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Die aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung im Rahmen der § 361 AO, § 69 FGO

von Marcel Goeke (Autor:in)
©2019 Dissertation XII, 218 Seiten

Zusammenfassung

Die Finanzbehörden haben in jüngerer Zeit in einigen Fällen Rechtsbehelfe der Steuerpflichtigen gegen deren Steuerbescheide zum Anlass genommen, die streitigen Beträge gegen deren Willen auszusetzen. Ein solches Vorgehen ist aus staatlicher Sicht mit Blick auf die bei Unterliegen des Rechtsbehelfsführers verwirkten Aussetzungszinsen in kapitalmarktferner Höhe (6 % p.a.) lukrativ, wohingegen letzterem neben dem Aussetzungszinsrisiko die Chance auf eigene Zinsansprüche im Obsiegensfalle in selbiger Höhe genommen wird. Der Autor untersucht diese atypische Aussetzungssituation. Er prüft, ob eine solche aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung generell ermessensfehlerhaft ist und welche Auswirkungen das Zusammenspiel zwischen Aussetzungs-, Zinsfestsetzungs- und Zinsverzichtsverfahren für die Rechtsschutzmöglichkeiten des Betroffenen hat.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • § 1 Definition der aufgedrängten Aussetzung der Vollziehung
  • § 2 Die aufgedrängte Aussetzung im Spannungsfeld zwischen fixem Zinssatz und Niedrigzinsniveau
  • § 3 Gegenstand, Relevanz und Aufbau der Untersuchung
  • Teil I. Grundlegendes zum vorläufigen Rechtsschutz
  • § 1 Verfassungsrechtliche Gewährleistungen im gerichtlichen und im behördlichen Verfahren
  • I. Beschränkung auf Vorgaben des Grundgesetzes sowie Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen gerichtlichem und behördlichem Verfahren
  • II. Effektiver Individualrechtsschutz im gerichtlichen Verfahren
  • III. Rechtsschutz im behördlichen Verfahren
  • 1. Dogmatischer Ansatz mangels Anwendbarkeit des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG
  • 2. Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers hinsichtlich der Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens
  • 3. Besonderheit der aufgedrängten Aussetzung der Vollziehung im verfassungsrechtlichen Kontext
  • § 2 Funktionen des vorläufigen Rechtsschutzes
  • Teil II. Reichweite der finanzbehördlichen Aussetzungsbefugnis
  • § 1 Bestehen eines Anhörungserfordernisses vor Erlass der amtswegigen Aussetzungsentscheidung
  • § 2 Aufgedrängte Aussetzung als Konflikt zwischen Offizialmaxime und negativer Dispositionsfreiheit
  • § 3 Ermessensfehlerhaftigkeit der Aussetzung gegen den Willen des Betroffenen
  • I. Grundsätzliches zur Ermessensfehlerlehre und Gang der Darstellung
  • II. Entwicklung der Aussetzungsvorschriften
  • III. Ermessensfehlgebrauch durch aufgedrängte Aussetzung? – Ermessensrelevante Faktoren im Rahmen der behördlichen Aussetzungsentscheidung
  • 1. Rechtsschutz des Bürgers und Entlastung der Fachgerichte
  • 2. Bedeutung der Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts
  • 3. Daneben auch finanzielle Interessen des Staates berücksichtigen?
  • a) Dogmatischer Anknüpfungspunkt
  • b) Unterscheidung zwischen Erlangung von Zinsvorteilen und Verhinderung zinsbedingter Nachteile aus staatlicher Sicht
  • aa) Gang der Darstellung
  • bb) Aufgedrängte Aussetzung, um Aussetzungszinsen zu generieren
  • cc) Aufgedrängte Aussetzung zur Vermeidung drohender Zinsansprüche des Rechtsbehelfsführers
  • dd) Aussetzungszinsen gemäß § 237 AO trotz Aussetzung der Vollziehung gegen den Willen des Betroffenen?
  • IV. Ermessensüberschreitung durch aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung bei Annahme eines Aussetzungszinsrisikos
  • 1. Grundrechtliche Relevanz der Aussetzung gegen den Willen des Betroffenen
  • 2. Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
  • a) Prüfung der Verhältnismäßigkeit der aufgedrängten Aussetzung der Vollziehung
  • b) Folgerungen aus der Verhältnismäßigkeitsprüfung
  • c) Einschätzung der Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs als Wertungsfrage
  • d) Rechtmäßigkeitszweifel verbunden mit Maßnahmen zur Verringerung bzw. Reaktionsmöglichkeiten zur Vermeidung des Risikos eines Zinsnachteils für den Grundrechtsträger
  • aa) Reduzierung der Zinshöhe der Aussetzungszinsen im Wege eines Teil-Verzichts
  • bb) Rasche Entscheidung im Hauptsacheverfahren und Befristung der Aussetzungsentscheidung (§ 120 Abs. 2 Nr. 1 AO)
  • cc) Freiwillige Zahlungen des Betroffenen
  • Teil III. Effektiver Rechtsschutz gegen die rechtswidrig aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung
  • § 1 Rechtsschutz in welchem Verfahren?
  • § 2 Lösungen nach Rechtsprechung und Literatur
  • § 3 Effektiver Rechtsschutz nur im Verfahren gegen Aussetzungsverfügung und/oder Aussetzungszinsbescheid
  • § 4 Tatbestandswirkung in Abgrenzung zum Grundlagen-/Folgebescheidverhältnis
  • I. Verhältnis zwischen Tatbestandswirkung und Grundlagen-/Folgebescheid; Relevanz der Unterscheidung
  • 1. Definitionsversuche und Abgrenzungsprobleme der Tatbestandswirkung
  • 2. Die Tatbestandswirkung als allgemeiner Rechtsgrundsatz
  • 3. Der originäre Anwendungsbereich der Tatbestandswirkung und seine Problembereiche als Folge fehlender normativer Konkretisierung
  • 4. Abgrenzung der Tatbestandswirkung zum Grundlagen-/Folgebescheidverhältnis aufgrund Spezialität
  • II. Einordnung der Aussetzungsverfügung und des Aussetzungszinsbescheids
  • § 5 Auswirkungen der Untersuchungsergebnisse aus Teil II auf das Rechtsbehelfsverfahren gegen die aufgedrängte Aussetzung
  • Zusammenfassung der Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

§ 1  Definition der aufgedrängten Aussetzung der Vollziehung

Gemäß § 361 Abs. 1 Satz 1 AO1 (für das finanzgerichtliche Verfahren siehe § 69 Abs. 1 Satz 1 FGO2)3 hat die Einlegung des Einspruchs (§§ 347 ff. AO) nicht zur Folge, dass der Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts gehemmt wird. Abweichend von § 80 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO4 ist der Suspensiveffekt nicht nur (ausnahmsweise) bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten ausgeschlossen. Vielmehr kommt dem Einspruch im Steuerrecht im Regelfall keine vollzugshemmende Wirkung zu. Nur in den Fällen, in denen sich der Einspruch gegen die Untersagung des Gewerbetriebs oder der Berufsausübung richtet, wirkt der Einspruch vollzugshemmend (vgl. § 361 Abs. 4 Satz 1 AO). Eine streitige Abgabe ist daher trotz Einspruch zu bezahlen (vgl. § 361 Abs. 1 Satz 1 a.E.). Hiermit soll die Handlungsfähigkeit des Staates sichergestellt werden.5 Aber auch alle anderen vollziehbaren Verwaltungsakte, die nicht auf die Untersagung des Gewerbetriebs oder der Berufsausübung gerichtet sind (z.B. die Mitteilung über die Buchführungspflicht gemäß § 141 Abs. 2 Satz 1 AO)6, müssen im Umkehrschluss zu § 361 Abs. 4 Satz 1 AO trotz Einspruchs befolgt werden. ← 1 | 2 →

Nach Maßgabe des § 361 Abs. 2 Sätze 1, 2 AO ist die Finanzbehörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, zur Aussetzung der Vollziehung befugt. Sofern der Verwaltungsakt bereits vollzogen ist, kommt eine Aufhebung der Vollziehung in Betracht (siehe § 361 Abs. 2 Satz 3 AO).7 Die Finanzbehörde kann den fehlenden (automatischen) Suspensiveffekt des Einspruchs durch eine gesonderte Entscheidung herbeiführen. Der Rechtsbehelfsführer kann die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung durch einen entsprechenden Antrag anstoßen (siehe § 361 Abs. 2 Satz 2 AO). In § 361 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 AO ist ein Antragserfordernis hingegen nicht vorgesehen. Dort heißt es vielmehr: „Die Finanzbehörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, kann die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen“. In Abgrenzung zu § 361 Abs. 2 Satz 2 AO entscheidet die Finanzbehörde hier ohne Antrag (= von Amts wegen) über die Aussetzung der Vollziehung. Nach Maßgabe des § 361 Abs. 3 Satz 1 AO ist sie zur (Folge-)Aussetzung von Amts wegen sogar verpflichtet („ist“).

Legt der Bürger Einspruch ein und stellt dabei bewusst keinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, weil er bspw. unsicher ist, was die Erfolgsaussichten des Einspruchs angeht, und verfügt die Finanzbehörde gleichwohl die Aussetzung von Amts wegen und gegen den Willen des Einspruchsführers, liegt eine „aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung“ vor.8

Hiervon abzugrenzen sind die Fälle, in denen die Finanzbehörde im Interesse und mutmaßlichen Willen des unberatenen Rechtsbehelfsführers die Aussetzung von Amts wegen vornimmt.9 ← 2 | 3 →

Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf solche Fälle, in denen die Finanzbehörde gegen den Willen des Betroffenen die Aussetzung der Vollziehung verfügt. Mögliche Ursachen für ein solches Vorgehen der Finanzbehörde können bspw. sein, dass eine baldige Entscheidung über den Rechtsbehelf nicht zu erwarten ist, sei es weil die Finanzbehörde überlastet ist, oder der Einspruch eine komplexe Rechtsfrage zum Gegenstand hat. Denkbar ist ferner, dass das Vorbringen des Einspruchsführers zu Zweifeln am Sachverhalt führt, der dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde gelegt worden ist, und daher der Sachverhalt weiterer Aufklärung bedarf.

Lukrativ aus Sicht der Behörde und nachteilig mit Blick auf den Betroffenen wird die aufgedrängte Aussetzung im Kontext der Verzinsung gemäß §§ 233 ff. AO. Für die Klassifizierung als „aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung“ spielt es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung indes keine Rolle, ob die Motivation der Finanzbehörde darin besteht, Zinseinnahmen zu generieren, oder ob durch die aufgedrängte Aussetzung Zinsausgaben des Staates verhindert werden sollen.

§ 2  Die aufgedrängte Aussetzung im Spannungsfeld zwischen fixem Zinssatz und Niedrigzinsniveau

Die Ausgangssituation der aufgedrängten Aussetzung kennzeichnet sich dadurch, dass die Finanzbehörde in einem ersten Schritt einen vollziehbaren Verwaltungsakt erlässt. Dieser wird sodann von dem Betroffenen angefochten, woraufhin die Behörde ein drittes Verfahren in Gestalt der aufgedrängten Aussetzung der Vollziehung einleitet. Anstatt über den Rechtsbehelf zu entscheiden, nimmt sie diesen zum Anlass, gegen den Willen des Betroffenen die Vollziehung ihres ersten Aktes auszusetzen. Der Einspruch kann dazu geführt haben, dass die Finanzbehörde Zweifel bekommt, was die Rechtmäßigkeit des von ihr erlassenen Verwaltungsakts angeht. Selbst wenn dies zutreffen sollte, fragt sich aber, warum sie nicht die Selbstkontrolle im Einspruchsverfahren (vgl. § 367 Abs. 2 Satz 1 AO) ← 3 | 4 → zum Abschluss bringt, ohne den von ihr erlassenen Verwaltungsakt vorher zu suspendieren.10 Hierfür spricht neben dem gesetzgeberischen Vollzugsinteresse, wie es in § 361 Abs. 1 Satz 1 AO zum Ausdruck kommt, auch der Umstand, dass das Begehren des Einspruchsführers auf die rechtliche Kontrolle des angefochtenen Verwaltungsakts beschränkt ist. Der Rechtsbehelfsführer widersetzt sich der Vollziehung des – seiner Auffassung nach rechtswidrigen – Verwaltungsakts nicht. Vielmehr will er – in den hier relevanten Fällen der aufgedrängten Aussetzung – dem Tenor der Verfügung Folge leisten. Gleichwohl wird ihm ein „Mehr“ an Rechtsschutz aufgedrängt. Warum?

Spiegelbildlich stellt sich die Frage, warum der Rechtsbehelfsführer darauf besteht, dem ersten behördlichen Akt, den er für rechtswidrig hält, nachzukommen. Bezogen auf die unmittelbare Folge der Aussetzung, nämlich die Herbeiführung der vollzugshemmenden Wirkung des Rechtsbehelfs, kommt die Finanzbehörde dem Rechtsbehelfsführer entgegen, da dieser dem Tenor des Verwaltungsakts nun für den Aussetzungszeitraum nicht mehr Folge leisten muss. Insoweit ist ihr Handeln für den Betroffenen vorteilhaft.

Nach § 233 Satz 1 AO werden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (vgl. § 37 Abs. 1 AO) nur bei gesetzlicher Anordnung verzinst. Keine Verzinsung findet in Bezug auf steuerliche Nebenleistungen im Sinne des § 3 Abs. 4 AO sowie die entsprechenden Erstattungsansprüche statt (vgl. § 233 Satz 2 AO). Für die Verzinsung im Zuge eines Rechtsbehelfsverfahrens sind §§ 233a, 236, 237 AO relevant. Vor allem §§ 236, 237 AO setzen sich mit der Verzinsung nach Abschluss eines Rechtsbehelfsverfahrens auseinander, wohingegen § 233a AO vorwiegend die Verzinsung in der Phase zwischen der Steuerentstehung und der Steuerfestsetzung regelt (siehe § 233a Abs. 2 Sätze 1, 3 AO).11 Zudem ist die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen gemäß § 233a Abs. 1 Satz 1 AO auf bestimmte Steuerarten (Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbesteuer) beschränkt, wohingegen §§ 236, 237 AO eine solche Eingrenzung nicht enthalten. Sie gelten daher bspw. durch entsprechenden Verweis auch für andere Abgaben, wie z.B. ← 4 | 5 → Kommunalabgaben (vgl. z.B. § 1 Abs. 1 Satz 1 KAG NRW12 i.V.m. § 12 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b) KAG NRW). Während § 236 Abs. 1 Satz 1 AO dem Kläger einen Zinsanspruch hinsichtlich des Erstattungsbetrags einräumt, sieht § 237 Abs. 1 Satz 1 AO einen Zinsanspruch des Staates im Falle der endgültigen Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfsführers bezüglich des ausgesetzten Betrags vor. § 236 AO und § 237 AO schließen sich also insoweit wechselseitig aus, als nach rechtskräftigem Abschluss eines Rechtsbehelfsverfahrens nur einer von beiden Zinsansprüchen möglich ist, je nachdem zu wessen Gunsten das Verfahren ausgeht. § 233a AO kann sich hingegen mit den §§ 236, 237 AO überschneiden, weshalb zur Vermeidung einer doppelten Verzinsung § 236 Abs. 4 AO und § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 3 AO jeweils eine Anrechnung der § 233a-Zinsen vorsehen.

Nachteilig kann sich die Aussetzung der Vollziehung für den Rechtsbehelfsführer in den Fällen auswirken, in denen der Einspruch bzw. die Klage gegen einen Verwaltungsakt im Sinne des § 237 Abs. 1 Satz 1 AO (Steuerbescheid, Steueranmeldung, oder einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, oder eine Einspruchsentscheidung über einen dieser Verwaltungsakte) gerichtet ist. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 237 Abs. 1 Satz 1 AO verwirkt der erfolglose Rechtsbehelfsführer Aussetzungszinsen i.H.v. 0,5 % pro Monat (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO). In den Fokus der Gründe, die die Finanzbehörde zur aufgedrängten Aussetzung motivieren, rückt das steuerliche Zinsregime.13

Der fixe Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gilt, wie bereits die Gesetzessystematik und der Wortlaut der Norm („Die Zinsen“) nahe legen, für sämtliche der vorangestellten Zinstatbestände, also für die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen (§ 233a AO), Stundungszinsen (§ 234 AO), Hinterziehungszinsen (§ 235 AO), Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge (§ 236 AO) und Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung (§ 237 AO).

Die Höhe der Verzinsung liegt mit 0,5 % pro Monat, also 6 % pro Jahr, deutlich über dem Marktzinsniveau. So sank bspw. der von der Europäischen Zentralbank vorgegebene Festsatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte seit Oktober 2008 ← 5 | 6 → stetig von damals noch 3,75 % p.a. auf 0,05 % p.a. (!) ab dem 09.12.2015 und liegt aktuell (seit dem 16.03.2016) sogar bei 0,00 % p.a.14 Da er als Bezugsgröße für die Berechnung des Basis-Zinssatzes dient (vgl. § 247 Abs. 1 Satz 3 BGB15), ist auch letzterer gefallen und liegt aktuell (ab dem 01.01.2019) bei -0,88 %.16 Auch der in der Eurozone gängige Referenzzinssatz Euro Interbank Offered Rate (Euribor)17 liegt aktuell mit -0,31 % p.a. im Negativbereich.18 Als weiteres Beispiel für die Niedrigzinsphase sei im Bereich der Habenzinsen auf die Verzinsung von Sparbüchern hingewiesen. Bei der Sparkasse Bochum können aktuell für ein Sparkassenbuch Zinsen i.H.v. 0,05 % p.a. erzielt werden.19

Angesichts der krassen Diskrepanz zwischen den am freien Markt erzielbaren Zinsen und dem fixen Zinssatz besteht Streit darüber, ob letzterer verfassungswidrig ist. In der Literatur wird vertreten, dass die Zinsentwicklung inzwischen so weit von dem statischen Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO entfernt ist, dass der gesetzgeberische Entscheidungsspielraum überschritten und demzufolge die Norm, insbesondere im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1; 14 Abs. 1 GG20 sowie unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips21 ← 6 | 7 → verfassungswidrig ist.22 Auch die Judikative sieht den fixen Zinssatz zunehmend skeptisch. Es hat den Anschein, dass § 238 Abs. 1 Satz 1 AO allmählich in die Verfassungswidrigkeit hineinwächst. Die jüngeren höchstrichterlichen Entscheidungen haben zunächst eine Verfassungswidrigkeit des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für die streitigen Zeiträume zwar verneint, betonten aber, dass die Verfassungsmäßigkeit für spätere Zeiträume anders beurteilt werden könnte.23 Der 9. Senat des BFH hat nun im Aussetzungsverfahren entschieden, dass der fixe Zinssatz für Nachzahlungszinsen jedenfalls für den Zeitraum vom 01.04.2015 bis zum 16.11.2017 mit Blick auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz sowie das Übermaßverbot „schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln“ ausgesetzt sei und daher die Vollziehung des streitgegenständlichen Zinsbescheids ausgesetzt.24 Der Auffassung des 9. Senats hat sich der 8. Senat des BFH mit Beschluss vom 03.09.2018 in der Begründung angeschlossen und die Vollziehung eines Aussetzungszinsbescheids, der Aussetzungszinsen für den Zeitraum November 2012 bis September 2016 vorsieht, ausgesetzt.25 ← 7 | 8 → Die Bundesregierung sieht hingegen bislang keinen Handlungsbedarf.26 Ohne die Initiative der Rechtsprechung ist mit einer Änderung des Zinssatzes in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Der Ausgang zweier beim BVerfG anhängiger Verfassungsbeschwerden zur Verfassungsmäßigkeit des § 238 Abs. 1 AO wird daher mit Spannung erwartet.27

§ 3  Gegenstand, Relevanz und Aufbau der Untersuchung

Angesichts der erheblichen Auseinanderentwicklung zwischen dem Marktzinsniveau und dem fixen Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ist es möglich, dass der Rechtsbehelfsführer in Fällen, in denen die im Streit stehenden Steuerforderungen gravierende Ausmaße annehmen, im schlimmsten Falle davon absieht, Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, damit für die Finanzbehörde gar nicht erst die Möglichkeit zur aufgedrängten Aussetzung eröffnet wird.28 Daher könnte die aufgedrängte Aussetzung verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt sein. Andererseits eröffnet der Gesetzeswortlaut von § 361 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 AO, § 69 Abs. 2 Satz 1 FGO die Möglichkeit, die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts von Amts wegen auszusetzen. Dass ein Handeln von Amts wegen dem Willen des Betroffenen zuwiderläuft, ist zumal im Bereich der Eingriffsverwaltung keine Seltenheit, wenngleich es in diesem grundrechtsensiblen Bereich rechtfertigungsbedürftig ist. Fraglich ist, welche Bedeutung insoweit die materiell-rechtlichen Zweifel haben. Können sie eine Aussetzung von Amts wegen und gegen den Willen des Betroffenen legitimieren, oder unterliegt das Aussetzungsverfahren als Nebenverfahren zum Hauptsacheverfahren, das allein der Rechtsbehelfsführer durch Einlegung des Einspruchs (vgl. § 357 AO) bzw. Klageerhebung (vgl. § 47 FGO) anstoßen kann, ebenfalls der alleinigen Disposition des Bürgers?

Primäres Ziel der Untersuchung ist demnach die Frage, ob dem Bürger ein sogenannter „vorläufiger Rechtsschutz“ im Rahmen der § 361 Abs. 2 Satz 1 AO, § 69 Abs. 2 Satz 1 FGO aufgedrängt werden darf.

Die Problematik der aufgedrängten Aussetzung ist mit Blick auf die Diskrepanz zwischen Marktzinsen und § 238 Abs. 1 Satz 1 AO auch aus praktischer ← 8 | 9 → Sicht relevant. Die Bundesregierung ist zu der aufgedrängten Aussetzung bereits befragt worden. Die Abgeordnete Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.) hat bei der Bundesregierung schriftlich angefragt, wie sie die Aussetzung gegen den Willen des Rechtsbehelfsführers bewerte und ob sie diesbezüglich Handlungsbedarf sehe. Hierauf hat Staatssekretär Dr. Hans Bernhard Beus in der Antwort vom 07.12.2010 lediglich auf das seinerzeit noch anhängige Verfahren vor dem FG Köln (Az. 13 K 960/08) hingewiesen. Wie oft die Vollziehung gegen den Willen des Betroffenen bislang ausgesetzt worden sei, wisse die Bundesregierung nicht.29 Die Entscheidung des FG Köln ist allerdings am 08.09.2010 ergangen.30 Eine ausführlichere Stellungnahme wäre vor diesem Hintergrund wünschenswert gewesen. Weitere Reaktionen aus Regierungskreisen zur aufgedrängten Aussetzung sind bis dato, soweit ersichtlich, ausgeblieben.

Aufbauend auf den Erkenntnissen zur Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der aufgedrängten Aussetzung stellt sich die Frage, wie der Betroffene effektiv gegen das behördliche Handeln vorgehen kann. Die Rechtsprechung ist insoweit uneinheitlich. Der BFH hat die beiden finanzgerichtlichen Entscheidungen, die sich mit dem Problem der aufgedrängten Aussetzung befasst und in beiden Fällen den hiergegen gerichteten Klagen stattgegeben haben,31 aus Gründen der Unzulässigkeit aufgehoben.32

Die Untersuchung beginnt in Teil I mit den unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Einflüssen im gerichtlichen und im behördlichen Verfahren. Während die individualschützende Funktion des gerichtlichen Verfahrens in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angelegt ist, bedarf die verfassungsrechtliche Dimension des behördlichen Verfahrens näherer Betrachtung.

Im Hauptteil (Teil II) wird die finanzbehördliche Aussetzungsentscheidung in Fällen aufgedrängter Aussetzung der Vollziehung am Maßstab der Ermessensfehlerlehre überprüft. Die Aussetzung gegen den Willen des Betroffenen könnte einen Ermessensfehlgebrauch und/oder eine Ermessensüberschreitung darstellen. Zunächst sind daher die für die Aussetzungsentscheidung relevanten Ermessenskriterien herauszuarbeiten. Die Prüfung der Ermessensfehlerhaftigkeit ← 9 | 10 → der aufgedrängten Aussetzung hängt zudem davon ab, ob in diesen Fällen § 237 AO überhaupt anwendbar ist, ob also bei aufgedrängter Aussetzung tatsächlich ein Aussetzungszinsrisiko besteht. Hält man § 237 AO auch in diesen Fällen für einschlägig, könnten der finanzbehördlichen Aussetzungsentscheidung die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entgegenstehen.

In Teil III werden die im Hauptteil gewonnenen Erkenntnisse in prozessualer Hinsicht beleuchtet. Angesichts der unterschiedlichen Verfahren (Hauptsacherechtsbehelfs-, Aussetzungs-, Aussetzungszinsfestsetzungs- und Aussetzungszinsverzichtsverfahren) eröffnen sich mehrere Rechtsschutzmöglichkeiten. Wie kann sich der Steuerpflichtige effektiv gegen die aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung zur Wehr setzen?

Das Rechtsproblem der aufgedrängten Aussetzung wird vorliegend allein im Rahmen der § 361 AO, § 69 FGO erörtert. Der Vollständigkeit halber wird auf die § 80 VwGO und § 86a SGG33 hingewiesen. § 80 Abs. 4 Sätze 1, 3 VwGO und § 86a Abs. 3 Sätze 1, 2 SGG enthalten den § 361 Abs. 2 Sätze 1, 2 AO bzw. § 69 Abs. 2 Sätze 1, 2 FGO vergleichbare Regelungen,34 sodass auch hier eine aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung denkbar ist. Die Aussetzung gegen den Willen des Rechtsbehelfsführers ist bis dato, soweit ersichtlich, nur im Rahmen der finanzbehördlichen Aussetzung der Vollziehung vorgekommen.


1 AO (Abgabenordnung) in der Fassung der Bekanntmachung vom 01.10.2002 (BGBl. I S. 3866), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 18.07.2017 (BGBl. I S. 2745).

Details

Seiten
XII, 218
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631792780
ISBN (ePUB)
9783631792797
ISBN (MOBI)
9783631792803
ISBN (Hardcover)
9783631789650
DOI
10.3726/b15750
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Offizialmaxime Finanzielle Interessen Erfolgsaussichten Wertung Freiwillige Zahlungen Rechtsschutz Aussetzungsverfügung Ermessensfehlgebrauch Ermessensüberschreitung Atypische Aussetzung Aussetzung gegen den Willen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. XII, 217 S.

Biographische Angaben

Marcel Goeke (Autor:in)

Marcel Goeke studierte Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Im Anschluss an das erste juristische Staatsexamen arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Steuerrecht bei Prof. Dr. Roman Seer. Aktuell ist er Rechtsreferendar im Bezirk des OLG Hamm.

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