzt – definierte er als „Muster“ einen Mönch als „menschenähnliches Tier, bekuttet, des Nachts heulend […] zweibeinig, aufrechtgehend, mit gebeugtem Rücken und geneigtem Haupt, stets verhüllt“.4

Säkularisationsbereite Späher und kirchenkritisch Reisende sahen gegen Ende des Alten Reiches – sicher allzu vordergründig – geistliche Staaten5 in ←18 | 19→einen Zustand des Stillstandes, der Hoffnungslosigkeit und realitätsferner Phantastereien verfallen. Im Bamberger Hochstift lebten nach solcher Einschätzung nur Bürger, die „Ruhe allem vorziehen, und diese gibt es nicht wenige, finden dann doch, daß man unter dem Krummstab“ nicht nur gut leben, sondern „ganz gemählich verdauen könne“.6

Für die Domstadt Freising waren ähnliche Garanten lebenswerter Glückseligkeit schnell benannt: „ein unversiegender Bierkrug, ungestörter Müßiggang“ und vor allem viele stille Andachten.7 In der Universitäts- und Bischofsstadt Dillingen konnte man 1802 zwar noch immer Philosophie studieren, doch „kein Philosoph darf sich blicken lassen. Das Wort ist ein Greuel“, stattdessen herrsche kritik- und bildungsferne Ruhe.8

Abb. 2: Ostansicht von Freising, 1698. Ölgemälde von Valentin Gappnigg (1661/62–1736). Bildnachweis: Fürstengang der ehemaligen Bischofsresidenz Freising.

Abb. 3: Ansicht der fürstbischöflichen Residenzstadt Dillingen an der Donau, Radierung 33 x 13 cm, nach Matthäus Merian, Frankfurt am Main 1650. Bildnachweis: Studienbibliothek Dillingen.

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In die barocke Residenzstadt Eichstätt des gleichnamigen fränkischen Fürstbistums zu fahren, lohnte sich nicht, denn die Stadt „sey so ein elendes Nest, in einem Winkel von Bergen hingeworfen, daß sich [selbst] die Natur desselben schäme, und solches deswegen mit einem ewigen Nebel bedeke.“9 Der in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts verbreiteten Nebel- und Unwettermetapher als Symbol für Kriminalität10, unorthodoxe und nachlässige Strafjustiz11, fehlende Aufklärung, ungeordnete Staatsverhältnisse und chaotische Regierungssysteme – kurzum für „bad governance“ – begegnete man auch andernorts. Bisweilen sorgte Weihrauch dafür, dass sich sakralisierte Nebelschwaden selbst bei Sonnenschein nicht atomisierten. Der aus katholischem Milieu stammende niederbayerische ←20 | 21→Bildungsreisende Johann Pezzl (1756–1823) besuchte während seiner 1784 veröffentlichten Reise im Bayerischen Reichskreis jedenfalls gleich zu Beginn die Bischofs- und Domstadt Passau. Er kannte die Stadt als ehemaliger Novize des Benediktinerklosters Oberaltaich vor allem wegen des Passauer Vertrags von 1552, dem unmittelbaren Vorläufer des Augsburger Religionsfriedens von 1555. Die Passauer Bürger waren nach Pezzls Beobachtung durchaus sympathische Leute, sie seien „lebhaft und guten Humors“. Doch seine Strukturkritik folgte umgehend: „Wäre die Stadt nicht so sehr mit Pfaffen angefüllt, die es bekanntlich noch immer für nöthig halten, die natürlichsten Dinge in heiligen Nebel einzuhüllen, so würde sie kein unwitziges Völklein beherbergen. Dieses Nebelsystem drückt aber hier desto mächtiger, weil die Geistlichen nicht bloß predigen, sondern herrschen.“12 Der Vorwurf, dass geistliche Staaten als reichsabhängige, einseitig agrarisch strukturierte, unzureichend militarisierte, konsensbedürftige und politisch entmachtete Wahlstaaten „Monstren“ innerhalb des „Reichsmonstrums“ seien, wie es Alexander Jendorff13 einleitend für das Erzstift Mainz 1514 bis 1647 formulierte, tritt im endzeitlichen Reisebild zu Regensburg hervor.

Regensburg ist eine finstere, melancholische und in sich selbst vertiefte Stadt: Dieß ist der Gruß, mit dem sie alle Reisebeschreiber ansprechen; und um die Wahrheit zu gestehen, muß man sagen, daß er richtig ist. Der Ort ist bekanntlich eine Reichsstadt; folglich hat die Spißbürgerei da wie in den meisten Reichsstädten grosse Souverainsrechte, davon einem die Merkmale beim ersten Eintritt in die Augen fallen. Die Stadtwache, die Kleidungstracht, das Pflaster, die Mundart, die Manieren, alles spricht laut, daß da Reichsbürger wohnen. Die engen Gassen, die Unregelmäßigkeit und der Ruß an den Häusern beurkunden das hohe Alter der Stadt.“ Und als merkwürdig fiel es auf, „daß diese protestantische Stadt fünf katholische Reichsfürsten in ihren Mauern hat. Es sind der Fürst = Bischof, der Fürst von Thurn = Taxis, der Fürst von Emerann, die Fürstinnen von Obermünster und Niedermünster“.14

Abb. 4: Die Reichs-, Dom- und Stiftsstadt Regensburg, 1493. Bildnachweis: Hartmann Schedel, Nürnberger Weltchronik, Nürnberg 1493, fol. 97v und 98r.

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Sicher halten diese hastig gezeichneten Befunde zur letzten Stunde geistlicher Staaten einer quellenkritischen Prüfung nicht stand. Die Vernachlässigung, bisweilen sogar die bewusste Negierung von Fragen nach der Bedeutung, den spezifischen Ausprägungen und Unterschieden geistlicher Staatlichkeit, regionaler Sakralität und reichskirchlich höfischer Zentralität standen in krassem Gegensatz zur kulturellen und politischen Stellung geistlicher Fürsten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Die Mittelpunkte geistlicher Hofkultur und kirchlicher Standesherrschaft strahlten selbst noch am Ende des Alten Reiches weithin aus. Geistliche Territorien prägten trotz ihres politisch „weichen“ Status15 als Wahlstaaten die politische, kulturelle und ökonomische Landkarte Mitteleuropas. Innerhalb des Corpus Catholicorum als der organisatorischen Verbindung geistlicher Staaten und katholischer Reichsstände auf den Reichstagen nach 1648 entwickelte sich ein politisches Forum, aus dem man den Reichstag selbst gegen Urteile des Reichskammergerichts und des Reichshofrats anrufen konnte. Karl Härter zeigte jüngst, dass unsere Zielgruppe auf ←22 | 23→der geistlichen Bank im Fürstenrat nicht nur formal mit drei Stimmen im Kurfürstenkollegium, einer herausgehobenen Funktion seitens des Mainzer Kurfürsten als Erzkanzler und „zweiter Mann“16 im Reichsverband und insgesamt 40 Reichsständen zahlenmäßig präsent war. Auch blieben noch 1792 über die beiden Kurienstimmen der Reichsprälaten weitere 19 über das Rheinische und 23 Abteien beziehungsweise Propsteien über das Schwäbische Kollegium am Reichstagsgeschehen zu Regensburg beteiligt. Nein, die geistlichen Reichsstände waren nicht so sehr als Konkurrenten, wie die ältere Forschung annahm, sondern vielmehr als politisch vernetzte Partner am Reichstag präsent. Defensive Reaktionen im besser untersuchten Corpus Evangelicorum lassen jedenfalls darauf schließen. Doch das Kommunikationsnetz setzte mitunter auf langwierige Entscheidungsabläufe, die sich auch in den entsprechenden Kurien17 und Ausschreibenden Kanzleien18 der Reichskreise fortsetzten, und es war angewiesen auf Konsensbildung.19

Die Phänomene geteilter Macht, dynastischer Brüche und eines auf Konsens bedachten Regierungssystems bedürfen jedoch der näheren Analyse. Sie standen im Widerspruch zu absolutistischen Leitbildern und zum vielfach ←23 | 24→ersehnten Fortschritt durch Militarisierung und Disziplinierung. Die Kirchenkritik der Aufklärer – egal, ob berechtigt oder unberechtigt vorgetragen – führt uns ein bis heute bestehendes Forschungsdesiderat vor Augen. Es fehlt noch immer an epochenübergreifenden vergleichenden Strukturanalysen zur Reichskirche, insbesondere aber zu ihren regionalen Ausformungen im Regierungs- und Staatsaufbau. Dabei könnte man seit Spätmittelalter und Humanismus, wie Wolfgang E. J. Weber zeigte, durchaus auf politiktheoretische Traktate und reichspublizistische Debatten zurückgreifen.20 Die Frage nach einer realitätsnahen Analyse geistlicher Regierungssysteme stellt sich allerdings für die Staatstheorie, die Ökonomie und die aufkommende Policeywissenschaft21 nach der Reformation. Die meisten frühneuzeitlichen Texte stammen aus dem lutherischen, reformierten oder calvinischen Universitäts-, Bildungs- und Kulturkreis. Das heißt, dass gelehrte und belesene Verfasser bis hin zu Samuel Pufendorf (1632–1694) – er wurde 1632 als fünftes von acht Kindern im lutherischen Pfarrhaushalt von Esaias Elias Pufendorfer und Ehefrau Margarete geboren – geistliche Staaten als Folge früher Säkularisationen nur aus zweiter Hand kannten. Andere Autoren frühmoderner Staatslehre, wie der Diplomat Philippe de Béthune (1566–1649), dessen Verwandtschaft trotz calvinischen Elternhauses mehrheitlich katholisch blieb, haben dagegen ein Rezeptionsproblem. Das galt zwar nicht für den zeitnahen Bekanntheitsgrad seines 1632 erschienenen Hauptwerks „Le Conseiller d’Estat: Ou Recueil des plus grandes considerations servans au maniement des affaires publiques“ – es erlebte bis 1684 fünfzehn Auflagen und wurde ←24 | 25→ins Italienische und ins Englische übersetzt –, aber es gilt für die Forschung des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Erst jüngst verwies Wolfgang E. J. Weber auf die große Bedeutung Béthunes für die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte.22

Angesichts eines keineswegs umfassenden Analyseangebots zu geistlichen Staaten in den Policey- und Staatswissenschaften der Frühmoderne sind zusätzliche Theorieangebote Betroffener nicht uninteressant. So leitete der Leibarzt des letzten Augsburger Fürstbischofs Clemens Wenzeslaus von Sachsen, Dr. Joseph Georg Franz von Paula Ahorner (1764–1839), seine seit dem Jahr 1813 aufgezeichneten Memoiren mit populärphilosophischen Reflexionen zum bischöflichen Regierungsstil ein. Ahorner notierte, dass „ein Fürst sehr viel Kopf, aber nicht mehr Herz haben soll, als er nothwendig hat, um kein Despot zu seyn, weil er sonst im entgegengesetzten Falle aus zu vieler Güte und übertriebenem Zutrauen zu seinen Umgebungen, die dasselbe jeden Augenblick mißbrauchen, oft ein ungerechter Fürst gegen seinen Willen werden muß“. Der Zwiespalt des Bischofs als Hirte, Seelsorger, Gerichts-, Kriegs- und Steuerherr wird hier von einem seiner Fürstendiener beschrieben. Danach sollte ein guter Regent mit Härte und Milde angemessen verfahren. Es bleibt daher für Ahorner die Frage noch immer unentschieden, „ob ein despotischer oder ein übermässig guter, aber aus Güte und Misstrauen aus sich selbst schwacher Fürst grösseres Unglück verursache? – der despotische Fürst wird von Schurken gewöhnlich gefürchtet, der zu gute von denselben immer mißbraucht und durch Ränke zu Handlungen verleitet, an denen sein Herz nie Antheil hat noch haben konnte“.23

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Der unbefriedigende staatstheoretische Diskurs kann ferner auch durch die Analyse der zahlreich erhaltenen Architektur-, Bau- und Bildprogramme in den Residenzen geistlicher Landesfürsten ergänzt werden. Dieser interdisziplinär vielversprechende Schlüssel zur herrschaftsbezogenen Ikonographie ist seit langem eine Domäne der Kunstgeschichte24, zusehends stärker bedient sich aber auch die neuere Kultur- und Landesgeschichte der Macht dieser Bilder. In der reichskirchlichen Ikonographie findet sich die Kompensation für oft erwähnte Defizite wie fehlende dynastische Stabilität. In der mittelfränkischen Landkomtur Ellingen des Deutschen Ordens, wo man im 18. Jahrhundert bestehende Vorbauten zu einer der bedeutendsten Barockresidenzen Süddeutschlands erweiterte, ließ der Bauherr im ersten Obergeschoss jedenfalls alle Namen und Wappen seiner Amtsvorgänger anbringen.

Heraldisch und dynastisch präsentierten sich dort an den Wänden immerhin 49 Landkomture für die Ballei Franken und 67 Hauskomture für die Herrschaft Ellingen25. Diese untere Porträtserie wurde im zweiten Stock ergänzt durch lebensgroße Abbildungen der fünfzehn, seit 1526 in Mergentheim residierenden Hoch- und Deutschmeister. Programmatischer Höhepunkt ist aber die Darstellung des „guten“ Regiments im zentralen Deckenfresko dieses Stockwerks.

Abb. 5: Deutschordensresidenz Ellingen um 1740, Öl auf Leinwand. Die Vedute zählte zur Repräsentation des Landkomturs in der Deutschordensballei Franken, die nach der Säkularisation bis 1939 im Besitz des Fürstenhauses Wrede war. Bildnachweis: Bayerische Schlösser-, Gärten- und Seenverwaltung, Schloss Ellingen.

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Abb. 6: Fresko des „guten“ Regiments im Festsaal der Ellinger Residenz, 2009. Bildnachweis: Autor.

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Der Fürst, cäsarengleich mit Lorbeerkranz und Olivenbäumchen, positioniert sich im Kreis der Allegorien und Tugenden. Potestas mit Schwert und Liktorenbündel, Fortuna mit Velum und Schale und der Ring der Ewigkeit, den ein Putto präsentiert, begleiten das geistliche Regiment.26 Flora, die Blumengöttin, überreicht dem Fürsten zusammen mit Saturn einen Korb voller Blüten, der die fruchtbringende und benevolente Regierung im Ordensland symbolisiert.27 Darstellungen des „guten“ Regiments gehören wie in der Deutschordensherrschaft Ellingen sicher auch andernorts zum Kanon geistlicher Fest- und Repräsentationsräume, doch harrt ihre selbstinszenierte regionale Unterschiedlichkeit noch einer vergleichenden Analyse. Ellingen war durch die Struktur einer geistlichen Residenz so stark geprägt, dass auch die städtischen Katasterpläne des 19. Jahrhunderts ihr Signum trugen.

Details

Seiten
374
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631805183
ISBN (ePUB)
9783631805190
ISBN (MOBI)
9783631805206
ISBN (Hardcover)
9783631784334
DOI
10.3726/b16278
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Germania Sacra Ordensgemeinschaften Schwaben Franken Schulgeschichte Spitäler
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 374 S., 57 farb. Abb., 6 s/w Abb.

Biographische Angaben

Wolfgang Wüst (Band-Herausgeber:in)

Wolfgang Wüst war von 2000 bis 2019 Inhaber des renommierten Lehrstuhls für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

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