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Der Schutz der sozialen Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland und in der Republik Chile

von Diego Schalper (Autor:in)
©2019 Dissertation 304 Seiten

Zusammenfassung

Soziale Grundrechte stehen im Mittelpunkt grundrechtlicher Diskussionen. Wie kann man soziale Grundrechte definieren? Ist es möglich, soziale Grundrechte einzuklagen? Wie können die sozialen Menschenrechte, die in den verschiedenen Rechtsquellen des Völker- und Europarechts geregelt sind, durchgesetzt werden?
Die vorliegende Publikation geht auf diese Fragen ein und nimmt einen Rechtsvergleich zwischen den sozialen Grundrechten im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung der Republik Chile vor. Auf diese Weise will sie zu sehr aktuellen Diskussionen beitragen, die sich auf das Spannungsfeld zwischen der Umsetzung sozialer Rechte und der finanziellen Tragfähigkeit der Staaten und auf die Rolle des Staates und des Einzelnen bei der Umsetzung sozialer Rechte beziehen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • II. Philosophische Überlegungen
  • 1. Die liberal-kontraktualistische Denktradition
  • a. Begründung der Menschenrechte
  • aa. Thomas Hobbes
  • bb. Immanuel Kant
  • cc. John Rawls
  • b. Begründung der sozialen Grundrechte
  • aa. Soziale Grundrechte als erforderliche Ausübungsbedingung der Freiheit
  • bb. Soziale Grundrechte als Folgerung der menschlichen Bedürfnisse
  • 2. Die sozialistische Denktradition
  • a. Louis Blanc und der moderne, demokratische Sozialismus
  • b. Karl Marx und der Marxismus
  • c. Moderne Begründung der sozialen Grundrechte: Thomas Marshall.
  • 3. Die katholische Soziallehre
  • a. Einleitung
  • b. Philosophische Diskussion über die Vereinbarkeit der Menschenrechte mit der katholischen Soziallehre
  • c. Menschenrechte und soziale Enzykliken der katholischen Lehre
  • 4. Fazit
  • III. Rechtstheoretische Überlegungen
  • 1. Theorie der Grundrechte
  • a. Theorie des Status nach Jellinek
  • b. Liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) Theorie der Grundrechte
  • c. Institutionelle Grundrechtstheorie
  • d. Werttheorie der Grundrechte
  • e. Demokratisch-funktionale Theorie der Grundrechte
  • f. Sozialstaatliche Grundrechtstheorie
  • g. Fazit
  • 2. Normative Struktur der sozialen Grundrechte
  • a. Vorbemerkung: Objektive und subjektive Dimension der Grundrechte
  • b. Soziale Grundrechte als Programmsätze
  • c. Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen
  • d. Soziale Grundrechte als Verfassungsauftrag
  • e. Soziale Grundrechte als Einrichtungsgarantien
  • f. Soziale Grundrechte als prima facie Rechte
  • g. Soziale Grundrechte als subjektive Rechte
  • aa. Einleitung
  • bb. Grundsätzliche Subjektivierungsstrukturen
  • cc. Arango und die Dringlichkeitsthese
  • dd. King und die gerichtliche Bezähmungstheorie (theory of judicial restraint)
  • ee. Atria und der Einwand der normativen Inkompatibilität
  • IV. Historische Überlegungen
  • 1. Vorbemerkung: Herkunft der Menschenrechte im Allgemeinen
  • 2. Deutsche Verfassungsgeschichte und Entwicklung der sozialen Grundrechte
  • a. Deutscher Frühkonstitutionalismus des 19. Jahrhunderts – 1815 bis 1848
  • b. Deutscher Spätkonstitutionalismus des 19. Jahrhunderts – 1849 bis 1918. – Die Paulskirchenverfassung
  • c. Weimarer Republik und Weimarer Reichsverfassung – 1918–1933
  • V. Begriffliche Aspekte der sozialen Grundrechte
  • 1. Begriff der sozialen Grundrechte
  • a. Vorbemerkungen über die Grundlagen und Umstände der begrifflichen Definition der sozialen Grundrechte
  • b. Definitionen und Entwicklung des Begriffes der sozialen Grundrechte
  • aa. Soziale Grundrechte als Leistungsansprüche
  • bb. Soziale Grundrechte als Teilhaberechte
  • cc. Fazit
  • c. Klassifizierung der sozialen Grundrechte
  • d. Rechtsnatur der sozialen Grundrechte und ihre Unterscheidung von den Freiheits- bzw. Abwehrrechten
  • VI. Schutz der sozialen Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland
  • 1. Einleitung
  • 2. Völkerrechtliche Quellen
  • a. Juristische Auswirkungen des Völkerrechts auf das Recht der Bundesrepublik Deutschland
  • b. Völkerrechtlicher Schutz der sozialen Menschenrechte
  • aa. Internationale (UN) Völkerrechtsentwicklung
  • bb. Europäische Völkerrechtsentwicklung
  • 3. Quellen des Rechts der Europäischen Union
  • a. Auswirkungen des Unionsrechts auf die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland
  • b. Unionsrechtlicher Schutz der sozialen Menschenrechte
  • 4. Das Grundgesetz und der verfassungsrechtliche Schutz der sozialen Grundrechte
  • a. Vorbemerkungen
  • aa. Entstehungsumstände des Grundgesetzes und Verzicht der Aufnahme sozialer Grundrechte
  • bb. Landesverfassungen zur Zeit des Erlasses des Grundgesetzes (1945)
  • cc. Landesverfassungen nach dem Erlass des Grundgesetzes
  • dd. Sonderfälle: die Verfassungen der DDR
  • ee. Verfassungsrechtliche Debatten in der Phase der Vereinigung beider deutschen Staaten
  • (1) Arbeit der gemeinsamen Verfassungskommission im Bereich der Staatsziele und der sozialen Grundrechte
  • (2) Schutz der sozialen Grundrechte in den neuen Landesverfassungen
  • b. Der deutsche Sozialstaat und das Sozialstaatsprinzip
  • aa. Entstehung des Sozialstaates im Grundgesetz
  • bb. Der Sozialstaat im Verfassungstext
  • cc. Definition des Sozialstaatsprinzips
  • dd. Rechtsbindung des Sozialstaatsprinzips
  • (1) Sozialstaat als Verfassungsprinzip
  • (2) Sozialstaatsprinzip als Staatszielbestimmung
  • ee. Sozialstaatsprinzip und subjektive Ansprüche
  • ff. Inhalt des Sozialstaatsprinzips
  • (1) Einleitung
  • (2) Weiter Umfang des sozialstaatlichen Inhalts
  • (3) Soziale Gerechtigkeit als Inhalt des Sozialstaatsprinzips
  • (4) Soziale Sicherheit als Inhalt des Sozialstaatsprinzips
  • gg. Verbindung des Sozialstaatsprinzips mit den anderen Strukturprinzipien des Grundgesetzes
  • (1) Der soziale Bundesstaat
  • (2) Soziale Demokratie
  • (3) Sozialer Rechtsstaat
  • hh. Sozialstaatsprinzip und Grundrechte
  • (1) Sozialstaatsprinzip als Beschränkung der Grundrechte
  • (2) Das Sozialstaatsprinzip als Erweiterung der grundrechtlichen Auswirkungen. Die Sozialbindungsthese
  • c. Soziale Grundrechte im Grundgesetz
  • aa. Art 6 GG: das Rechtsinstitut der Ehe und der Familie
  • (1) Der grundgesetzliche Begriff der Ehe und Familie
  • (2) Die Gewährleistungen der Ehe und der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG
  • (3) Mutterschutz
  • bb. Menschenwürde und Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
  • (1) Vorbemerkung: Garantie der Menschenwürde im Grundgesetz
  • (2) Die grundgesetzliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
  • (a) Die Entwicklung der Rechtsprechung
  • (b) Die Grundlage und der Gehalt des Grundrechtes auf ein menschliches Existenzminimum
  • (c) Rechtsbindung
  • cc. Allgemeiner Gleichheitsgrundsatz
  • (1) Grundgesetzlicher Begriff der Gleichheit
  • (2) Rechtsbindung des allgemeinen Gleichheitssatzes
  • (3) Ungleichbehandlung und Rechtfertigungsthesen: von der Sachgerechtigkeit bis zur „neuen Formel“
  • (a) Die Bestimmung einer wesentlichen Ungleichbehandlung
  • (b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung: die Entwicklung der Rechtsprechung und die verschiedenen Rechtsfertigungsthesen
  • (aa) Willkürverbot
  • (bb) Die Neue Formel
  • (cc) Abgestufte Kontrolldichte
  • dd. Spezielle Gleichheitsgrundsätze
  • (1) Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG)
  • (a) Vorbemerkung: Grundlage und historische Entwicklung der Geschlechtergleichberechtigung
  • (b) Begriffliche Aspekte: Geschlecht, Gleichberechtigung und Gleichstellung
  • (c) Schutzdimensionen der Gleichberechtigung von Männern und Frauen
  • (aa) Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG)
  • (bb) Gleichberechtigungsauftrag (Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG) und Wertentscheidung
  • (cc) Verfassungsauftrag auf Gleichstellung und Förderung
  • (2) Spezifische Diskriminierungsverbote (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG)
  • (a) Schutzdimensionen des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG
  • (b) Rechtsstruktur der besonderen Gleichheitsgrundsätze
  • (c) Rechtsfolgen der Diskriminierungsverbote
  • (3) Behindertenschutz (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG)
  • (a) Definition des Begriffes „Behinderung“
  • (b) Rechtsbindung des Benachteiligungsverbotes des Art. 3 Abs. 3. S. 2 GG
  • (aa) Abwehrrechtliche Dimension des Benachteiligungsverbots
  • (bb) Die positive, teilhaberechtliche Einwirkung des Benachteiligungsverbots
  • (cc) Die Ausstrahlungswirkung des Benachteiligungsverbots
  • (4) Verfassungsrechtlicher Auftrag zur Gleichstellung zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern (Art. 6 Abs. 5 GG)
  • (a) Inhalt und Rechtsbindung des Art. 6 Abs. 5 GG
  • (b) Entwicklung der in Art. 6 Abs. 5 GG geregelten Gleichstellung in der Rechtsprechung und im gesetzlichen Bereich
  • ee. Privatschulfreiheit und staatliche Pflicht zur Förderung des Ersatzschulwesens
  • (1) Schutzbereiche der Privatschulfreiheit
  • (2) Staatliche Pflicht zur Förderung des Ersatzschulwesens
  • ff. Freie Wahl der Ausbildungsstätte und Grundrecht auf Zugang zu vorhandenen Ausbildungskapazitäten
  • (1) Teilhaberechtliche Komponente des Art. 12 Abs. 1 GG – Recht auf Hochschulzugang
  • (2) Inhalt des Teilhaberechts auf freien Hochschulzugang
  • (3) Originäres Teilhaberecht auf Bereitstellung neuer Ausbildungsplätze?
  • (4) Beschränkungen des Teilhaberechts auf freie Wahl der Ausbildungsstätte
  • gg. Eigentumsgarantie
  • (1) Inhaltsbestimmung der Eigentumsgarantie: Spannungsfeld zwischen der abwehrrechtlichen und der sozialbindenden Dimension
  • (2) Einbeziehung der Rechtspositionen der Sozialversicherung im Rahmen der Eigentumsgarantie von Art. 14 GG
  • (a) Umbruch der Rechtsprechung: von der Ablehnung der Einbeziehung der sozialen Rechtspositionen
  • (b) Neuer Gehalt der Eigentumsgarantie: bedingter Schutz der sozialen Rechtspositionen
  • (c) Bestimmung des Umfangs der Eigentumsgarantie: Die vorgestellten Kriterien und die Debatte in der Rechtsprechung und in der Literatur
  • VII. Schutz der sozialen Grundrechte in der Republik Chile
  • 1. Einleitung
  • 2. Völkerrechtliche Quellen
  • a. Juristische Auswirkungen des Völkerrechts auf das Recht der Republik Chile
  • b. Völkerrechtlicher Schutz der sozialen Menschenrechte
  • aa. Internationale (UN) Völkerrechtsentwicklung
  • bb. Interamerikanische Völkerrechtsentwicklung
  • 3. Die chilenische Verfassung und der verfassungsrechtliche Schutz der sozialen Grundrechte in der Republik Chile
  • a. Die verfassungsrechtliche Geschichte und der Schutz der sozialen Grundrechte
  • b. Umstände der Entstehung der chilenischen Verfassung und die strittige Aufnahme der sozialen Grundrechte
  • c. Akademische Debatte über den rechtlichen Wert und die juristische Stellung der sozialen Grundrechte in der verfassungsrechtlichen Rechtsordnung
  • aa. Traditionelle Theorie: Soziale Grundrechte als verfassungsrechtliche Staatsziele ohne Einklagbarkeit
  • bb. Theorie des Verfassungsblocks von Grundrechten: soziale Grundrechte als „wahre“ und einklagbare Grundrechte
  • cc. Theorien der Entwicklungsauslegung der Verfassung
  • dd. Pragmatische Theorien: die sozialen Grundrechte als komplexe oder mehrwertige Grundrechte
  • d. Die Entwicklung der Rechtsprechung im Bereich des Schutzes der sozialen Grundrechte
  • aa. Rechtsprechung der ordentlichen Gerichtsbarkeit: Urteile des allerhöchsten Gerichtshofes
  • bb. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts
  • cc. Fazit
  • e. Die sozialen Grundrechte in der chilenischen Verfassung: Einzelfall-Prüfungen
  • aa. Das Recht auf Gesundheitsschutz (Art. 19 Nr. 9 ChV)1554
  • bb. Das Recht auf Bildung (Art. 19 Nr. 10 ChV)1581
  • cc. Die Lehrfreiheit (Art. 19 Nr. 11 ChV)1611
  • dd. Die Arbeitsfreiheit und ihr Schutz (Art. 19 Nr. 16 ChV)
  • ee. Das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 19 Nr. 18 ChV)1659
  • ff. Das Recht auf das Bilden und den Beitritt zu einer Gewerkschaft (Art. 19 Nr. 19 ChV)1678
  • gg. Fazit
  • VIII. Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte
  • 1. Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland
  • a. Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte auf innerstaatlicher Ebene
  • b. Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte auf völkerrechtlicher Ebene
  • c. Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte auf europarechtlicher Ebene
  • d. Fazit
  • 2. Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung der Republik Chile
  • a. Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte auf verfassungsrechtlicher Ebene
  • b. Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte auf völkerrechtlicher Ebene
  • c. Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte auf interamerikanischer Ebene
  • d. Fazit
  • IX. Schlusswort
  • Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Über soziale Grundrechte nachzudenken, bedeutet sich mit einem Thema zu beschäftigen, das seit jeher im Mittelpunkt grundrechtlicher Diskussionen steht. Wie kann man soziale Grundrechte präzise definieren? Ist es möglich, soziale Grundrechte einzuklagen? Welche juristischen Auswirkungen haben sie? Wie können die sozialen Menschenrechte, die in den verschiedenen Rechtsquellen des Völkerrechts, Europarechts und in interamerikanischen Rechtsquellen geregelt sind, durchgesetzt werden? Wie sind sie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der chilenischen Verfassung verankert? Es ist offensichtlich, dass in Bezug auf soziale Grundrechte viele Fragen noch klärungsbedürftig sind, insbesondere in Chile.

Diese Arbeit hat zum Ziel, zu den oben genannten Fragen Stellung zu nehmen und einen Rechtsvergleich zwischen den sozialen Grundrechten im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung der Republik Chile durchzuführen. Auf diese Weise werden die philosophischen, rechtstheoretischen, begrifflichen und geschichtlichen Aspekte dieser Rechte analysiert. Ferner wird die juristische Entwicklung der sozialen Menschenrechte in den völkerrechtlichen, europarechtlichen und interamerikanischen Rechtsquellen untersucht. Zudem wird die spezifische Eingliederung der sozialen Grundrechte in das Grundgesetz und in die chilenische Verfassung geprüft, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen beiden Rechtssystemen herauszuarbeiten. Zuletzt wird die Diskussion über die Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte diskutiert.

II. Philosophische Überlegungen

Die sozialen Grundrechte sind die Schlussfolgerung langer philosophischer Debatten unterschiedlicher Denktraditionen. Da sie sich – unter anderem – auf Angelegenheiten wie die Beziehungen zwischen einzelnen Privatpersonen und der Gesellschaft, die Rolle des Staates, der Begriff der (sozialen) Gerechtigkeit und die für alle Personen als Teil einer Gemeinschaft gewährleisteten Rechtsgüter beziehen, sind sie ein wichtiger Bestandteil der Studien über politische Philosophie und Ethik. Deswegen sind zunächst die wichtigsten philosophischen Grundlagen der sozialen Grundrechte zu überprüfen.

Eine ausführliche Erforschung dieses Themas würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deswegen werden nur die drei wichtigsten Denktraditionen erwähnt, d. h. der liberale Kontraktualismus, der Sozialismus und die philosophische christliche Tradition. Insoweit werden die repräsentativsten Autoren und ihre Theorien in Bezug auf die allgemeinen und sozialen Menschenrechte hin geprüft.

1. Die liberal-kontraktualistische Denktradition

Die liberal-kontraktualistische Theorien haben versucht, den Ursprung und die Legitimität der politischen Gesellschaft mit der rechtsnormativen Grundlage des „sozialen Vertrages“ zu rechtfertigen.1 Aufgrund des theoretischen Begriffes „Naturzustand“ oder „Urzustand“ beschreiben sie ein Zusammenleben, das sich im Einklang mit den menschlichen Freiheiten und den Naturrechten aller Menschen entwickelte. Da die Individuen unterschiedliche Interessen entwickelten und die Überzeugung reifte, dass eine politische Gesellschaft sicherer und gewinnreicher für alle sein würde, schlossen die Menschen einen Vertrag, um das friedliche Zusammenleben, die Macht der Autorität und die Rolle des Staates zu regeln.2 Damit entschieden sich die Personen für einen partiellen Verzicht auf ihre Naturrechte, um eine bessere Ausübung ihrer Freiheit im Bereich der zu schaffenden politischen Gemeinschaft zu erreichen. In diesem Sinne ist für den Kontraktualismus das Verteilungsprinzip als Grundbaustein des Rechtsstaates besonders wichtig, weil es den Vorrang der individuellen Freiheit gegenüber ←23 | 24→dem Staat und die staatliche Gewährleistung der grundsätzlich grenzenlosen Freiheitssphären der Vertragsbeteiligten impliziert.3 Diese philosophische Begründung wird mit den Menschenrechten der ersten Generation (d. h. den sog. Abwehrrechten oder negativen Rechten gegenüber dem Staat) in Verbindung gebracht.4

a. Begründung der Menschenrechte

aa. Thomas Hobbes

Die kontraktualistische Theorie von Thomas Hobbes nimmt als Ausgangspunkt einen vorstaatlichen Naturzustand an, in dem alle Individuen dieselben Fähigkeiten haben und ähnliche Ziele verfolgen, was sie aber unvermeidbar in einen Widerspruch zueinander bringt.5 Demnach bildet sich ein „Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes), der aufgrund des „Naturrechts auf alles“ einen unerträglichen Unsicherheitszustand verursacht.6 In der Praxis ist dieses absolute Naturrecht nur zu verteidigen, wenn der Rechtsträger über ausreichende Kräfte verfügt, um die Angriffe der anderen Individuen abzuwehren.7

Unter diesen Umständen würden sich die Menschen nach Hobbes für die Opferung ihrer Freiheiten und eine Delegierung an den Staat (sog. Leviathan) entscheiden, damit der Staat im Austausch die individuelle Sicherheit gewährleistet.8 In diesem Sinne schließen sie einen Vertrag und übertragen ihre Naturrechte an einen Souverän, der über die Macht verfügt, für die Bewahrung des friedlichen Zusammenlebens zu sorgen.9

In Bezug auf die Menschenrechte ist Hobbes der Ansicht, dass der so entstehende Staat im Bereich seiner Rolle als Bewahrer der Sicherheit die Naturrechte der sozialen Vertragsbeteiligten garantieren muss. Die Bedeutung solcher Rechte – so wörtlich Hobbes – „ist die Freiheit, die jeder Mensch hat, seine eigene Macht nach seiner Vorstellung zur Erhaltung seiner eigenen Natur, d. h., seines eigenes Leben einzusetzen (…)“.10 So ist der Verzicht auf diese unbegrenzte Freiheit die erforderliche Bedingung für das Überleben und die Beendigung des ←24 | 25→Kriegszustands. Und um dieses Ziel zu erreichen, hat der Souverän die Verpflichtung für die Sicherheit des Volkes zu sorgen, wobei „hier nicht eine bloße Bewahrung gemeint (ist), sondern gemeint sind auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßigen Fleiß erwerben soll (…)“.11

Aufgrund dieser letzten Behauptung könnte man spekulieren, dass Hobbes einen menschenrechtlichen Begriff meinte, der über die rein negativen, vom Kontraktualismus resultierenden Abwehrrechte hinausgeht. Einige Verfasser vertreten die Ansicht, dass sich seine Theorie mit den Freiheitsrechten in Einklang bringen lässt.12 Andere sind hingegen der Meinung, dass seine Ideen mit den Grundlagen der Menschenrechte unvereinbar seien und dass aus diesem Grund Immanuel Kant Grenzen für die staatliche Macht festgelegt habe.13

bb. Immanuel Kant

Bei der Betrachtung der Überlegungen von Immanuel Kant stechen zwei wesentliche Elemente hervor: Zunächst muss man die Trennung zwischen dem sittlichen Rechtsnorminhalt, der mit dem Privatleben, den Tugenden und der Ethik zu tun hat, und dem äußeren Gebrauch der Freiheit, der sich wirklich auf das gemeinsame Leben und das Recht bezieht, betonen.14 Des Weiteren muss man die Differenzierung zwischen dem empirischen Gehalt – Gegenstand der theoretischen Vernunft – und dem normativen Inhalt – Gegenstand der praktischen Vernunft und der Sittlichkeit – erwähnen. Diese letzte praktisch-rationale Dimension befasst sich mit den sogenannten kategorischen oder „moralischen Imperativen“.15

Für Kant ist der Naturzustand nicht ein ständiger Kriegszustand (wie bei Hobbes), sondern ein Zeitraum des Zusammenlebens von freien Individuen. Allerdings können trotzdem Konflikte auftreten, soweit verschiedene Menschen mit derselben Autonomie am selben Ort zusammenleben, und zwar auch dann, wenn sie nicht ihre eigenen Interessen verfolgen und sich brüderlich und gütig benehmen.16 So kommt dem sozialen Vertrag nicht die Aufgabe zu, einer unerträglichen Situation entgegenzuwirken, sondern er stellt viel mehr eine ←25 | 26→normative Bewegung der praktischen Vernunft dar, um die sozialen Beziehungen der Menschen zu ordnen. Dieser Pakt ist dann nur eine abstrakte, normative Idee, die mit dem empirischen Gegenstand der theoretischen Vernunft nichts zu tun hat. Also beinhaltet dieser Vertrag keine vereinbarten Gerechtigkeitskriterien (wie etwa bei Rawls17), weil er selbst das Gerechtigkeits- und Legitimitätskriterium des aus ihm hervorgehenden positiven Rechts darstellt. Für Kant bedeutet die Vertragstheorie keine Unterwerfung oder Einsetzung eines souveränen Machthabers, sondern die Aufstellung einer Grundnorm, die alle anderen Normen ausrichtet, die staatliche Gewalt regelt und das Zusammenleben der Gemeinschaft im Einklang mit der Freiheit der „neuen Rechtssubjekte“ ordnet.18

Die oben erwähnten Ideen beziehen sich auch auf den Begriff der Autonomie von Kant, der einer kurzen Erklärung bedarf. Wie bereits erwähnt, sind die normativen Aspekte (und nicht die empirischen) Gegenstand der praktischen Vernunft, die natürlich auch eine ethische Dimension haben. Aber nach Kant wird die praktische Vernunft durch Imperative in die moralische Ebene überführt, was ein besonderes Konzept Kants darstellt. In diesem Sinne ist die Autonomie des Willens „die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, dass die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.“19 Die Autonomie des Willens ist das oberste Prinzip der Sittlichkeit, des kategorischen Imperativs und die Grundlage des Rechts der Menschen. „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen (…) Natur“.20 Aufgrund dieser Überlegungen könnte man schließen, dass der soziale Vertrag eine Ordnung feststellen soll, der diese Autonomie gewährleistet und der Staat diese zu beachten verpflichtet ist.21 Dadurch verknüpft man diese Theorie mit den Fundamenten des Verfassungsstaates.22

Im Bereich der Menschenrechte behauptete man, dass der von Kant dargelegte Begriff der Menschenwürde die Grundlage solcher Rechte sei.23 Jedoch wendete man dagegen ein, dass die Begründung der sozialen Grundrechte mit der von Kant ausgeführten Theorie unmöglich wäre, soweit er davon ausgeht, ←26 | 27→dass die positive Pflicht zur Hilfeleistung (und so die Idee der Menschenwürde) ausschließlich der Sphäre der Moral und nicht der des Rechts zugeordnet werden könne.24

cc. John Rawls

Der Kontraktualismus des nordamerikanischen Philosophen John Rawls weicht von den klassischen Theorien ab. Nach Rawls „darf man sich den ursprünglichen Vertrag nicht so vorstellen, als ob er in eine bestimmte Gesellschaft eingeführt wurde (…). Der Leitgedanke ist vielmehr, dass sich die ursprüngliche Übereinkunft auf die Gerechtigkeitsgrundsätze für die gesellschaftliche Struktur bezieht. Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse (…) annehmen würden.25 Nach dieser Theorie besteht ein Urzustand, der als eine theoretische Situation aufgefasst wird, in der es keine Kriege oder Konflikte aufgrund von Egoismen gibt, sondern in der verschiedene Individuen aufgrund ihrer eigenen Interessen ohne Interaktion miteinander zusammenleben.26 Hierbei entscheiden sich die Menschen für die Gründung einer politischen Gesellschaft, weil sie davon ausgehen, dass ein solcher Zustand besser für die Zusammenarbeit und den wechselseitigen Wohlstand sein dürfte. Um dieses Ziel zu erreichen – so diese Theorie – werden einige Vertreter (bzw. Vertragsbeteiligte) von den Menschen nominiert, die über die künftige Gesellschaftsordnung entscheiden; das Ergebnis wird dann in einem Sozialvertrag fixiert. Diese Vertreter müssen hinter einem Schleier des Nichtwissens (d. h. Unwissenheit über den Zustand der von ihnen entschiedenen Ordnung) handeln, damit ihre Entscheidung nicht eigene Interessen bevorzugt, sondern die Grundsätze der Gerechtigkeit und der fairen Verhandlung.27

In Bezug auf die oben erwähnte Vereinbarung sagt Rawls, dass die Vertragsbeteiligten sich über mindestens zwei Themen einigen müssen: die gleiche Anwendbarkeit der Grundrechte und Grundpflichten für alle und die Art und Weise, in der alle von den gemeinsamen Ungleichheiten profitieren.28 In diesem Sinne stellt der Verfasser zwei Gerechtigkeitsprinzipien auf: ein Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten, das mit dem gleichen System ←27 | 28→für alle anderen im Einklang ist, und eine Gestaltung der sozialen Ungleichheiten, die für alle Vorteile verteilt.29

Diese zwei Prinzipien lassen sich mit Rawls Überlegungen über die Menschenrechte verknüpfen. Für ihn müssen solche Rechte die moralischen Fähigkeiten aller Individuen gewährleisten30, d. h. die Fähigkeit der Verfolgung ihrer Gerechtigkeitskonzeption31 – in Beziehung zum ersten Gerechtigkeitsprinzip, das mit den Freiheiten in Betracht kommt32 – und die Fähigkeit der Teilnahme als vernünftige Einzelwesen33– in Zusammenhang mit dem zweiten Gerechtigkeitsprinzip, das mit den politischen und sozialen Rechten verbunden ist.34 Ursprünglich ging Rawls davon aus, dass die Freiheiten des ersten Prinzips Vorrang vor dem zweiten Prinzip der sozialen Ungleichheiten hätten.35 Aber später erwog er die Befriedigung der essentiellen Bedürfnisse durch ein Existenzminimum als wesentlichen Verfassungsinhalt (constituional essentials).36

b. Begründung der sozialen Grundrechte

Ausgehend von der liberal-kontraktualistischen Denktradition haben sich zwei Auffassungen zur spezifischen Begründung der sozialen Menschenrechte entwickelt. Bernal unterscheidet deutlich zwischen einer „künstlichen Konzeption“, die funktional für die Freiheitsrechte ist, und einer selbständigen und unabhängigen Erklärung, die sich von den individuellen Freiheiten abgrenzt.37

aa. Soziale Grundrechte als erforderliche Ausübungsbedingung der Freiheit

Details

Seiten
304
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631794548
ISBN (ePUB)
9783631794555
ISBN (MOBI)
9783631794562
ISBN (Hardcover)
9783631788943
DOI
10.3726/b15845
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Soziale Grundrechte Grundgesetz Einklagbarkeit Chilenische Verfassung Sozialstaatsprinzip
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019., 304 S.

Biographische Angaben

Diego Schalper (Autor:in)

Diego Schalper ist Rechtsanwalt und Dr. iur. der Philipps-Universität Marburg und hauptsächlich auf das Verfassungsrecht und das Studium sozialer Rechte spezialisiert. Er war Vertreter Chiles im Jugendhub des Weltwirtschaftsforums. Heute ist er Abgeordneter des Nationalkongresses von Chile.

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