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Die Auswirkungen der Ost-Erweiterung auf die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union

Fallstudien zu den Haushaltsverhandlungen der EU

von Kerstin Reget (Autor:in)
©2020 Dissertation 532 Seiten

Zusammenfassung

Es ist ein altbekannter Mechanismus, dass insbesondere in Krisenzeiten das Vertrauen in bewährte Institutionen schwindet. Dies gilt auch für die Europäische Union, deren Zusammenhalt und Aufnahmefähigkeit in diesen Tagen mehr denn je in Frage steht. Gegenstand des Buches ist die Untersuchung der potenziellen Auswirkungen der Ost-Erweiterungen auf die Handlungsfähigkeit der EU. Wie gestaltet sich nach Aufnahme der neuen Mitgliedstaaten die Entscheidungsfindung im Ministerrat sowie im Europäischen Rat, also in den Institutionen, die als Hauptinstanz für die Vertretung nationaler Interessen gelten? Und wie funktionieren nach der jüngsten Vertragsreform von Lissabon die Abläufe im interinstitutionellen Kompetenz- und Entscheidungsgefüge? Ist der Europäischen Union der Spagat zwischen der Erweiterung nach Mittel- und Ost-Europa und der Wahrung ihrer ‚Capacity‘ (auch mit Blick auf die vollzogenen institutionellen Reformen) gelungen? Diese Fragestellungen beantwortet die Autorin anhand von zwei Fallstudien zu den Verhandlungen um den EU-Haushalt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Teil 1: Analyserahmen
  • 1. Einleitung
  • 2. Entwicklung des Forschungsdesigns: Fragestellung und Auswahl der Fallstudien, Bestimmung der Untersuchungsvariablen und Aufstellung der Hypothesen
  • 3. Methodik
  • 4. Stand der Forschung und Präzisierung der Forschungslücke
  • 5. Theorienkonzept
  • 5.1. Die Klassiker der Europäischen Integrationstheorie als geeignetes Theoriengerüst?: Neofunktionalismus und Intergouvernementalismus auf dem Prüfstand
  • 5.2. Bestimmung des Theorieninstrumentariums: Rationalistischer und Soziologischer Institutionalismus
  • 6. Einführung in die Entscheidungsanalyse
  • Teil 2: Forschungskontext
  • 1. Die Auswirkungen der Ost-Erweiterung auf die primärrechtliche Entwicklung der Institutionen und Abstimmungsverfahren der Europäischen Union: Die Vertragsreformen von Nizza und Lissabon
  • 1.1 Primärrechtliche Einflussschranken: Die Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit
  • 1.2. Institutionen- und Verfahrensreform
  • 1.2.1. Reform der Stimmengewichtung im Rat: Qualifizierte Mehrheit und Sperrminorität
  • 1.2.2. Neue Rechtsstellung des Europäischen Rates
  • 1.2.3. Die Neuordnung der Europäischen Kommission: Hierarchisierung statt Verkleinerung?
  • 1.2.4. Stärkung der Rechte des Europa-Parlamentes und Neuvergabe der Abgeordnetenmandate
  • 2. Die Finanzverfassung der Europäischen Union
  • 2.1. Strukturelle Instrumente im Haushaltssystem der EU: Ausgabenrubriken und Obergrenzen, Verpflichtungs- und Zahlungsermächtigungen
  • 2.2. Die Einnahmenseite
  • 2.2.1. Das System der Eigenmittel und das Prinzip der Finanzautonomie
  • 2.2.1.1. Die traditionellen Eigenmittel
  • 2.2.1.2. Die Mehrwertsteuer-Eigenmittel und ihre Bemessungsgrundlage (Einnahmenmethode und Mehrwertsteuer-Abrufsatz)
  • 2.2.1.3. Die BNE-Eigenmittel
  • 2.2.2. Der Briten-Rabatt
  • 2.3. Die Ausgabenseite
  • 2.3.1. Die Gemeinsame Agrarpolitik
  • 2.3.1.1. Anteil der Agrarförderung am EU-Gesamthaushalt, fiskalpolitische Neuausrichtung der Förderziele
  • 2.3.1.2. Neuordnungen der GAP
  • 2.3.2. Die Struktur- und Kohäsionspolitik
  • 2.3.2.1. Ziele der Regionalförderung und fiskalpolitische Priorisierung
  • 2.3.2.2. Fördervolumina: Anteil der Struktur- und Kohäsionspolitik am EU-Gesamthaushalt, Mittelverteilung auf alte und neue Mitgliedstaaten
  • Teil 3: Fallstudien
  • Fallstudie 1: Die Verhandlungen der Europäischen Union um den Mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2007 bis 2013 (Agenda 2007)
  • 1. Rechtliche Grundlagen für den Erlass des Mehrjährigen Finanzrahmens
  • 2. Die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen: Abgrenzung zwischen politischer Ebene und Gesetzgebungsebene
  • 3. Nettozahler und Nettoempfänger in der EU und die Debatte um die Politik des Juste-Retour
  • 4. Strukturierung der Entscheidungsanalyse, Verortung mitgliedstaatlicher Präferenzen und Identifikation möglicher Demarkationslinien im Verhandlungskontext
  • 5. Auftakt der Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2007 bis 2013: Prioritäten und Agenda-Setting der Europäischen Kommission
  • 6. Auftakt der politischen Verhandlungen zur Agenda 2007
  • 7. Die Verhandlungen im Europäischen Rat
  • 7.1. Die Positionen und Prioritäten der Mitgliedstaaten auf der Einnahmenseite
  • 7.2. Die Positionen und Prioritäten der Mitgliedstaaten auf der Ausgabenseite
  • 7.3. Auswertung der mitgliedstaatlichen Einzelpositionen: eine Zwischenbilanz
  • 7.4. Das Gipfeltreffen des Europäischen Rates vom 16. und 17. Juni 2005 unter der Präsidentschaft Luxemburgs
  • 7.5. Ursachen des Scheiterns der Verhandlungen im Europäischen Rat
  • 7.6. Politische Gipfelbilanz unter britischer Ratspräsidentschaft
  • 7.7. Verhandlungsergebnisse
  • 7.7.1. Das Instrument der Sonderregelungen
  • 7.7.2. Aufschlüsselung der Haushaltsmittel im Bereich der Strukturförderung
  • 7.7.3. Aufschlüsselung der Haushaltsmittel im Bereich der Agrarförderung
  • 7.7.4. Die Einnahmenseite
  • 7.7.4.1. Der deutsche Netto-Saldo
  • 7.7.4.2. Der Briten-Rabatt
  • 7.7.4.3. Änderungen am Eigenmittelbeschluss
  • 7.7.5. Die Interinstitutionelle Einigung mit dem Parlament als letzte Verhandlungsetappe
  • 7.8. Demarkationslinien im Entscheidungsprozess
  • 7.9. Eine Analyse der verhandlungspolitischen Dimension des Bargaining und des Arguing
  • 7.10. Entscheidungsprägende Akteure im Europäischen Rat: Die Rolle Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Polens und Spaniens im politischen Verhandlungsverlauf
  • 7.11. Verhandlungsdauer
  • 7.12. Zusammenfassung der Forschungsergebnisse
  • Fallstudie 2: Die Verhandlungen der Europäischen Union um den Jahreshaushalt 2011
  • 1. Das Verfahren zur Verabschiedung des EU-Jahreshaushaltes
  • 2. Erster Entscheidungsprozess über die EU-Finanzen nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon: Ein neues Machtverhältnis zwischen Rat und Parlament?
  • 2.1. Neue Rechte und Einflussschranken des Parlamentes nach Lissabon; Aufhebung der Differenzierung zwischen obligatorischen Ausgaben und nicht-obligatorischen Ausgaben
  • 2.2. Auftakt der Verhandlungen: Die Vorlage des Haushaltsentwurfs durch die Europäische Kommission
  • 2.3. Die Position des Rates: Festlegung auf einen gemeinsamen Standpunkt
  • 2.4. Die Instrumentalisierung des parlamentarischen Einflusszuwachses nach Lissabon: Politische Ziele, Verhandlungspositionen und – Strategien des Europa-Parlamentes
  • 2.5. Einführung in die interinstitutionelle Entscheidungsanalyse
  • 2.6. Verhandlungsprägender Kontext: Die Auswirkungen des EU-Gipfels vom 28. und 29. Oktober 2010 auf die Beratungen im Vermittlungsausschuss
  • 2.7. Das Vermittlungsausschussverfahren: Positionen, Konfliktlinien und Verhandlungsverlauf
  • 2.8. Versöhnliche und unversöhnliche Positionen zwischen Rat und Parlament und die Folgen für den Ausgang des Vermittlungsausschussverfahrens
  • 2.9. Reaktionen aus dem Parlament und der Kommission auf das Scheitern des Vermittlungsausschussverfahrens
  • 2.10. Der neue Haushaltsplanentwurf der Europäischen Kommission und ihre Rolle im Entscheidungsprozess: Neutrale Mediatorin oder verlängerter Arm der Mitgliedstaaten?
  • 2.11. Zusammenfassung und Bewertung des interinstitutionellen Entscheidens: Schlüsselthemen und Verhandlungsergebnisse (Gesamtetatvolumen, Gewichtung der Politikfelder bei der Budgetzuweisung)
  • 2.12. Zusammenfassung der Forschungsergebnisse
  • 3. Die Verhandlungen um den EU-Jahreshaushalt für 2011 im Rat
  • 3.1. Die gouvernementalen Vorbereitungsgremien im Jahreshaushaltsverfahren
  • 3.1.1. Der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (AStV)
  • 3.1.2. Die Ratsformation Wirtschaft und Finanzen (Rat ECOFIN)
  • 3.1.3. Der Wirtschafts- und Finanzausschuss des Rates
  • 3.2. Verhandlungsinhalte, Positionen, Strategien und Demarkationslinien im Entscheidungsprozess
  • 3.3. Der Einfluss formeller Entscheidungsregeln: Die Wirkung der qualifizierten Mehrheit im Rat
  • 3.4. Der Einfluss informeller Regeln im Entscheidungsverfahren
  • 3.5. Zusammenfassung der Forschungsergebnisse und fallübergreifende Bewertung
  • Teil 4: Fazit: Entscheidungsprozesse nach der Ost-Integration: Implikationen für die Handlungsfähigkeit der erweiterten Union
  • 1. Bewertung des Theorieninstrumentariums und der methodischen Vorgehensweise
  • 2. Schlussbetrachtung, State of the Art, Ausblick
  • Anhang
  • Bibliografie

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Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Rationalistischer und Soziologischer Institutionalismus

Tabelle 2: Entwicklung der qualifizierten Mehrheit im Rat

Tabelle 3: Entwicklung der Abgeordneten-Mandate nach Mitgliedstaaten (7. und 8. Wahlperiode)

Tabelle 4: Entwicklung der Eigenmittelobergrenze

Tabelle 5: Nettozahler und Nettoempfänger in der EU-27 (basierend auf den operativen Haushaltssalden der Mitgliedstaaten im Jahr 2012)

Tabelle 6: Der Weg zur Agenda 2007: Die Vorschläge von Kommission, Europäischem Parlament, luxemburgischem und britischem Vorsitz sowie das Verhandlungsergebnis des Europäischen Rates in der vergleichenden Zusammenschau (Angaben in Mrd. Euro)

Tabelle 7: Deutscher Beitrag zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2007 bis 2013 (prozentualer Finanzierungsanteil und absolute Beträge in Mrd. Euro)

Tabelle 8: Prozentuale Abschmelzung der Ausgleichszahlung für Großbritannien im Siebenjahreszeitraum 2007 bis 2013

Tabelle 9: Feststellung oder Ablehnung des EU-Jahreshaushaltes nach Eingabe der Fassung des Vermittlungsausschusses

Tabelle 10: Obergrenzen des Mehrjährigen Finanzrahmens 2007 bis 2013 für das Haushaltsjahr 2011 (in Mio. Euro)

Tabelle 11: Der neue Haushaltsplanentwurf der Kommission: Mittel für Verpflichtungen und für Zahlungen (in Mrd. Euro), Aufteilung auf die Rubriken und Änderungsraten gegenüber dem Vorjahr 2010 (in Prozent)

Tabelle 12: Der endgültige Jahreshaushalt 2011 (in Mio. Euro)

Tabelle 13: Stimmenverteilung im Rat vor und nach der Reform von Nizza

Tabelle 14: Numerische Stimmenkoalitionen im Ministerrat der EU-27

Tabelle 15: Revision der Interinstitutionellen Vereinbarung vom 17. Mai 2006 sowie des Mehrjährigen Finanzrahmens 2007 bis 2013

Tabelle 16: Die beiden Mehrjährigen Finanzrahmen der EU 2007 bis 2013 sowie 2014 bis 2020 im Vergleich: Mittel für Verpflichtungen nach Rubriken in Preisen 2011 (Angaben in Mio. Euro)

Tabelle 17: Mehrjähriger Finanzrahmen 2014 bis 2020: Mittel für Verpflichtungen nach Ausgabenkategorien und Mittel für Zahlungen (in Mio. Euro zu jeweiligen Preisen)

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Tabelle 18: Mehrjähriger Finanzrahmen 2007 bis 2013: Mittel für Verpflichtungen nach Ausgabenkategorien und Mittel für Zahlungen (in Mio. Euro zu jeweiligen Preisen) (bereinigt um die Erweiterung: EU-28)

Tabelle 19: Mehrjähriger Finanzrahmen 2000 bis 2006: Mittel für Verpflichtungen nach Ausgabenkategorien und Mittel für Zahlungen (in Mio. Euro zu jeweiligen Preisen) (nach der technischen Anpassung im Jahr 2006)

Tabelle 20: Eigenmittelbeschlüsse des Rates: Wesentliche Bestimmungen und Reformpunkte

Tabelle 21: EU-Einnahmen im Haushaltsjahr 2013 nach Mitgliedstaaten (in Mio. Euro)

Tabelle 22: EU-Ausgaben im Haushaltsjahr 2013 nach Mitgliedstaaten und Rubriken (in Mio. Euro)

Tabelle 23: Sektorale Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft von 2005 bis 2014: Index des realen Faktoreinkommens in der Landwirtschaft je Jahresarbeitseinheit

Tabelle 24: EU-Strukturförderung 2007 bis 2013: Allokation in der Förderrubrik 1 in den Zielen Konvergenz; Europäische territoriale Zusammenarbeit; Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in Mio. Euro (in laufenden Preisen)

Tabelle 25: Agenda 2007: Positionen zu Einnahmen und Ausgaben (EU-Organe, Mitgliedstaaten)

Tabelle 26: Der Jahreshaushaltsentwurf der Europäischen Kommission für 2011 in Zahlen: Vergleich zum Vorjahresetat 2010 (in Mio. Euro)

Tabelle 27: Neuer Haushaltsentwurf der Kommission und Standpunkt des Rates: Aufschlüsselung der Differenz nach den Rubriken des Finanzrahmens (in Mio. Euro)

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Teil 1: Analyserahmen

1. Einleitung

Mit der Grundsatzentscheidung der EU-15 Mitte der 90er Jahre, den europäischen Integrationsverbund für die Anwärterstaaten aus Mittel- und Ost-Europa (MOE) zu öffnen, fiel die Zustimmung für die sowohl quantitativ größte als auch qualitativ folgenreichste Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union. In der nachfolgenden Untersuchung geht es um die Fähigkeit der EU, neue Mitglieder aufzunehmen, ohne hierdurch an Entscheidungsfähigkeit und folglich an Handlungsfähigkeit zu verlieren. Die Befürchtung, dass ein solcher Verlust eintreten könnte, ist weit verbreitet. Sie setzte mit der Süd-Erweiterung ein, wurde mit der Ost-Erweiterung akut und dürfte mit Blick auf die Integration der Balkanstaaten weiter zunehmen. Die Untersuchung nimmt sich somit eines Themas an, das nicht nur von historischem, sondern auch von aktuellem Interesse ist und das durch die Bewegung in die umgekehrte Richtung, den Austritt Großbritanniens aus der EU, noch gesteigert werden dürfte.

Trotz ihres unterschiedlichen historischen, politischen und (sozio-) ökonomischen Hintergrundes ist es den neuen Mitgliedstaaten gelungen, sich erfolgreich in die EU zu integrieren. Diese Errungenschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Integration eine Reihe von Fragen aufwirft. Die Aufnahme von inzwischen dreizehn MOE-Staaten1 bedeutete für die Europäische Union eine enorme Bewährungsprobe, die sich auf alle Ebenen und Politikbereiche des EU-Systems erstreckt. Auf der einen Seite stand die EU vor der gewaltigen Aufgabe, die neuen Demokratien in die Wirtschafts-, Gesellschafts- und Stabilitätsstrukturen West-Europas einzubinden. Nur so konnte sie ihre historische Pflicht erfüllen, die durch einen Eisernen Vorhang willkürlich von wirtschaftlicher Prosperität und demokratischer Entwicklung getrennten Staaten Mittel- und Ost-Europas aktiv bei der viel zitierten „Rückkehr nach Europa“ zu begleiten.2 ←15 | 16→Auf der anderen Seite musste sie im Unterschied zu früheren Erweiterungen einen internen Reformprozess in Gang setzen, der bereits Ende der neunziger Jahre als Vorraussetzung für eine erfolgreiche Ost-Integration antizipiert wurde: „Nur wenn die EU aus der Reform gestärkt hervorgeht (…), wird sie die Erweiterung verkraften und die mit ihr verbundenen weiteren Herausforderungen meistern können“ (van Velzen 1998: 30).

Die Frage, ob der Union dies gelungen ist, geht also bei Weitem über die Bewertung einer erfolgreichen Einbindung der Neumitglieder hinaus. Der Europäische Rat legte auf dem Kopenhagener Gipfel von 1993 vier grundlegende Beitrittskriterien fest,3 die die Anwärterstaaten erfüllen müssen, um Mitglied der Europäischen Union werden zu können. Trotz ihrer Bedeutsamkeit wurde einer weiteren Bedingung über längere Zeit nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie den anderen Kopenhagen-Kriterien zuteil. Um „die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten“, machten die Staats- und Regierungschefs das Voranschreiten des Erweiterungsprozesses auch von der „Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen“ abhängig (Europäischer Rat Kopenhagen 1993: 14). Diese Forderung zielt augenscheinlich auf das Kriterium des Aufnahmevermögens der EU, aber auch auf die Wahrung ihrer Handlungsfähigkeit ab (Leuffen 2006a: 2).

Der institutionelle Rahmen des europäischen Integrationsverbundes war ursprünglich für eine Gemeinschaft von sechs Staaten konzipiert, die in ihrer wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verfasstheit weitgehend homogen waren. Trotz der Vertragsrevision von Nizza, die die Ost-Erweiterung institutionell vorbereitet hat und erfolgten Nachbesserungen im Rahmen der vertraglichen Neukonzeption von Lissabon, stellt sich die Frage nach der Regierungs- und Handlungsfähigkeit innerhalb der erweiterten EU. Gegenstand des Forschungsprojektes ist die Untersuchung der potenziellen Auswirkungen der beiden Ost-Erweiterungen auf das Regieren in der Europäischen Union. In der Dissertation soll der noch ungeklärten Frage nachgegangen werden, ob sich (und wenn ja inwiefern) die veränderte ←16 | 17→Mitgliederstruktur infolge des Beitritts von inzwischen dreizehn Staaten aus Mittel- und Ost-Europa auf die Prozesse der Entscheidungsfindung ausgewirkt hat. Das politische Funktionieren innerhalb der Gemeinschaft bildet ein wichtiges Evaluationskriterium, um mögliche Folgen der vollzogenen Erweiterungen in Bezug auf die heutige Gestalt der Europäischen Union zu ergründen. Die Untersuchung von Entscheidungssituationen und der dabei erzielten Politikergebnisse ist ein probates Mittel zur empirischen Erfassung von Handlungsfähigkeit. Das Regieren in der Europäischen Union nach der Ost-Integration soll mit Hilfe einer qualitativen Analyse am Beispiel der EU-Haushaltsverhandlungen erforscht werden. Als Fallstudien sind zwei Verhandlungssituationen vorgesehen, die Aushandlung und Verabschiedung des Mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2007 bis 2013 (Agenda 2007) sowie des Jahresbudgets 2011 der EU.

Mit der sogenannten „Finanziellen Vorausschau“, einer verbindlichen Vereinbarung zwischen Kommission, Parlament, Ministerrat und Europäischem Rat, fixiert die Europäische Union die Struktur ihres Haushaltes über einen mehrjährigen Zeitraum. Diese seit Lissabon als Mehrjähriger Finanzrahmen bezeichnete Rahmensetzung wird bereits seit 1988 angewandt, um den Jahreshaushaltsverhandlungen eine feste Struktur zu geben und die damit verbundenen Konflikte um die Gestaltung des EU-Budgets einzuhegen. Diese Mehrjahresplanung ersetzt demnach nicht die Jahreshaushaltsverhandlungen. Der jährliche Haushalt richtet sich jedoch nach den im Rahmen des mehrjährigen Haushalts festgelegten Obergrenzen für die einzelnen Ausgabenkategorien und muss in jedem Jahr neu festgesetzt und verhandelt werden. Bei den ausgewählten Fällen handelt es sich um zentrale Entscheidungsprozesse, deren Verlauf und Ausgang als Indikatoren für die politische Funktionsfähigkeit der Union messbar gemacht werden können. In der ersten Analyse geht es um die Untersuchung der Abschlussverhandlungen über die Haushaltsplanung 2007 bis 2013, an denen zehn der neuen EU-Mitgliedstaaten teilgenommen haben. Ein strenger Test ist auf Basis dieses einen Falles nicht möglich. In einem zweiten Beispiel soll daher die Entscheidungssituation um die Verabschiedung des Jahresbudgets 2011 der EU explorativ erfasst werden, an der zwölf neue Mitgliedstaaten partizipiert haben. Diese stellt zugleich den ersten Verhandlungsprozess über die EU-Finanzen unter den neuen institutionellen Rahmenbedingungen des Lissabon-Vertrags dar, der seinerseits die Erweiterung konsolidieren sollte. Im zweiten Fallbeispiel sind vor allem die veränderten machtpolitischen Gegebenheiten im europäischen Institutionengefüge in Folge des parlamentarischen Kompetenzzuwachses nach Lissabon von Bedeutung. Seit in Krafttreten des neuen Vertrages entscheidet das Europäische Parlament in voller Gleichberechtigung mit dem Rat über das EU-Jahresbudget. Im Rahmen der Verhandlungen um den Haushalt 2011 versuchte ←17 | 18→das supranationale EU-Organ das Zugeständnis der Mitgliedstaaten durchzusetzen, auch bei der Aushandlung des Mehrjährigen Finanzrahmens in Zukunft mehr Mitspracherechte zu erhalten. Inwiefern diese neuen Rechte im Jahreshaushaltsverfahren in Bezug auf die mehrjährige Haushaltsplanung instrumentalisiert werden konnten, wird die nachfolgende Untersuchung zeigen.

In Folge der Ost-Erweiterung liegt beiden Verhandlungssituationen die Besonderheit eines signifikanten Akteurszuwachses zu Grunde. Es steht außer Frage, dass mit der Zunahme an Mitgliedstaaten die Interessen innerhalb der EU heterogener geworden sind. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass die neuen Staaten als „Blockierer“ auftreten und die Abläufe innerhalb der erweiterten Union paralysieren. Den Einfluss einer Zunahme an Akteuren und damit an mitgliedstaatlichen Einzelinteressen auf EU-Entscheidungsprozesse mit Hilfe einer Forschung zu belegen, verspricht allein keinen wissenschaftlichen Mehrwert zu liefern. Weitaus interessanter ist das Forschungsdesiderat, ob die Vielzahl an gouvernementalen Akteuren und Präferenzen den Verhandlungsverlauf um die EU-Finanzen und die dabei erzielten Politikergebnisse nach der Ost-Integration weitestgehend alleine beeinflusst haben oder nur als eine Variable unter mehreren anzusehen sind. In einem ersten Schritt soll daher herausgearbeitet werden, wer die am Entscheidungsprozess beteiligten Akteure und Organe sind, welche Interessen sie vertreten, wie diese Interessen unter Einwirkung des institutionellen Bezugsrahmens wirken und letztlich zu Verhandlungsergebnissen führen. Eine umfassende Sondierung des Einigungsprozesses zwischen den jeweiligen EU-Organen ist in einem eng verflochtenen Kompetenz- und Entscheidungsgefüge wie dem der Europäischen Union unerlässlich. Bei der empirischen Überprüfung muss ein besonderes Augenmerk auf das Verhalten der alten und neuen Mitgliedstaaten im Aushandlungsprozess sowie auf das Zusammenspiel der EU-Organe untereinander gerichtet werden. Gleichzeitig gilt es darauf zu achten, inwieweit Übereinkünfte auf Kompensationsmechanismen zurückgeführt werden müssen. Die Frage nach den Auswirkungen der Ost-Erweiterung kann also nur beantwortet werden, wenn die “Black Box” Europäische Union aufgebrochen und ihre Handlungsfähigkeit auf die höchst komplexe innere Struktur des EU-Systems bezogen wird. Darum soll es in der Dissertation gehen.

Auch aus theoriebezogener Perspektive ist der Untersuchungsgegenstand äußerst spannend, da sich die Frage stellt inwiefern sich die gängigen Theorien, die sich für die Erforschung der Erweiterungsursachen bewährt haben, auch für die Evaluation der Erweiterungsfolgen eignen. Die meisten politischen Theorien gingen zumindest von der Möglichkeit eines “gridlock” (Leuffen 2006b: 5), also einer Art Systemkollaps in Folge der Ost-Erweiterung aus. Dies gilt nicht nur für rationalistische Ansätze. Auch soziologische und konstruktivistische Ansätze ←18 | 19→generierten in der Vergangenheit skeptische Prognosen zum Regieren innerhalb der erweiterten Gemeinschaft. Aus theoretischem Blickwinkel beginne ich die Analyse mit einer rationalistischen Lesart des politischen Entscheidens innerhalb der Europäischen Union vor und auch nach der Ost-Erweiterung. Hierbei gilt es jedoch nicht nur den Eigeninteressen der mitgliedstaatlichen Akteure, sondern auch den institutionellen (darunter auch bürokratischen) Zwängen im EU-Entscheidungssystem Rechnung zu tragen. In der Studie wird daher der Versuch unternommen, den rationalistischen und den soziologischen Institutionalismus als Erklärungsansatz miteinander zu verbinden.

2. Entwicklung des Forschungsdesigns: Fragestellung und Auswahl der Fallstudien, Bestimmung der Untersuchungsvariablen und Aufstellung der Hypothesen

Es ist ein alt bekannter Mechanismus, dass insbesondere in Krisenzeiten das Vertrauen in bewährte Institutionen schwindet. Dies gilt auch für die Europäische Union, deren Zusammenhalt und Aufnahmefähigkeit in diesen Tagen mehr denn je in Frage steht. Eine Analyse der Handlungs- und Leistungsfähigkeit (“Capacity”) des Integrationsverbundes setzt zunächst ein elementares Verständnis für die Gründe der Bereitschaft zur Abgabe von Souveränitätsrechten seitens der nationalen Mitgliedstaaten an die EU sowie der Akzeptanz einer mit diesem “Arrangement” verbundenen Verpflichtungen voraus. Das Haupt-Motiv für einen Zusammenschluss beruhte sowohl für die Gründerstaaten als auch für die beigetretenen Staaten in der gemeinsamen Verfolgung zweier zentraler Ziele: der Sicherung nachhaltigen Friedens und der Verwirklichung wirtschaftlichen Wohlstands. Auch der Charakter der real europäischen Einigung, nämlich das Zulassen eines offenen politischen Prozesses sowie eine auf Weiterentwicklung ausgerichtete Koordinierung, hat die Union zu dem gemacht was sie heute ist. Die Mitgliedstaaten ziehen aus ihrem Zusammenschluss und der Bündelung nationaler Kapazitäten auf gemeinschaftlicher Ebene einen vielfältigen Nutzen. Sie sind aber auch politische Verpflichtungen eingegangen und stehen mitunter finanziell füreinander ein. Teil dieser Entwicklung ist die Entscheidung der EU-15, den gravierenden Schritt einer Öffnung nach Mittel- und Ost-Europa zu gehen. Die Motive für die Ost-Erweiterung sind die Gleichen, die in der Gründungsphase zur europäischen Einigung geführt haben. Mit der Übertragung des Erfolgsmodells Europäische Union und der ihr inhärenten Werte (Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung und Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten) auf die Beitrittsstaaten sollen politische Stabilität, Frieden und Sicherheit innerhalb der erweiterten Integrationsgemeinschaft dauerhaft garantiert werden. Die Verwirklichung dieser Ziele ←19 | 20→respektive die Wahrung des Status quo sind kein Selbstläufer und fordern von allen Mitgliedstaaten ein hohes Maß an Solidarität und Kompromissbereitschaft.

Die Ausdehnung der Union nach Mittel- und Ost-Europa markiert in der europäischen Integrationsgeschichte ein besonderes Ereignis. Allein die Anzahl der beigetretenen Staaten hat das Wesen der Europäischen Union maßgeblich verändert. Die wirtschaftliche Entwicklung in den alten und neuen EU-Ländern ist durch ein deutlich differierendes Tempo gekennzeichnet, das den Abstand zwischen den Unions-Mitgliedern weiter vergrößert und möglicherweise eine Kluft zwischen alten und neuen Netto-Empfängern aufgetan hat. Hinzu kommen gravierende Unterschiede in der ordnungs- sowie sozialpolitischen Ausrichtung der Mitgliedstaaten. Während vor allem die ökonomischen Folgen der Ost-Erweiterung in den vergangenen Jahren einschlägig beforscht wurden, bleibt ein naheliegendes Forschungsdesiderat bis dato weitestgehend unbeantwortet: Hat sich (und wenn ja inwieweit) die Gruppengröße und die zunehmende Uneinheitlichkeit in der Mitgliederstruktur auf das Entscheidungssystem innerhalb der neuen EU ausgewirkt? Haben sich die Funktions- und Handlungsfähigkeit oder abstrakt gesprochen das Regieren im politischen System der Union in Folge der Ost-Erweiterung verändert, indem eine Vielzahl von heterogenen Mitgliedstaaten formal gleichberechtigt Beschlüsse fällen? Mit hinreichender zeitlicher Distanz soll in der vorliegenden Arbeit anhand der supranationalen Entscheidungsprozesse untersucht werden, ob und wenn ja inwieweit das Funktionieren der EU durch die Ost-Erweiterung beeinflusst worden ist und inwieweit es ihr gelungen ist, ihre eigenen Institutionen und Verfahren erfolgreich an diese Integrationsentwicklung anzupassen.

Die Forschungsfrage nach einer etwaigen Veränderung der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit kann nur unter Berücksichtigung der institutionellen Strukturen beantwortet werden. Neben dem Vertragswerk von Nizza, das den institutionellen Grundstein für die Ost-Erweiterung gelegt hat, ist ein besonderes Augenmerk auf die Revision von Lissabon zu richten, die die Entscheidungsverfahren demokratischer, vielleicht aber auch schwerfälliger und störungsanfälliger gemacht hat. Die Lissabonner Union hat die Rechte des Europäischen Parlamentes umfassend gestärkt und das Machtverhältnis innerhalb des europäischen Institutionengefüges auf eine, wenn man so will, neue Integrationsstufe gehoben. In dieser Studie wird es deshalb auch darum gehen zu prüfen, inwiefern die Mitgliedstaaten der Anforderung einer adäquaten Anpassung des Primärrechtes an die Gegebenheiten einer vergrößerten Union gerecht wurden, die ihrerseits den Anspruch verfolgt, demokratischer zu werden. Hierzu werde ich im zweiten Teil der Dissertation die jüngsten Reformen der Institutionen und Entscheidungsverfahren genau analysieren.

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Da der Vertrag über eine Verfassung für Europa (EVV oder auch kurz Verfassungsvertrag genannt)4 gescheitert ist, wird es vor allem um eine Bewertung der Neuordnung nach Lissabon5 gehen. Gleichwohl ist der Verfassungsentwurf mit der Ablehnung keineswegs gegenstandslos geworden. Ein Großteil des zurückgewiesenen Verfassungsdokumentes fand Eingang in den neuen Vertrag von Lissabon (Vgl. Terhechte 2008: 145). Dies betrifft etwa 95 Prozent der Rechtssubstanz. Allerdings wurden wesentliche Elemente insbesondere in Bezug auf den Verfassungstopos modifiziert6 (Vgl. Maier 2007). Nicht allein das Scheitern einer europäischen Verfassung, sondern auch die Folgen der halbherzigen Vertragsreform von Nizza wurden sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der wissenschaftlichen Retrospektive als partielle Unfähigkeit der Europäischen Union bewertet, sich selbst mit effizienten institutionellen und prozeduralen Strukturen auszustatten. Die Erwartungen an den Revisionsprozess, die Schwächen der beiden vorangegangenen Reformen auf der einen Seite zu kompensieren und auf der anderen Seite die Zugkraft der Europäischen Integration zu stärken und zu beflügeln, waren folglich hoch.

Die Europäische Union ist nach dem Beitritt von inzwischen dreizehn Ländern aus Mittel- und Ost-Europa heute heterogener denn je. Die Aufnahme der neuen Mitgliedstaaten bedeutete einen erheblichen quantitativen Zuwachs an politischen Akteuren. Wie verläuft politisches Entscheiden in der heutigen Europäischen Union: Ist die Entscheidungsfindung nach der Erweiterung schwerfälliger geworden oder zeigt sich Kontinuität in der Arbeit innerhalb der Beschlussorgane und in deren interinstitutionellem Zusammenspiel?

Der Kommission gehörten nach dem Beitritt Kroatiens und vor dem Austritt Großbritanniens zwischenzeitlich 28 Kommissare an. In den Rat der Europäischen Union7 wird je ein Vertreter aus den Mitgliedstaaten gesandt, in der Regel ←21 | 22→der zuständige Ressortminister. Damit zählt auch der Rat nach Aufnahme des 28. Mitgliedstaates genauso viele nationale Repräsentanten. Der Europäische Rat, der mit der Revision von Lissabon juristisch erstmalig zum EU-Organ geworden ist, umfasste bis zum Brexit insgesamt 30 Mitglieder.8 Die Zahl der Abgeordneten-Sitze im Europäischen Parlament wurde gemäß den neuen primärrechtlichen Vertragsbedingungen mit der Europawahl 2014 auf 751 reduziert. In der Kommission werden Gesetzesvorschläge mit einfacher Mehrheit angenommen. Im Europäischen Parlament sehen sich die Abgeordneten bei Abstimmungen eher ihren Parteifamilien als ihrem Herkunftsland verpflichtet. Wie gestaltet sich jedoch die Entscheidungsfindung im Ministerrat sowie im Europäischen Rat, also in den Gremien, die als „Hauptinstanz für die Vertretung nationaler Interessen“ gelten (Leuffen 2009)? Entscheidungen in den gouvernementalen EU-Organen sind regelmäßig ein wichtiger Indikator für die Konsensfähigkeit innerhalb der Europäischen Union und damit auch für deren Handlungsfähigkeit. Doch sind mit diesem Zuwachs tatsächlich keine spürbaren Auswirkungen auf die politischen Entscheidungsabläufe verbunden und wie funktioniert das Zusammenwirken im interinstitutionellen Kompetenz- und Dezisionsgefüge der erweiterten Union?

Die Topoi „Vertiefung“ und (beziehungsweise oder) „Erweiterung“ bildeten in den letzten Jahren zu Recht den Schwerpunkt der Debatte über den Kurs der Europäischen Integration sowie über die Entwicklung des politischen und institutionellen Systems der EU. Ein zentrales Kriterium wurde dabei lange vernachlässigt, nämlich die Frage nach den Auswirkungen der veränderten Gruppengröße auf die Funktionsfähigkeit der Union. Vor allem am Rande der großen Gipfeltreffen wird häufig nach der Einigkeit innerhalb der Gemeinschaft gefragt. Ihre Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit als selbstverständlich anzusehen ist heute Quelle der Probleme, die weniger im politischen Tagesgeschäft als in handfesten Konflikten in Bezug auf sensible Politikbereiche und in Form schwer zu vereinender Positionen der Regierungen zu Tage treten. Dies gilt vor allem mit Blick auf existentielle Handlungsfelder wie die gemeinsame Lösung der europäischen Schuldenkrise, die Stabilisierung der Wirtschafts- und Finanzmärkte sowie in Bezug auf die aktuelle Flüchtlings- und Asylkrise. Tagesaktuelle ←22 | 23→Probleme sind für eine Analyse der Handlungsfähigkeit der erweiterten Union gänzlich ungeeignet. Dass sich diese Thematiken als Fallstudie nicht eignen, liegt vor allem daran, dass hierbei eine Reihe von externen Faktoren auf die Entscheidungs- und Handlungsoptionen der beteiligten Akteure einwirken. Das interne Funktionieren in der EU mit Hilfe einer solchen Fallauswahl zu untersuchen, ist methodisch kaum möglich.

Für die empirische Erfassung des Forschungsgegenstandes bieten sich Fallstudien zu den EU-Finanzverhandlungen insofern an, als diese regelmäßig zu einer intensiven Bewährungsprobe für das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und nach Lissabon möglicherweise auch zwischen den Institutionen werden. Zum einen wird die Entscheidungsfindung zwischen den Repräsentanten im Ministerrat sowie im Europäischen Rat erschwert, da sowohl allokative als auch distributive Fragen behandelt werden und somit unwiderruflich Präferenz- Differenzen zwischen den Akteuren gegeben sind. Zum anderen sind Spannungen innerhalb der gouvernementalen Institutionen (Ministerrat / Europäischer Rat) sowie zwischen diesen und den supranationalen Institutionen (Parlament / Kommission) vorprogrammiert, denn mit dem EU-Haushalt wird festgeschrieben, wie viele Finanzmittel bereit gestellt und für welche Politikfelder sie ausgegeben werden. Die künftigen integrationspolitischen Weichenstellungen der Union hängen maßgeblich von der Haushaltspolitik der Union ab (Vgl. Leuffen 2006a: 13/14).

Details

Seiten
532
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631791301
ISBN (ePUB)
9783631791318
ISBN (MOBI)
9783631791325
ISBN (Hardcover)
9783631791110
DOI
10.3726/b15854
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
Entscheidungsanalyse Regieren Europäisches Mehrebenensystem Verhandlungsanalyse EU-Haushaltsrecht Mehrjähriger Finanzrahmen Finanzverfassung der Europäischen Union Mittel- und Ost-Europa Institutionenreform Vertrag von Nizza Agenda 2007 EU Jahreshaushalt
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, 2020., 532 S., 9 s/w Abb., 27 Tab.

Biographische Angaben

Kerstin Reget (Autor:in)

Kerstin Reget studierte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Rechtswissenschaften. Ihre Promotion erfolgte an der gleichen Fakultät im Bereich der EU-Forschung. Die Autorin ist heute auf dem Gebiet Wissenschaft und Technologietransfer tätig.

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Titel: Die Auswirkungen der Ost-Erweiterung auf die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union
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